Ich halte meine Kaffeetasse eng umklammert und blicke hinaus, ohne den Himmel zu sehen. Starre ins Leere. Aus dem kleinen Eckfenster in unserer Küche sieht man normalerweise die kurzen Schornsteine der umliegenden Dächer. Aufsteigenden Rauch, der sich an der Kante erster Sonnenstrahlen bricht. Ich glaube, er ist auch heute da. Nur wahrnehmen kann ich ihn nicht. Ich habe Angst.

MAN HÄNGT ALLEIN AN DER WAND

In fünf Minuten sollte ich die Federtasche in den Rucksack stecken, die Riemen über die Schulter schwingen und die Tür hinter mir zuziehen. Dann käme ich genau eine halbe Stunde vor den typischen Worten unserer Professorin: „Legen Sie bitte Ihren Studierendenausweis heraus. Auf Ihren Tischen sollte nicht mehr liegen, als ein Taschenrechner und ein Stift. Den Rest haben Sie im Kopf“. Es ist schon mein zweiter Versuch dieser Prüfung. Die „Rausschmeißerklausur“ unseres Studiums. Meine Freund*innen hatten mich alle sehr erstaunt angeblickt: „Du bist durchgefallen?“ „Ja. Sie war schwer und ich saß dort ganz allein in meinem Zeitdruck, meinem Ich-weiß-wo-es-steht und Ist-das-der-richtige-Ansatz. Das hat nicht gereicht. Ich schreib sie im Februar nochmal“. Heute ist dieser Februartag.

JEDER HAT SEINE ART ZU KLETTERN

Gestern Abend noch war ich so nervös, dass Friedi mir die Lernzettel aus der Hand riss und mich zwang, mit ihr in die Boulderhalle zu fahren.

Im hintersten Winkel des Gewerbegebiets haben Studierende ein paar Wände zusammengezimmert. Bunte Steine markieren die Routen, Zettel unter dem ersten und letzten, den Schwierigkeitsgrad. Im Winter kann es dort sehr kalt werden. Wir haben nur einen kleinen gasbetriebenen Heizer.

Vor dem stand ich gestern die ersten 10 Minuten, hielt meine tauben Hände gegen das Gitter und beobachtete die Menschen an der Wand. Obwohl alle dieselben Routen kletterten, taten das alle auf ihre Weise. Die kleinen Stämmigen hangelten sich nur an den Armen aus dem Überhang heraus. Große Lange konnten auf einer Seite stehen und auf der anderen nach einem Stein greifen. Und dann gab es noch diese, die sich nur mit ihrem Gleichgewichtssinn freihändig an den Wänden entlang schoben, langsam und vorsichtig.

MAN BRAUCHT VIEL KONZENTRATION

Bouldern verlangt ein inneres Ruhen, vollste Konzentration auf den Stein vor einem, kein Nachdenken über die gesamte Route. Und während ich dort vor dem kleinen Heizer langsam wieder meine Finger spürte, kam mir der Gedanke, dass die Klausur morgen vielleicht ganz ähnlich wäre.

Mit pochendem Herzen trat ich an die Wand und griff nach dem ersten Stein der gelben Route. Hing mich mit beiden Armen in der Hocke an die Wand, fasste nach rechts, hookte den Stein links und drückte mich hoch. Verlor kurz mein Gleichgewicht.

EIN STEIN NACH DEM ANDEREN

Ich musste durchatmen, langsamer klettern und nur den Stein vor mir sehen. Ein Handgriff nach dem nächsten. Die Route führte aus dem Übergang heraus über die Kante. „Glaub an dich“, rief eine Stimme von hinten. Um die Kante. Ich kämpfte. Zog. Drückte. „Los!“ Ich würde das schaffen! Der Gedanke zog mich auf den nächsten Stein. Ich konnte kurz durchatmen. „Siehst du.“ Ich drehte mich um, grinste den Fremden hinter mir an. Dann griff ich nach dem nächsten Stein. Taumelte, bekam ihn aber noch mit den Fingerspitzen zu fassen. Hing kurzzeitig nur an den Armen und fiel im nächsten Moment auf die Matte am Boden.

MAN LERNT IMMER NEUE TECHNIK

Der Boulderer neben mir lachte „Nicht schlimm. Nochmal oder die nächste Route.“ Ich grinste über die Leichtigkeit in seinen Worten. „Technik lernst du immer dazu.“ Ich nickte. Hatte ich doch gerade schon wieder einen neuen Handgriff gelernt, das Hooken geübt, und mich dynamisch hochgezogen. „Den Hook brauchst du auf jeden Fall auch für die Blaue dahinten.“ Er klopfte mir auf die Schulter und wendete sich ab.

WENN MAN NICHT AN SICH GLAUBT, BRAUCHT MAN DIE ROUTE GAR NICHT ANZUFANGEN

Ich blicke auf die Uhr. Die fünf Minuten sind vorbei. Habe ich mich doch wirklich so sehr in der Erinnerung an gestern Abend verloren, dass ich die Zeit vergessen habe. Ich will gerade losstürmen, zu einer Klausur kommt man nicht zu spät, als ich nochmal innehalte. Tief ein- und ausatme, wie ich es auch vor der gelben Route gestern Abend getan hatte. Ich werde einfach eine Aufgabe nach der anderen beantworten. Falls es nicht reicht, macht das nichts. Dann schreib ich sie nochmal oder mache etwas anderes.

Und fast am allerwichtigsten: Ich werde an mich glauben. Wenn man nicht an sich glaubt, braucht man eine Boulderroute gar nicht anzufangen. Das ist bei der Klausur nicht anders. Mit einem letzten Blick aus dem Küchenfenster ziehe ich die Tür hinter mir zu. Aus den Schornsteinen bricht sich der Rauch an der Kante erster Sonnenstrahlen.

Beitragsbild: Swantje Furtak