Lasst mich euch mitnehmen in eine Welt von elitären College-Student*innen, exzentrischen Professor*innen und exklusiven Gruppierungen. In der Welt des Hampden College in Vermont scheint dies zur Normalität zu gehören – bis ein Student tot aufgefunden wird. Die Welt steht still. Die Außenseiter rücken ins Rampenlicht. Und Ordnung zerfällt ins Chaos. 

„The Secret History“ (dt. Titel „Die geheime Geschichte“) ist der Debütroman der amerikanischen Autorin Donna Tartt. Sie begann das Buch zu schreiben, während sie noch Kreatives Schreiben an einem kleinen, exklusiven College – welches später auch als Vorlage für „The Secret History“ diente – studierte. Es brauchte etwa zehn Jahre bis zur Fertigstellung des Romans. Ein Muster, welches sich auch bei ihren beiden nachfolgenden Romanen „The Little Friend“ (2002) und  „The Goldfinch“ (2013) wiederholte. 
Im Jahr 1992 wurde der Roman dann schlussendlich veröffentlicht und statt der üblichen Anzahl von 10.000 Ausgaben in der Erstausgabe wurden 75.000 gedruckt. Bereits vor Veröffentlichung galt das Buch in den Medien als Topseller. Mittlerweile wurde es in 24 Sprachen übersetzt und über 5 Millionen Mal verkauft. Vor allem in den letzten Jahren gewann es durch die steigende Popularität des Subgenres Dark Academia wieder eine hohe Aufmerksamkeit.

Die düstere Welt des Hampden College

Die Ereignisse im Roman werden von Richard Papen geschildert, einem der Hauptcharaktere der Geschichte. Er kommt nach Vermont um Altgriechisch zu studieren und um seine Vergangenheit und Familie in Kalifornien zurückzulassen. Doch in Vermont angekommen sieht er sich mit der Tatsache konfrontiert, dass es schier unmöglich scheint, in den Kurs für Altgriechisch zu kommen. Das liegt jedoch nicht daran, dass dieser überlaufen ist. Nur eine Gruppe von fünf Leuten studiert unter den exzentrischen Professor Julian Morrow und dieser hat die Entscheidungsmacht, wen er unter seine Fittiche nehmen will. Schlussendlich entscheidet er sich dann aber doch dazu Richard aufzunehmen. 
Und so lernt er eine Gruppe von scheinbar extravaganten und höchst merkwürdigen Studierenden kennen: Henry, Bunny, Francis und die Zwillinge Camilla und Charles. Er freundet sich mit ihnen an, doch schon bald machen sich Spannungen bemerkbar und ihm wird bewusst, dass er längst nicht alles über seine neuen Freunde weiß. 
Nach ereignisreichen Ferien wird das angespannte Verhältnis zwischen Bunny und Henry, dem charismatischen Anführer der Gruppe, immer deutlicher. Das ganze Geschehen gipfelt darin, dass die Gruppe Bunny schlussendlich umbringt. 

Up until the very end there was always, always, Sunday-night dinner at Charles and Camilla’s, except on the evening of the murder itself, when no one felt like eating and it was postponed until Monday.

The Secret History, S. 93

Präzision und Tiefe

Das Besondere an dem Roman ist, dass man von Beginn an weiß, dass der Mord geschehen ist, denn Richard erzählt davon schon in der Einleitung. Im Verlaufe des Buches werden dann durch Richard rückblickend alle Ursachen die zu diesem Punkt geführt haben aufgeschlüsselt und alles was nach dem Mord geschehen ist erzählt. 
Man merkt dem Roman definitiv an, wie viel Arbeit und Zeit darin steckt. Es ist wohl eines der detailreichsten Bücher, das ich je gelesen habe. Teilweise hat man das Gefühl, dass Tartt während ihres Schreibprozesses über jedes Wort intensiv nachgedacht hat und über dessen Wirkung auf das Ganze. Es ist ein Kunstwerk der Literatur und die Buchstaben sind präzise Pinselstriche. Akkurat gesetzt, mit viel Bedeutung und anspruchsvoll. 

„The Secret History“ steht und fällt mit den Figuren. Der Roman besticht mit starker Charaktertiefe. Sie sind merkwürdig, exzentrisch, extravagant und rätselhaft. Man kann sie nicht als liebenswert beschreiben, dafür sind sie zu abtrünnig. Sie sind faszinierend und elitär. Man möchte dazugehören und gleichzeitig Abstand von ihnen halten. 
Die Gruppe zeigt beinahe sektenähnliche Verhaltensweisen auf. Es ist keine gesunde Freundschaft zwischen ihnen – ich persönlich würde es nicht einmal Freundschaft nennen, sondern es besteht eine Art Abhängigkeit zwischen den einzelnen Charakteren, vor allem nach dem Mord. Außenstehende werden mit Skepsis betrachtet. In die Gruppe einzutreten ist beinahe unmöglich. Innerhalb der Gruppe muss man sich gut in das Bild einfügen. So hat Richard das Bedürfnis, so zu tun, als wäre er reich und verheimlicht, dass er arbeiten gehen muss. Bunny wird von allen aufgrund seiner geringeren Intelligenz eher abschätzig betrachtet. 

Kultisch oder elitär?

Auslöser der elitären Gruppendynamik ist zweifelsfrei Julian Morrow, ihr Professor. Er verfolgt eine Art Ideologie, bei der es nur einen sehr guten Lehrenden bedarf, und keiner Vielfalt. Die Sechs folgen Julians Worten, was er sagt gilt. Man buhlt um seine Anerkennung, möchte an Julians Leben teilhaben. In einem Absatz reflektiert Richard Julians Verhaltensweisen nachträglich (meine liebste Stelle im Buch – S. 575–578). Dabei sagt er, dass Julian eine Begabung dafür hätte, das Gefühl der Minderwertigkeit bei jungen Menschen in Überlegenheit zu verwandeln. Außerdem wird erwähnt, dass er sich nur auf bestimmte Aspekte konzentriert und diesen mehr Bedeutung verleiht als sie verdienen, und dafür andere wichtige Dinge völlig auslässt. 

„I believe that having a great diversity of teachers is harmful and confusing for a young mind, in the same way I believe that it is better to know one book intimately than a hundred superficially,“ he said. (Julian)

The Secret History, S.32

Vor allem Henry folgt beinahe obsessiv dem Gedanken, Julian zu gefallen und bricht vollends zusammen, als Julian ihn im späteren Verlauf des Buches fallen lässt. Es wird deutlich, dass Julian es geschafft hat ihn vollends von der aktuellen Zeitgeschichte zu lösen, als er völlig schockiert über die Mondlandung ist. 

Once over dinner, Henry was quite startled to learn from me that men had walked in the moon. „No,“ he said, putting down his fork.
[…]
„I don’t believe it.“

The Secret History, S. 93

Neben Julian ist Henry wohl der interessanteste Charakter. Zu Beginn möchte man als Leser*in am liebsten die Aufmerksamkeit von Henry erhalten. Er ist der perfekte Charakter. Immer ordentlich gekleidet, intelligent und strahlt eine Art Autorität aus, die aber nicht abschreckend ist. Seine Freunde folgen ihm. Es ist klar auszumachen, dass er eine Stufe über ihnen steht.
Während des Buches zerfällt dieser perfekte Schein immer mehr. Es kommt immer und immer mehr die verrückte Seite Henrys zum Vorschein. Er beginnt nicht nur seinen Freunden Angst zu machen, sondern auch man selbst bekommt beim Lesen Angst vor ihm und entwickelt eine Abneigung. Seine Ansichten sind wirr. Er wirkt völlig ignorant zu allem, was um ihn herum geschieht. 

„It’s a terrible thing, what we did,“ said Francis abruptly. „I mean, this was not Voltaire we killed. But still. It’s a shame. I feel bad about it.“
„Well, of course I do too,“ said Henry matter-of-factly. „But not bad enough to want to go to jail for it.“

The Secret History, S. 220

„It was an unfortunate incident and I am sorry that it happened, but frankly I do not see how well either the taxpayers‘ interests or my own would be served by me spending sixty or seventy years in a Vermont jail.“ (Henry)

The Secret History, S.194

Im späteren Verlauf wird dieser Zerfall seines Charakters dann auch visuell verdeutlicht, als er sich selbst mit Dreck beschmiert. Auch die anderen Charaktere zerbrechen an den Geschehnissen, doch ist es hier nicht so erschreckend wie bei Henry, da sie auch vorher schon Fehler aufwiesen und diese auch sichtbar waren. 

Then, with terrible composure, he stepped back and absently dragged the hand across his chest, smearing mud upon his lapel, his tie, the starched immaculate white of his shirt. […] He seems not to realize he had done anything out of the ordinary.

The Secret History, S. 474

Lügen oder Realität?

Der Roman fokussiert auf die Dynamiken innerhalb dieser Freundesgruppe. Die Folgen eines Mordes werden Wort für Wort herausgearbeitet und dargestellt. Man erlebt beim Lesen den Eintritt einer Person in eine beinahe diktatorische, elitäre Gruppe und welche Auswirkungen diese haben kann. Richard wird vom unsichtbaren Außenseiter Teil einer exzentrischen Gruppe und findet sich am Ende als Mörder wieder. Während des Lesens fragt man sich, war das Böse immer schon da? Wurde es freigesetzt? Was wäre passiert, wenn alles anders gelaufen wäre? Wäre Bunny trotzdem gestorben? Und schlussendlich: Ist das alles überhaupt passiert? 
Denn Richard ist ein unzuverlässiger Erzähler. Er erzählt aus seiner Perspektive, was er wahrgenommen hat. Gleichzeitig erzählt er zu Beginn auch, dass er ein hervorragender Lügner ist. Und er lügt immer. Er belügt seine Freunde über seine Herkunft, seinen finanziellen Status und teilweise sogar über seinen Verbleib. Am Ende muss man sich also fragen, ob das alles wirklich so passiert ist? 

If there is one thing I’m good at, it’s lying on my feet. It’s sort of a gift I have.

The Secret History, S. 26

Ein Kunstwerk aus Buchstaben

„The Secret History“ ist definitiv eines der besten Bücher, wenn nicht sogar das beste Buch, was ich bisher gelesen habe. Es ist packend, zieht einen in seinen Bann und lässt einen mit offenen Fragen zurück. Es sind die Details, die besonders herausstechen. Selbst die noch so kleinsten Handlungen haben große Bedeutung, die man entschlüsseln will. Und vor allem sind es die Charaktere, die man am liebsten analysieren möchte und ihre Psyche ergründen will. Was hat zu alldem geführt? 
Es ist ein Meisterwerk der Literatur. Wer dieses Buch liest, erkennt, das das Schreiben eine Kunstform ist. Für mich ist es bereits ein Klassiker und Donna Tartt steht auf einer Stufe mit den großen Autor*innen vergangener Epochen.

Beitragsbild: Vanessa Finsel


Zur Person der Autorin