Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Nicht nur Philosophiestudenten sollten diese vier Fragen etwas sagen. Bereits vor Jahrhunderten beschäftigte sich Immanuel Kant damit, Antworten darauf zu finden. Trotzdem ist die Bedeutung von moralisch gutem Handeln heute nach wie vor aktuell, ob im Privaten oder der Politik. Professor Markus Rothhaar von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt war zu Gast im Alfried-Krupp-Kolleg.
Der kleine Raum ist gut gefüllt, etwa 30 Zuhörer sitzen auf den Stühlen vorm Rednerpult. Studenten, Professoren, Doktoren – Gäste jeden Alters, die sich für philosophische Probleme interessieren. Ganz vorn bereitet sich der Vertreter der Stiftungsprofessur für Bioethik der KU Eichstätt auf seinen Vortrag zum Thema „Ethische Mindeststandards in der Politik“ vor. Er möchte der Frage nachgehen, ob es eine „Ethik des kleinsten gemeinsamen Nenners“ gibt. Noch einmal schnell die Unterlagen geordnet, übers Jackett gestrichen und los geht es.
Was sind ethische Mindeststandards…
Philosophische Diskussionen, zumal an der Universität, unterliegen häufig dem Vorurteil, sie wären für Laien kaum nachzuvollziehen. Doch Professor Rothhaar erklärt anschaulich, spricht langsam und deutlich. Was sind überhaupt diese „ethischen Mindeststandards“? Man kann sie sich als Regel vorstellen, die von jedem Menschen in einer bestimmten Situation befolgt werden sollte, möchte er moralisch richtig handeln. „Gleichzeitig“, betont Rothhaar, „heißt das aber auch: es geht immer noch „richtiger“, da wir von Mindeststandards sprechen.“
Deutschland hat – nicht nur als Mitgliedstaat der EU – bestimmte Pflichten. Zum einen die positiven, auch genannt Hilfspflichten, wie zum Beispiel, den Welthunger zu bekämpfen; zum anderen die negativen, also zu unterlassenden, wie das Töten von Personen. Doch wie soll man für Handlungen, die schlecht sind, überhaupt Mindeststandards festlegen? Das hieße schließlich, Morden zwar mit erhobenem Zeigefinger zu verbieten, gleichzeitig jedoch zwinkernd zu sagen: Naja. Auf ein oder zwei kommt es ja nicht an. Aber mach’s nicht wieder!
… und wie wendet man sie praktisch an?
Ähnlich verhält es sich laut Rothhaar mit der 1997 in Ovideo beschlossenen Bioethik-Konvention. Bis heute verweigert Deutschland die rechtskräftige Absegnung, weil diese Festlegung die Stammzellforschung an sogenannten „überzähligen“ Embryonen und Nicht-Einwilligungsfähigen gestattet – ein recht geringer Abstand vom Krater des Vulkans. Soll heißen: eine Zustimmung zur Konvention würde indirekt auch eine Zustimmung dazu ausdrücken, menschliches Leben auf ein Forschungsobjekt herab zu degradieren. Sind grundlegende moralische Gesetze vielleicht gänzlich ungeeignet für den Einsatz in der Welt da draußen?
„Ethische Mindeststandards bezeichnen in der Politik oft einfach das Maximum dessen, was an Normen gegen die widerstreitenden Interessen durchsetzbar ist“, erklärt Rothhaar. „Bei widerstreitenden Normen kann aber auch gemeint sein, dass beide Seiten sich in Anbetracht der Möglichkeit zu irren verhandlungsbereit zeigen und man sich entgegenkommt. Aber was bedeutet dann dieses Entgegenkommen?“ Als Beispiel nennt der Wissenschaftler die Frage nach der Zulassung von Stammzellimporten n
ach Deutschland. Theoretisch muss die Bundesregierung mit ihrer ablehnenden Haltung der Bioethik-Konvention gegenüber solche Einlieferungen verbieten. Man will ja authentisch bleiben. Seit 1991 schreibt das Embryonenschutzgesetz nämlich vor, dass menschliche Embryonen nicht „zu einem anderen Zweck als der Herbeiführung einer Schwangerschaft“ erzeugt werden dürfen. In der Realität sind Stammzellimporte aber erlaubt, wenn die betreffenden Embryonen bereits vor der Verabschiedung des Stammzellgesetzes 2002 existierten. Auf diese Weise vereint die Bundesrepublik ihren Anspruch an moralische Grundsätze mit dem Wunsch nach Forschung. „Hier kann man von einem echten kleinsten gemeinsamen Nenner sprechen“, so Rothhaar.
UN-Konvention zum Verbot von Klonen – scheinbarer „kleinster gemeinsamer Nenner“?
Eine andere Variante, sich politisch einem ethischen Mindeststandard zu nähern, zeigt sich am Beispiel der UN-Konvention gegen das Klonen. In jahrelangen Verhandlungen, die noch heute immer wieder neu einberufen werden, wurde diskutiert, ob nur reproduktives oder auch therapeutisches Klonen verboten werden sollte. Reproduktiv bedeutet hier, eine Person noch einmal zu „produzieren“, d.h. es entsteht ein Mensch bei diesem Vorgang, der auf natürlichem Weg geboren wird. Therapeutisch meint hingegen, einen Embryo zur Stammzellgewinnung zu erzeugen, welche wiederum zu Forschungszwecken verwendet werden. Zwei Aufgaben hatte die Bundesregierung vom Bundestag erhalten: möglichst viele Mitglieder zu gewinnen und ein umfassendes Klonverbot durchzusetzen. „Jetzt wird’s kabarettistisch“, kommentiert Rothhaar. „Weil nur der erste Auftrag zu erfüllen war, änderte man den zweiten kurzerhand dazu um, ein nicht umfassendes Klonverbot zu erreichen.“
Für die Praxis bedeutet das, dass es den UN-Mitgliedstaaten selbst überlassen bleibt, in welchem Ausmaß sie Klonen erlauben. Alles, was die Würde des Menschen verletzt, verbietet die Konvention zwar. Aber gleichzeitig legt niemand anderer als die Staaten selbst fest, was unter „Menschenwürde“ fällt und welche Art des Klonens dagegen verstößt. „Tolle Konvention“, befindet Rothhaar zu Recht und lacht.
Als er schließlich sein Fazit zieht, wird deutlich, dass negative Pflichten sich nur schwer an ethischen Mindeststandards orientieren können. Nicht, dass mir das neu gewesen wäre. Trotzdem: medizinethische Fragen gehören in jedem Fall zu denen, die immer wieder neu gestellt werden sollten. Die Zuhörer scheinen meine Meinung zu teilen. Es folgt eine rege Debatte um den Sinn und die Umsetzbarkeit ethischer Mindeststandards in der Politik – für mich hingegen ist der Abend an dieser Stelle zu Ende.
Fotos: Luise Fechner