Cairo-Nick Leonhard_via_FlickrOb die Touristen des Westens oder die Flüchtlingsnomaden Afrikas: In Kairo, dem Epizentrum der arabischen Welt, kollidieren Kulturen ungebremst aufeinander. Über die verstörende Erfahrung, sich schrecklich westlich zu fühlen, erzählt Gastautor Erik Hoffmann.

Der 23-jährige Geographiestudent fuhr Anfang April von Greifswald in den Nahen Osten. Im jordanischen Al-Maazra wollte er bei Bewässerungsprojekten mitarbeiten und die Gegend ökologisch kartieren. Danach verschlug es ihn per Anhalter ans Rote Meer und nach einigen Komplikationen mit der jordanischen und israelischen Grenzpolizei passierte er die Grenze nach Israel. In En Gedi, an der israelisch-palästinensischen Grenze arbeitete er weiter an einer Kartierung. Allerdings musste er frühzeitig abreisen, denn es gab Probleme mit den israelischen Sicherheitskräften, bei denen auch seine Kamera konfisziert wurde. Am 27. April war er wieder in Deutschland.

In Kairo, wo sein Trip begann, lernte er zwei äthiopische Flüchtlinge kennen. Über diese Begegnung handelt folgende Reportage.

Amele kaminrotes Lipgloss konkurriert mit dem Knallrot des hautengen T-Shirts. Die Schwester, Desiree, versprüht ein Deo namens „Ozean Fresh“ und übt das Balancieren auf ihren Fünf-Zentimeter-Absätzen. „Qayyis“, lobt Amele, „Gut“, auf Arabisch. Ich täusche meinen Schlaf vor, beobachte den gestrigen Neuzugang aus Äthiopien in Schlafsaal drei des kleinen Hostels im Stadtzentrum. Im Zentrum der Arabischen Welt, in Kairo, Hauptstadt eines Landes irgendwo im Nirgendwo zwischen wirtschaftlichem Koma und politischer Orientierungslosigkeit; Fluchtpunkt zigtausender Flüchtlinge aus dem Sahel, Tourismusziel für uns verwöhnte Westler und Dreh- und Angelpunkt der Islamischen Welt. Eine Woche versuchte ich die Stimmung einer Stadt in den Nachbeben der Revolution einzufangen, bevor ich ein ökologisches Praktikum in Jordanien und Israel beginnen sollte. Neugierig auf eine manische Stadt? Auf einen Smogstaubsturm, dass das vierte Stockwerk im Staubdunst versinkt? Auf Straßenzüge mit Geschäften, die ausschließlich Feuerlöscher verkaufen? Auf rote Stilettos kombiniert mit Burka? Flieg nach Kairo! Have fun!

Cairo smog

Smog liegt über Kairo

Amele und Desiree stammen ursprünglich aus Addis Abeba. Warum sie im Hostel übernachten, weiß ich nicht, nach vier Tagen Kairo wundert mich nichts mehr in diesem zweitausend Jahre alten Moloch. Sie kennen die fast 3000 Kilometer Nil von Äthiopien bis Kairo, schlugen sich eine Zeit lang in Khartum durch, jetzt hier. Ihre Eltern leben in Addis Abeba. „Kairo: No good! Khartum: Okay. Addis Abeba: Very good people!“, stammeln sie. Die schwierige Wirtschaftslage Ägyptens trifft als erstes das Heer an Wanderarbeitern und Flüchtlingen aus dem Ausland. Ausländische Investitionen und Tourismus sind mit der Revolution zusammengebrochen. Dafür explodiert die Arbeitslosigkeit, laut Bundeswirtschaftsministerium ungefähr 13,5 Prozent. Miserable Bedingungen, erst recht für arbeitslose, äthiopische, analphabetische Frauen, wie Amele und Desiree. Am 14. Januar 2013 registrierte sie das UNHCR in Kairo, die UN-Flüchtlingsorganisation. Die beigegelben Ausweise auf Englisch und Arabisch können die Geschwister nicht lesen, obwohl sie eifrig bemüht sind, das komplexe arabische Alphabet zu erlernen. Ihr Besprechungstermin ist am 7. Juli 2014 gegen 10 Uhr.

Sie benötigen meine Hilfe, machen sie mir klar. Und laden mich auf eine Pizza an. Ich habe elenden Hunger. Aber von äthiopischen Flüchtlingen kann ich nichts annehmen. Nein, kein Hunger, „No please, ana qayyis“, stottere ich. Der Geruch von Hühnchenfleisch und Unmengen an heißem Käse steigt hoch. „La.“, sage ich, nein. „Haram!“, zischt es plötzlich zornig aus Amele heraus. „Haram!“ Das wichtigste Wort im Orient – Haram, etwas, was Allah nicht mag. Wenn ein Mann Essen einer Frau nicht annimmt, gilt das als Haram. One-way-Ticket in die islamische Feuerhölle. Ich esse. Ich esse unglaublich langsam, die Speiseröhre zieht sich mir zu. Amele präsentiert mir eine englische Liste mit Hilfseinrichtungen in Kairo, sortiert nach Nationalität. „Almanya good!“, sagt sie. Dann schweigt sie, bittet um Antwort. Zum ersten Mal spüre ich Macht, keine Macht durch Wissen, keine Macht durch Status, sondern Macht durch Nationalität. „Reisepass“, der süßliche Klang des Westens, „Bundesrepublik Deutschland“, die Verheißung auf Arbeit, Ordnung, Wohlstand und medizinischer Versorgung.

Cairo, Egypt

Straßenszene

Ich verspreche ihnen, sie morgen zu der Einrichtung zu begleiten und sie auf ein Essen einzuladen. Vielleicht, meint Amele, werden sie auch das Hostel frühmorgens verlassen müssen, wenn sie von irgendwem einen Anruf erhalten sollten. „You call me, ok?“. Ja, verspreche ich. Ja, ich rufe euch dann an, morgen Abend, ganz sicher. Trotz allem: Sie wirken unzufrieden. Schließlich lüge ich: Es gebe einen Thomas, Kumpel bei der UN in Deutschland, ja, der kann sich kümmern. Desiree nickt freundlich, doch Amele kapiert, dass Bürokratie lügt und lähmt, egal ob in der Festung Europa oder auf den Schlachtfeldern des Sahels.

Wenig später streife ich durch die Straßen Kairos. Nachts explodiert das Markttreiben in der Downtown, manche Ägypter rufen mir ein „Welcome to Egypt“ zu. Ein Außerirdischer bin ich, fremd, distanziert, westlich. Ich werde euch nie verstehen, denke ich, während ich flüchtig in die Gesichter der Passanten schaue. Ihr werdet mich nicht verstehen. Scheiße, fühle ich mich mies. Du hast doch alles. Du kannst nachts auf die Straßen gehen, ohne dass dich die Polizei erschießt. Du kannst dein Leben führen, ohne dass dich der Nil mal dort, mal hier anspült. Dir gehören mehr Dinge, als in zwei ausgebleichte Sporttaschen passt. Und bald kehrst du in den Bergfried der Festung Europa zurück, nach Deutschland, und beobachtest durch schmale Schießscharten das Gesocks vor den Mauerzinnen. Als ich zum Hostel zurückkehre, gegen zwei Uhr nachts, öffne ich als erstes ein ägyptisches Bier, setze mich auf einen Balkon und schaue der Stadt beim Einschlafen zu. Ich, der Außerirdische. Noch nie habe ich mich derartig westlich gefühlt.

Am nächsten Morgen haben sie das Hostel verlassen. Nur Ameles Handynummer ist hinterlegt. Ich habe sie bis heute nicht angerufen. Drei Tage später verlasse ich Kairo mit Ziel Amman. Lichtjahre bin ich wieder von Amele und Desiree entfernt.

Der Name des Autors wurde auf eigenem Wunsch hin geändert.

Fotos: Nick Leonhard – Cairo (Titel), ruanov – Cairo smog (Smog), V Manninen – Cairo, Egypt (Straße)