Die Universität veranstaltete am 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, den 27. Januar, einen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Die hundert Stühle waren komplett gefüllt, während die Besucher dem Vortrag zum Thema „Die Opfer der Wehrmachtsjustiz“ lauschten.
„Drei Schüsse habe ich im Zweiten Weltkrieg abgegeben und alle auf dem Schießplatz. Das soll mir mal einer nachmachen!“ erzählte mir mein Opa vor kurzem stolz. Er hat es stets abgelehnt zu kämpfen und wollte dem Krieg entkommen. Dies gelang ihm dank einer Riesenportion Glück. Hätte er damals seine Einstellung dem Falschen mitgeteilt, dann wäre er vielleicht von einem Wehrmachtsgericht wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt worden und ich würde diesen Text nicht schreiben.
Die Abendveranstaltung am 27. Januar ging nicht um meinen Opa, aber um Menschen, die derselben Bedrohung ausgesetzt waren und nicht so viel Glück hatten. Sie wurde eingeleitet durch die Begrüßungsreden des Dekans der Philosophischen Fakultät, Professor Thomas Stamm-Kuhlmann und des zweiten stellvertretenden Oberbürgermeisters Ulf Dembski. Die Moderation übernahm Professor Joachim Lege von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät und die musikalische Begleitung erfolgte durch das Stephani-Quartett, das Stücke von Mozart und Haydn vortrug.
Stamm-Kuhlmann: Gedenken nicht nur auf Auschwitz beschränken
Professor Stamm-Kuhlmann kritisierte in seiner Rede, dass sich die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus oft auf Auschwitz, als dem Ort des internationalen Gedenkens, beschränkt. Als Beispiel nannte er die kaum beachteten Opfer der Besetzung Griechenlands. Deshalb sei es gut, dass die Vorträge ein noch eher unbeleuchtetes Thema ansprechen. Dembski mahnte, dass es wichtig sei, nicht nur den Opfern der Vergangenheit zu gedenken, sondern dass man sich auch Gedanken um die Ursachen der Situation damals machen. Er wies darauf hin, dass wir uns auch heute in einer schlimmen Lage befinden und das Faschismus immer noch eine Rolle spielt. Auch Dembski findet das Thema des Abends gut gewählt, da die Verbrechen der Wehrmacht lange Zeit unbeachtet geblieben sind. Da Greifswald sich im Zweiten Weltkrieg kampflos ergeben hat, machte es sich vor der Militärjustiz ebenfalls strafbar und wenn die Geschichte einen anderen Verlauf genommen hätte, dann wäre die Kapitulation nicht ohne Folgen geblieben. Deshalb, meint Dembski, passt das Thema gut hierher.
„… nur durch die Todesstrafe gerecht gesühnt…“ war der Titel des ersten Vortrags von Dr. Claudia Bade. Sie erzählte, dass die Wehrmachtsgerichte 1 Millionen Urteile, darunter 30.000 Todesurteile, aussprachen. 20.000 Todesurteile wurden vollstreckt. Das waren mehr Menschen als die, die von zivilen Gerichten im NS-Staat hingerichtet wurden. Es wurden so viele Menschen hingerichtet, weil die NS-Ideologie in die Wehrmachtsjustiz integriert worden war. Es gab neue Vergehen wie die „Wehrkraftzersetzung“, die die bloße Äußerung von Unmut mit einer Todesstrafe belegten. Die Gesetze waren bewusst uneindeutig formuliert, damit die Richter mehr Handlungsspielraum hatten. Die Militärgerichtsherren bekamen eine stärkere Stellung und konnten Richter und Vorgesetzte einberufen sowie das Strafmaß selber wählen.
Die Opfer wurden oft nicht nach ihren Taten verurteilt, sondern weil das Bild, dass der Richter von dem Angeklagten hatte, negativ war. Bade erklärte die Rechtsprechung an mehreren Urteilen. In Frankreich wurde beispielsweise ein Angeklagter zum Tod verurteilt, nicht wegen der eigentlichen Anklage (Diebstahl), sondern weil er nach der Meinung des Richters eine „asoziale Grundhaltung“ besäße.
Schlechte Haftbedingungen im Wehrmachtsgefängnis Anklam
Dr. Andreas Wagner erzählte im zweiten Vortrag von dem Wehrmachtgefängnis in Anklam, in dem auch viele Hinrichtungen durchgeführt worden waren. Die Gesamtzahl der Häftlinge konnte noch nicht ermittelt werden, aber es werden mehrere tausend gewesen sein. Das Gefängnis war völlig überfüllt. Zeitweise waren mehr als 1.500 Häftlinge gleichzeitig inhaftiert. Das verschlechterte die Haftbedingungen zusätzlich. Die Gefangenen wurden mit Zwangsarbeit geschleift und in den Zellen herrschten unzumutbare hygienische Zustände. Gegen das Wachpersonal wurde nach dem Krieg nie ermittelt. Wagner endete mit den Worten: „Anklam erzählt von den Auswirkungen einer Diktatur auf die Militärjustiz.“
Nach dem Stück von Josef Haydn, Largo e cantabile aus dem Streichquartett G-Dur Opus 33 Nr.5, verließ das Publikum den Saal. Einigen Besuchern erschien die Auswahl des Themas und der Musik unpassend. Es wäre besser gewesen, jüdische Musik zu spielen und ein Thema zu wählen, was mehr mit den Opfern in den Konzentrationslagern zu tun hat. Bei der Musikauswahl muss ich zustimmen, aber das Thema war gut gewählt. Die Wehrmacht ist meiner Wahrnehmung nach immer noch für viele ein Sympathieträger. In Filmen, Computerspielen und unterschwellig bei Franzosenwitzen kommt zum Ausdruck, dass man beispielsweise militärische Erfolge der Wehrmacht oder die Technik bewundert. Dass die Angehörigen auch massive Kriegsverbrechen begangen haben und stark durch die NS-Ideologie beeinflusst gewesen sind, wird dabei vergessen. Die „Legende der sauberen Wehrmacht“ steckt eben noch immer in vielen Köpfen. Da ist es kein Wunder, dass die Deserteure der Wehrmacht erst 2002 vollständig rehabilitiert wurden, nachdem sie auch noch lange nach dem Krieg als „Volksschädlinge“ und „Verräter“ galten.
Foto: Vincent Roth