Am 9. November 1938 brannte in Greifswald die Synagoge, wie auch in vielen anderen Städten des damaligen Deutschen Reiches. In Jüdischen Geschäften gingen die Schaufensterscheiben zu Bruch. Etwa 75 Menschen gedachten heute Mittag der Reichsprogromnacht vor 74 Jahren.

„Dieses Jahr ist ein besonderes Gedenken an den 9. November“, äußerte sich Julia Männchen schockiert. Die Leiterin des Arbeitskreises Kirche und Judentum war wie viele andere Teilnehmer auch entsetzt, dass in der letzten Nacht überall in der Stadt Stolpersteine aus den Fußplatten herausgerissen wurden. Diese markieren einige Orte, wo früher jüdische Mitbürger wohnten. Einige Namen wurden stellvertretend für die Opfer der menschenverachtenden Rassenideologie im Dritten Reich genannt.

Auch wurde ein Zeitzeugenbericht von der damaligen Leiterin der Auswanderungsberatungsstelle verlesen:

Am Morgen des verhängnisvollen 9. November kam meine Aufwärterin und berichtete von dem Brand der Synagoge. Gleich darauf erhielt ich den telefonischen Anruf meiner Freundin, mit der Bitte, auf dem Wege zum Büro zu kommen. Dort erfuhr ich von der unerklärlichen Verhaftung des Ehemannes, aber wir beiden Frauen hatten nicht entfernt den Gedanken, dass hier Zusammenhänge mit dem Brande vorliegen könnten. Auf der Straße kamen mir die weiblichen Angestellten meines Büros entgegen, die männliche Hilfskraft war bereits verhaftet, und teilten mir mit, dass das Büro von der Gestapo geschlossen wurde und man mich jetzt suche. Sie deuteten auf zwei Herren, die sich auf dem gleichen Wege uns näherten. Darauf ging ich auf beide zu und sagte: ‚Ich hörte eben, Sie wollen mich sprechen. Was wollen Sie von mir?‘ ich erhielt die Antwort: ‚Wir müssen Ihr Büro schließen und wollen Ihre Schlüssel haben.‘ Ich entgegnete, dass die absolute Schließung wohl nicht angängig sei, da ich wichtige Post für Ausreisen erwarte. Man sagte mir, dass ich einige Tage abwarten müsse und mich bei der Gestapo dann erkundigen könne, ob ich weiterarbeiten dürfe. Bedrückt ging ich nach Hause. Dort trafen nach und nach viele bekannte Frauen ein, für deren Familienauswanderung ich arbeitete, auch meine junge Schwägerin, sodass ich bald ein Bild davon bekam, dass Massenverhaftungen vorgenommen waren. Dazu telefonische Hilferufe aus der Provinz. ‚Wir sind allein, was sollen wir tun, helfen Sie uns!‘ Die Haltung der Frauen war bewundernswert, was später sogar der Gestaposachbearbeiter in einer Unterredung anerkannte.
Ich wusste, wie schwer es ganz besonders die Frauen in den Kleinstädten hatten, die völlig ohne Schutz und Unterstützung dastanden, wehrlos der Willkür preisgegeben. Man erlaubte sich auch an kleinen Orten manchen besonderen Scherz. So erinnere ich mich an den aufgeregten Anruf aus einer kleinen Provinzstadt, wo man nicht nur die Männer, sondern auch die Kinder geholt und eingesperrt hatte, um sie dann am Abend den verzweiftelten Müttern zurückzugeben. In einem anderen Orte holte man die Frauen und Kinder aus den Betten und stellte sie, die nur mit dem Hemd bekleiden waren, gegenüber der Synagoge auf, damit sie dem Brande zusehen sollten, während die Männer als die Schuldigen abgeführt wurden.“

Unter den etwa 75 Teilnehmern waren viele ältere Menschen, aber auch Studenten. Für die Stadt nahm Sozialsenator Ulf Dembski und für die Universität Kanzler Dr. Wolfgang Flieger teil.

Fotos: David Vössing