Es ist eisig kalt, als wir uns alle an dem kleinen Platz vor der Mensa, unmittelbar um den kleinen – in der Hektik des Alltags häufig unbeachteten – Grab-Gedenkstein von Eckhard Rütz einfinden. „Zum Gedenken an Eckard Rütz. Am 25. November 2000 von drei Jugendlichen mit rechtsextremistischer Gesinnung ermordet“, steht in großen Buchstaben auf den schwarzen, marmornen Stein geschrieben. Insgesamt haben sich etwa 100 Menschen um 16 Uhr eingefunden, um dem zwölften Todestag von Eckard Rütz zu Gedenken. Doch…wer war Eckard Rütz eigentlich?
Rütz war, um das einmal so deutlich zu sagen, ein Mensch, den die Gesellschaft hat fallen lassen. Ein Mensch, der von niemanden, außer bestenfalls der Greifswalder Tafel, den Greifswalder Kirchen und einigen gutmütigen Menschen, die ihm auf der Straße mal ein paar Münzen zuwarfen, weiter beachtet worden ist. Sein Leben fand in der Nacht vom 24. zum 25. November 2000 ein jähes Ende. Drei Jugendliche, sie waren zwischen 16 und 21 Jahre alt, schlugen mit Baumstützpfählen so lange auf ihn ein, bis er endgültig reglos am Boden lag. Als es zur Gerichtsverhandlung kam, sagte einer der Täter, dass Menschen wie Rütz dem „deutschen Steuerzahler“ nur auf der Tasche liegen würden. Heute wird Eckard Rütz gedacht, jetzt ist er in der Stadt bekannt. Zumindest unter denen, die sich für solche Schicksale interessieren.
Eckard Rütz und Klaus Dieter Gerecke dürfen nicht in Vergessenheit geraten
Dass heute ein Gedenkstein an dieser Stelle steht, ist keine Selbstverständlichkeit. Er wurde erst 2007, also sieben Jahre nach der Ermordung durch Neonazis, errichtet. Die Initiative ging hierbei keineswegs von der Stadt aus. Sie ging von einem sich hierfür eigens gegründeten antifaschistischen Bündnis „Schon vergessen?“ aus. Es waren Jugendliche und Studierende die die Initiative ergriffen, einen Gedenkstein zu errichten. Kurz nachdem sich, anlässlich des 12. Todestages, etwa 100 Menschen um den Grabstein versammelten, stimmte Peter Madjarov auf das bevorstehende Gedenken ein. Während ein Geigenspiel die musikalische Umrahmung zum Gedenkprogramm beisteuert, fliegt ein laut zwitschernder Vogel aufgeregt umher. Abgesehen des vom Hanseringes ausgehenden Hintergrundlärmes ist alles – totenstill. „Es ist wichtig, dass nicht nur Eckard Rütz und Klaus Dieter Gerecke nicht in Vergessenheit geraten, sondern auch den anderen von Rechtsextremisten Ermordeten nicht in Vergessenheit geraten“, bekräftigt Peter mit ruhiger und nachdenklicher Stimme.
Anschließend tritt Pfarrer Matthias Gürtler an das Mikrofon. Er erinnert an den Tag, an dem Eckard Rütz „blutüberströmt und mit schweren Wunden gefunden wurde und Ärzte nur noch den Tod feststellen konnten.“ Er erzählt, dass Rütz im Alter von 42 Jahren ermordet wurde und dass er die Hilfe der Anderen gebraucht hätte. Es ging Gürtler dabei nicht um den Staat, oder um Behörden, es ging ihm um uns. Doch auch bei dem „wir“ meinte er nicht nur diejenigen, die sich versammelten. Jene, die sich an einem solchen Tag versammeln, finden sich auch zu anderen Veranstaltungen ein, unterstützen andere Projekte, in denen jenen geholfen wird, die von der Mehrheit der Gesellschaft fallen gelassen werden. „Unsere Gesellschaft braucht ein Miteinander und ein Füreinander und muss denjenigen widerstehen, die das mit Füßen treten“, hob der Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Greifswalds hervor.
Sozialdarwinismus ist kein Randphänomen
Er erzählte, wie er mit anderen auf dem Domturm Aufkleber mit der Aufschrift „Wir sind nicht das Sozialamt der Welt“ entfernen musste, mit denen Neonazis die Kirche versahen. Er erinnerte an den Brandanschlag auf das IKuWo, an die Stolpersteine, an den Zynismus, durch den das neonazistische Nachrichtenportal „mupinfo“, das Leid, den Tod von Eckard Rütz mit Füßen tritt, er erinnerte an den neonazistischen Aufmarsch am 9. November in Wolgast. Nicht zuletzt warnte er vor der gesellschaftlichen Akzeptanz der NPD und betonte, dass Sozialdarwinismus, rechtsextreme Tendenzen keine Phänomene am Rand der Gesellschaft sind, sondern der Mitte entspringen. „Ich bin dankbar, dass es die Band Feine Sahne Fischfilet gibt, die sich gegen solche Gedanken auflehnt, die unter anderem am 9. November in Wolgast durch die Straßen getragen worden sind“, hob er gegen Ende seiner Rede hervor. Die Band wird dadurch, dass sie sich gegen Neonazis auflehnt vom Verfassungsschutz beobachtet. Doch das nur am Rande.
Anschließend trat ein Mitglied des Bündnisses „Schon vergessen?“ ans Mikrofon. Auch sie drückte mit dem Finger auf die Wunde. Sie kritisierte, dass antifaschistisches Engagement häufig nur aus Gründen der Imagepflege und nicht ernsthaft genug betrieben werde. Sie verwies auf das Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – und stellte, zwischen den Zeilen, die Frage, wie bei unserer Asylgesetzgebung dieser Grundsatz überhaupt noch verfolgt werde. Nicht zuletzt wurde der Bogen zu einem immer noch hochbrisanten Thema geschlagen: Der „NSU“; und sie warf dem Verfassungsschutz vor, durch die Aktenvernichtung Spurenverwischung zu betreiben.
Nicht zuletzt machte die Vertreterin des Bündnisses auf ein anderes, ganz konkretes Problem aufmerksam: Das Obdachlosigkeit ein Phänomen unserer Gesellschaft ist. „Sobald jemand nicht jung und leistungsfähig genug ist, gilt er in unserer Gesellschaft als nicht brauchbar“, kritisierte sie das leistungsorientierte Denken der Gegenwart. Zum Ende des Gedenkens legten unzählige Teilnehmer des Gedenkens Kerzen und Rosen vor dem Grabstein nieder. In der Menge freute sich ein kleines Kind, das gerade erst Laufen gelernt hat, dass es umher laufen kann und patschte neugierig und lachend umher. Es hat das Glück, noch nichts von dem zu wissen, was vor zwölf Jahren passiert ist. Doch es hat das Pech, noch früh genug davon zu erfahren. Vielleicht stehen doch noch irgendwann einmal Menschen vor dem Grabstein von Eckard Rütz und sagen: Zum Glück sind solche Verbrechen Vergangenheit.
Fotos: David Vössing