„Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren!“ Pina Bausch

Wie lang ist die Zeit, wie groß ist der Raum, wie unsichtbar ist man nackt und wie viel Kaffee braucht man? Antworten auf diese Fragen konnte man sich bei den Tanztendenzen 2012 vom 16. bis 20. Oktober im Theater Vorpommern anschauen. Ein Rückblick von Anastasia Statsenko und Gorgi Bedzovski.

In zehn Sekunden kann man sich durch die Luft schleudern, sich mehrmals um die eigene Achse drehen, einen Einhandstand machen, sich verrenken, lachen und Spagat machen. Das können zumindest die Tänzer der E-Motion. Einer Gemeinschaftsproduktion mit dem deutschen Hip-Hop Choreographen Takao Baba. Man kann sich aber auch in zehn Sekunden verlieben, trennen, bekämpfen, befreunden, sich verlieren und sich wieder finden. Alles ist in der Choreographie „10 Seconds“ mit packenden Beats vereint. Das Meisterstück aus Hip-Hop, B-Boying und Tricking fand am Dienstagabend eine positive Resonanz, beim nicht nur jungen Publikum. Die Tänzer: Andra Böge, Barbara Briešková, Sefa Demiribas, Besnik Selemaj, Niek Traa und Fatmir Ziberi erzählten mit ihren Körpern eine Geschichte über die typischen Probleme unserer Zeit, Großstadtchaos, Stress, Gewalt und Beziehungen zwischen Mann und Frau standen im Vordergrund. „10 Seconds“ ist ein Beispiel dafür, dass zeitgenössischer Tanz nicht immer weltfremd und bieder sein muss.

Aus dem Stück "10 Seconds"

Aus dem Stück „10 Seconds“

Wenn der Tanz Ausdrucksform des Körpers für das Denken und die Seele ist, dann sind wir bei den Tanztendenzen richtig. Seit 18 Jahren ist die Tanzbühne im Theater Vorpommern frei für Künstler aus der ganzen Welt. Dieses Mal waren Tänzer aus der Schweiz, Israel, Spanien, Frankreich, Mexiko und Tunesien zu Gast. Ausgewählt und ausgezeichnet für ihre neueste Arbeiten von der Jury in Greifswald.

Die deutsche Produktion „10 Seconds“ ist ein Stück, das nicht nur durch die Synergie der Tanzstile Breakdance, Martial Arts und Hip-Hop begeistert, sondern auch zum Denken anregt. Was kann alles in zehn Sekunden passieren? Wie viele Bewegungen kann man in der Zeitspanne machen? Die Zeit vergeht schnell, wenn vieles geschieht. Die Tänzer zeigten, wie lang zehn Sekunden dennoch sein können. Die Zeit wird lang aber nicht langsam. Nur eines ist schade, dass unser Hirn bei so einer kurzen Zeit die Bilder viel zu langsam aufnimmt.

Dagegen wirkte das Tanzstück von Anna Huber und Yves Netzhammer „Aufräumarbeiten  im Wasserfall“ wie eine Ewigkeit. Die Tänzerin und der Schweizer Computer-, Video- und Lichtkünstler haben sich für das Solo viel Zeit gelassen. Anna Huber wurde durch eine Animation und eine Holzpuppe auf einer Leinwand begleitet. Kriechend bewegte sie sich durch die zusammenhängenden Quadrate. Diese sollten einzelne Räume darstellen, sie bewegte sich mit einem gradlinigen Tanz sehr langwierig, aber dennoch mit Gefühlsvielfalt vom Raum zu Raum. Ihr Tanz entzieht sich einer reinen Mechanik und der herrschenden Rationalität und ist frei in den faktischen Gegebenheiten des Raumes. Ängstlich und mit Vorsicht berührte sie die Grenzen in einem Mikrokosmos. Am Ende sprengte sich die animierte Puppe in kleine Teile und nahm die Ordnung dieses Kosmos auseinander. Als ob sie die ganze Schuld auf ihre Schultern trug. Dieses Stück des Eröffnungsabends, am 16. Oktober wurde vom Publikum sehr unterschiedlich aufgenommen.

Aus dem Stück "Kawa-Solo zu zweit"

Aus dem Stück „Kawa-Solo zu zweit“

Auch der Abschlussabend am Freitag war durchwachsen. Während „Kawa-Solo zu zweit“, eine Liebeserklärung an den Kaffee, mit gehaltvollen Hintergrundtexten und feinem Kaffeeduft überzeugte, blieb die tänzerische Leistung zu den überdrehten Beats eher dürftig.

Das zweite Stück des Abschlussabends „La Mujer invisible“ oder auf Deutsch „Die unsichtbare Frau“ war sympathisch, packend und voller Ironie zu gleich. Mit einem Augenzwinkern philosophierten die acht Tänzer unter der choreographischen Leitung von Carmen Werner über Beziehungen, Nacktheit und Sichtbarkeit. Es war, als würden sie mit dem Publikum Experimente anstellen. Ihr Tanzstil entstammte dem klassischen Ballett und wirkte doch neu und leicht improvisiert.

Tanz zeigt uns die Möglichkeiten unserer Körper

Tanz zeigt uns, welche ungeahnten Möglichkeiten und was für ein unerschöpfliches Potential in unserem Körper steckt. Tanz bringt dieses ungenutzte Instrument an seine Grenzen. Es ist ein Spiegel, dafür, dass wir leider nur wenige Anteile unseres Bewusstseins aktiv nutzen.

Kennzeichnend für die zeitgenössische Tanzkunst sind der individuelle Ausdruck, die Natürlichkeit des Bewegungsprinzips und die Existenz eines beseelten Tanzkörpers. Leider ist es oft schwer für uns Zuschauer und vor allem für Laien, diese Kunst zu verstehen und die Antwort auf manche Fragen zu finden.

Von Anastasia Statsenko und Gorgi Bedzovski

Fotos: Anke Schwarzer Fotografie (Artikelbild + 2. Foto, beide 10 Seconds), Jef Rabillon (Kawa); Alle ohne CC-Lizenz!