Hunter S. Thompson ist tot. Sein Vater starb, als er 14 Jahre alt war, seine Mutter versuchte, ihren Kummer mit Alkohol zu überwinden und scheiterte daran. Bevor Thompson sich 2005 erschoss, war er ein begnadeter journalistischer Schriftsteller und literarischer Journalist. Zunächst war Thompson Sportreporter für eine Zeitung in Jersey Shore und zog anschließend nach New York. Als der Reporter 1958 die US-Luftwaffe als „Airman First Class“ verließ, urteilte sein Führungsoffizier über ihn, dass er zwar Talent habe, allerdings für den Armeedienst zu undiszipliniert sei.
Genau genommen war er auch als Journalist zu undiszipliniert, er war ein Gesetzesbrecher. Das wird vor allem dann deutlich, wenn man die Texte in dem jüngst veröffentlichten Band „Die Rolling Stone Jahre“, herausgegeben von Jann S. Wenner, liest. Er schrieb nicht objektiv, sondern schilderte alles aus der Ich-Perspektive. Er machte immer das, was er für richtig hielt, nicht, was als „richtig“ angesehen worden ist. 1991 traf sich Thompson zusammen mit seinen Kollegen mit dem Präsidentschaftskandidaten Bill Clinton. Nachdem er im Interview feststellen musste, dass Clinton ausschließlich Machtmensch sei, schrieb er einen Text, der fast gar nichts mit dem eigentlichen Gespräch zu tun hatte. Das liegt vermutlich auch daran, dass er nach einer Weile mehr oder weniger frustriert den Tisch verließ, sich an die Bar setzte und das Gespräch einfach nur beobachtete.
Der sich in eine seltsame Richtung entwickelnde Gouverneur
Und das, obwohl sie eigentlich gekommen sind, um die Konfrontation zu suchen. Clinton hat sie eiskalt abserviert. Überhaupt wollte Hunter irgendwie alles, nur eines ganz gewiss nicht: Dem zukünftigen Präsidenten so nah wie möglich sein. „Wir sind auf ihrer Seite“, erklärte Jann dem Kandidaten. Hunter nickte, setzte sich auf einen Stuhl, in der Hoffnung, Clinton würde sich möglichst ans andere Ende des Tisches setzen. „Aber nein. Der gruselige Bastard setzte sich direkt neben mich, ungefähr zwei Fuß entfernt und fixierte mich mit einem verschlafen aussehenden Blick, bei dem ich mich sehr unbehaglich fühlte“, erzählt Hunter. „Das Interview entwickelte sich in eine seltsame Richtung, genauso wie der Gouverneur…“
Der Reporter erzählt, dass Clinton einen wilden, bebenden Schrei ausgestoßen haben soll, als Hunter ihm ein Foto gab, auf dem er abgebildet war. Eigentlich wollte er nur an die Vergangenheit des Gouverneurs anknüpfen, um ein bisschen Leben in das Gespräch zu bringen. Ich kann mir ganz gut vorstellen, dass Clinton jeder Frage gekonnt ausgewichen ist; so wie es bei jedem Profipolitiker der Fall ist. Doch, wenn ich mir „Mr. Bills Nachbarschaft“ von Thompson durchlese, scheint hier die Fantasie bei Thompson durchgebrannt zu sein. Ich weiß nicht genau, was tatsächlich noch der Wahrheit entspricht. Das Einzige, das an dieser Geschichte überhaupt wahr ist, ist die Tatsache, dass Thompson versuchte, ein Gespräch mit ihm zu führen, ihn aber so abstoßend fand, dass er es nicht konnte. Alles andere sind Deutungen von ihm.
Mr. Nixon hat seinen Scheck eingelöst
In einer seiner Reportagen erzählt Hunter, dass er sich zum Sheriff von Aspen hat aufstellen lassen. Er ist es am Ende in der nicht geworden. Ungeachtet dessen lesen sich seine Reportagen, wie Feuergefechte zwischen zwei Banditen, die in einer verlassenen Geisterstadt im Wilden Westen um den Sack Gold sich gegenseitig ihre Beine wegschießen. Und irgendwo in der Ferne rollt ein Dornenbusch über die Steppe. Die Fensterläden klappern im Wind. Im Hintergrund ertönt „Spiel mir das Lied vom Tod“ von Ennio Morricone. Plötzlich befinden wir uns in einer unendlichen Aneinanderreihung von „Angst und Schrecken“ in den USA: „Angst und Schrecken in Las Vegas: Eine Wilde Reise in das Herz des amerikanischen Traums“, „Angst und Schrecken in New Hampshire“. Auch die Watergate-Affäre wird Teil von Thompsons Reihe: „Mr. Nixon hat seinen Scheck eingelöst“.
Überhaupt war Nixon eine der Persönlichkeiten, bei denen Hunter mit äußerster Vorliebe in Windeseile aus der Hüfte heraus den Revolver zückte und ganz präzise die Stelle traf, bei der es am Meisten schmerzte. Er drückte mit seinen pointierten und bis aufs Äußerste zugespitzten Reportagen immer wieder den Finger ganz tief in die Wunde und stellte sich dabei stets auf die Seite der Schwachen und Unterdrückten, nahm sie vor den Mächtigen in Schutz. Seine Texte erheben letztendlich mehr den Anspruch Literatur, als Journalismus zu sein. Das Streben nach Objektivität ist ihm fremd. Vielmehr sind es Deutung und Interpretation des Gesehenen, das Spiel mit der Wirklichkeit und die literarische Verzerrung des Geschehens, die seine Texte auszeichnen. Wenngleich sein Schreibstil in den 60er Jahren in den USA Aufsehen erregte und Thompson gerade bei Politikern, die wussten, dass er gegen sie sein würde, unbeliebt war, so war er keineswegs neu. Den Grundstein dieses Schreibstils legte unter anderem Egon Erwin Kisch mit seinen Reportagen. Was beide jedoch deutlich voneinander unterscheidet, ist die Skurrilität, das Absurde, das in den Texten Thompsons aufgehoben ist. Am präzisesten lässt sich Thompsons Schreibstil als „Absurder Journalismus“ oder genauer: als die „Absurde Reportage“ bezeichnen.
Jann S. Wenner, Herausgeber des Rolling Stone, fühlt sich ihm bis heute verpflichtet. Wie von Wenner zu erfahren ist, brachte er auch genau aus diesem Grund die Anthologie „Die Rolling Stone Jahre“ heraus. Es sind hier nicht nur sämtliche Reportagen, Essays und Kommentare von ihm gesammelt, die im Rolling Stone erschienen sind. Vielfach wird auch die Vorgeschichte des einen oder anderen Artikels durch den intensiven Briefwechsel zwischen Hunter und Jann dokumentiert. Wie aus dem lebhaften Briefwechsel hervorgeht, waren beide eng befreundet. Brandneu ist der Band jedoch nicht. Er ist im Dezember 2012 beim Wilhelm Heyne Verlag in München erschienen. Dennoch lohnen sich die Reportagen, Essays und Kommentare immer wieder, von Neuem gelesen zu werden. Gerade für die vorlesungsfreie Zeit, in der viele eher wenig „Ferien“ machen, sondern für Prüfungen oder Klausuren lernen, Hausarbeiten schreiben… – sind die „Rolling Stone Jahre“, die Jann S. Wenner herausgegeben hat, eine gelungene Abwechslung, einmal abzuschalten. Auch für diejenigen, die nie eine „vorlesungsfreie Zeit“ haben…
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