Ein Essay.
Wer heute an der Straßenbahnhaltestelle vor der alten Rostocker Neptun-Werft aussteigt, erblickt auf der rechten Seite in Richtung Warnemünde einen Gedenkstein, der an die Schließung der alten Werft erinnert. „Was habt ihr getan?“, steht vorwurfsvoll auf dem schwarzen, kleinen, fast zu übersehenden Monument geschrieben. Bis 1991 waren hier 7.000 Menschen beschäftigt, danach wurde der größte Teil der Belegschaft in die Arbeitslosigkeit entlassen. Im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen ist 1992 beispielsweise jeder Zweite arbeitslos. Die blühenden Landschaften, die Helmut Kohl versprach, blieben vorerst aus. Die Rostocker hatten, wie viele andere DDR-Bürger auch, endlich die harte Währung, nur viel zu oft keine Arbeit, sodass sie nun die Möglichkeit hatten, sich an den Schaufenstern die Nase platt drücken zu können, um Dingen nachzusehen, die es zu kaufen gab, die sie jedoch nicht bezahlen konnten. Immerhin war es nicht ganz so schlimm, dass man die Tageszeitung nicht mehr hätte bezahlen können.
Bundesweite Presse im Sog der politischen Großwetterlage
„Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten: Ansturm der Armen“ titelt 1991 der Spiegel und zeigt die Arche in Schwarz-Rot-Gold, die – so suggeriert das Titelbild – scheinbar von jenen Flüchtlingen, Aussiedlern und Asylanten überrannt zu werden droht. Die „Welt“ zitiert den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble mit den Worten: „Asylantenflut stoppen“, während die Bild-Zeitung skandalträchtig postuliert, dass „jede Minute ein neuer Asylant“ käme. Jetzt fällt es mir so schon schwer, überhaupt noch Arbeit zu finden, wo doch hier die ganze Schiffsindustrie den Bach runter geht, und dann kommen jetzt auch noch die Asylanten, denkt sich da der eine oder andere arbeitslose Werftarbeiter. Im Fernsehen ist von einer „Asylanten-Springflut“ die Rede, der Bundestag setzt sich äußerst intensiv mit der Frage auseinander, welche Möglichkeiten man habe, den „Asylantenstrom“ einzudämmen. Die CDU warnt in entsprechenden Schriften eindringlich vor „Schein-Asylanten“ und „Asylmissbrauch“, den man nur durch eine entsprechende Grundgesetzesänderung beenden könne, wogegen sich die SPD bis zu den Ereignissen um Rostock-Lichtenhagen stemmte. Die „Asylfrage“ wird zum beherrschenden Thema des Wahlkampfes in jenen Ländern, in denen Wahlen anstehen, was an Rostock nicht spurlos vorbei geht.
Und in Lichtenhagen ziehen immer mehr Menschen in das Sonnenblumenhaus. Ausländer, vor allem Sinti und Roma aus Rumänien. Und die Arbeit, sie wird weniger. Jetzt campieren sie sogar schon vor dem Haus. Der „Spiegel“ hat Recht: Das Boot ist voll! Die NPD und DVU sind in jenem Jahr seit einiger Zeit emsig in Lichtenhagen unterwegs und verbreiten zahlreiche Flugblätter, in denen Deutsche gegen die vermeintlichen Ausländer aufgewiegelt werden sollen. Vermeintlich, wie gesagt. Denn ein Großteil der Vietnamesen war bereits lange vor 1990 in Rostock. Als Arbeiter. Der eine oder andere hat vielleicht auch in der Werft gearbeitet und ist nun genau so arbeitslos. Doch im Unterschied zu seinem Kollegen muss er nun um Asyl bitten. Und das, obwohl er doch über mehrere Jahre hinweg in Deutschland, in diesem Fall in der DDR, aber eben doch Deutschland, gearbeitet hat. Doch nicht die Talfahrt der Wirtschaft der Bundesrepublik sind aus Sicht der Politik das Problem. Vielmehr wird in „den Ausländern“ die Wurzel allen Übels gesehen. Schlagzeilen der Massenmedien der 90iger Jahre finden sich auch heute noch in ähnlicher Art und Weise auf Plakaten rassistischer Parteien wieder. Der Rassismus-Experte Siegfried Jäger konstatiert 1993, dass es diese Parolen „bereits im Vorfeld des Dritten Reiches gegeben“ habe.
Als die Büchse der Pandora geöffnet wurde…
Ende 1991 warnt schließlich der Oberbürgermeister der Stadt Rostock davor, dass Gewalttätigkeiten gegenüber ausländischen Bürgern zunähmen und schwerste Übergriffe bis hin zu Tötungen nicht auszuschließen seien. Im Frühjahr 1992 erhält Polizeidirektor Kordus aus zuverlässigen Quellen die Information, dass es zu fremdenfeindlichen Übergriffen gegenüber Vietnamesen kommen wird. Kordus geht seinem Tagesgeschäft nach. Es ist ja noch nichts passiert. Im laufenden Jahr gründet sich schließlich – von den Pamphleten der DVU und NPD angestachelt – eine sogenannte „Bürgerwehr“. Sie kündigt der lokalen Presse an, dass es am letzten Augustwochenende knallen wird. Gegen wen es gehen soll, braucht nicht gesagt zu werden.
Am 24. August knallt es dann, so, wie man es Polizeidirektor Kordes sagte. Und die Polizei war überfordert. Auf 200 Gewalttäter, die das Sonnenblumenhaus, in dem etwa 100 Asylbewerbende wohnten, unter Applaus der übrigen 2.000 Menschen in Brand setzten, kamen gerade mal 30 ungenügend ausgerüstete Polizeibeamte. Es war ein Leichtes, die Beamten zu verprügeln und zu vertreiben, waren sie doch auf eine derartige Situation nicht vorbereitet. Um sich ein besseres Bild von den Ereignisse, die sich 1992 in Lichtenhagen vollzogen, machen zu können, sei an dieser Stelle auf Film-Mitschnitte von Spiegel-TV verwiesen:
15 Jahre nach diesen Ereignissen findet in Rostock-Lichtenhagen eine Kundgebung statt, in der an dieses über mehrere Tage hinweg andauernde Verbrechen erinnert worden ist. Der Hallesche Radiosender Corax befragte 2007 einige Bürger Lichtenhagens zu den Ereignissen aus dem Jahre 1992. In einem waren sich alle einig: Es wollte niemand gewesen sein. Die eigentlichen Brandstifter seien Neonazis aus Hamburg und Berlin gewesen, die die Einheimischen zu Gewalt angestachelt hätten. Die Tatsache, dass die „eigene Bevölkerung“ selbst mit Verantwortung an diesen Ereignissen trägt, wird dadurch abgeschwächt. Die Eigenen werden zu Opfern der „Auswärtigen“, die aus Berlin und Hamburg kamen. Andere meinten gar, Sinti und Roma hätten die Polizei angegriffen und überhaupt sei es gut, dass sie woanders wohnen würden. Schließlich gehörten „solche Leute nicht hierher.“ Eine jüngere Frau sagt der Redakteurin, dass sie die Kundgebung anlässlich des 15-jährigen Gedenkens „Scheiße“ finde, weil niemand zur Arbeit komme und die Geschäfte geschlossen hätten. Auf welcher Seite hätte sie wohl 15 Jahre zuvor gestanden?
Erste rassistischen Pogrome seit 1945
Rostock-Lichtenhagen geht neben den Ereignissen in Hoyerswerda als erstes rassistisches Pogrom nach 1945 in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein. Oder auch nicht. Zwar gibt es jetzt, zum zwanzigjährigen Jubiläum eine sehr breit gefächerte Gedenkkultur von Kirchenvertretern, Konservativen bis hin zur radikalen Linken. Bundespräsident Joachim Gauck hat angekündigt, am 26. August nach Rostock zu reisen, um vor dem Sonnenblumenhaus einen Gedenkbaum, eine Eiche, zu pflanzen. Den ganzen Tag über hinweg soll es möglich sein, Gedenkbäume zu pflanzen. Anschließend wird er sich vermutlich um 14 Uhr zum interreligiösen Dialog auf der Bühne am Sonnenblumenhaus einfinden, nachdem er – vielleicht – an der für 11 Uhr angesetzten Friedensandacht im St. Thomas Kirchengemeindezentrum teilgenommen hat. Die genannten Veranstaltungen werden im Rahmen des von weiten Teilen der Stadtbürger gegründeten Bündnisses „Lichtenhagen bewegt sich“ durchgeführt. Doch eine breit angelegte und konstante Erinnerungskultur, die nicht zugleich fast reflexartig darauf verweist, dass heute aber alles eigentlich schön bunt sei, bleibt nach wie vor aus.
Ein wunder Punkt – nicht nur in der Geschichte Rostocks
Lichtenhagen und Hoyerswerda stehen nicht nur für die ersten rassistischen Pogrome seit 1945. Sie stehen auch für einen der wundesten Punkte in der Geschichte der Bundesrepublik. Zum ersten Mal offenbarte sich 1992, wie tief Rassismus noch im Alltag verwurzelt zu sein scheint und wie anfällig wir nach wie vor für rassistische Weltbilder sind. Und das, obwohl wir es eigentlich besser wissen müssten. „Das Problem heißt Rassismus“ nennt sich aus diesem Grund ein bundesweites Bündnis, das am 25. August um 11 Uhr eine Kundgebung vor dem Rostocker Rathaus, und um 14 Uhr eine große antifaschistische Demonstration organisiert, die vom Bahnhof Lütten-Klein ausgehen und in der Flensburger Straße in einem Konzert münden soll. Um 18 Uhr soll es an der Ecke Flensburger Straße/ Güstrower Straße beginnen. Zugesagt haben für dieses Konzert unter anderem Frittenbude, Feine Sahne Fischfilet und Kobito. Bereits einen Tag zuvor hat das städtische Bündnis „Lichtenhagen bewegt“ ebenfalls ein eigenes Konzert geplant. Am 24. August werden auf der Haedgenhalbinsel im Stadthafen Rostock ab 18 Uhr Bands wie beispielsweise 17 Hippies, Die Reise und Movimento spielen. Jeder, der an diesem Wochenende an den Konzerten oder anderen Veranstaltungen im Rahmen des Gedenkens in der Stadt anwesend sein wird, fragt sich vermutlich fast ohnmächtig, wie sich mehr als 40 Jahre nach der NS-Diktatur Ereignisse, die verdächtig an die Reichskristallnacht erinnern, wiederholen konnten.
Und wir stehen noch ratloser da, wenn wir wissen, wie aus der ARD-Dokumentation unmissverständlich hervorgeht, dass derartige Ereignisse hätten abgewendet und verhindert werden können.“Es ist offensichtlich so gewesen, dass es Absicht war, hier in Rostock Lichtenhagen vor der ZAst (Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber, die Redaktion) ein Szenario entstehen zu lassen, das die Botschaft vermitteln soll: ‚Das Boot ist voll‘, wir können nicht mehr. Man hat Möglichkeiten, die man gehabt hätte, um dort die Situation zu entspannen, nicht genutzt. Politiker hätten Einfluss nehmen können, auf die zwischenzeitliche Nutzung solcher leerstehenden Gebäude“, erklärt Knut Degner, ehemaliger Pressesprecher der SPD-Landtagsfraktion, 1993 den ARD-Reportern vor der Kamera. Lichtenhagen wurden genau so viel Asylbewerbende zugeteilt, wie in anderen Aufnahmestellen des Landes. Das Problem hätte ohne Weiteres gelöst werden können. Schließlich zogen in Folge zunehmender Arbeitslosigkeit vor Ort zahlreiche Menschen aus der Stadt, sodass der Wohnungsleerstand recht schnell zunahm. Wolfgang Richter, der damalige Integrationsbeauftragte der Stadt Rostock, mahnte mehrmals an, dass der Zustand, dass Asylbewerbende vor dem Haus campieren müssten, inzwischen unhaltbar geworden sei und die Menschen dringend eine Unterkunft benötigten. Doch das zuständige Ministerium unternahm nach Aussagen Richters in der ARD-Dokumentation „Wer Gewalt sät“ nichts.
Dass Wolfgang Richter sich an den Gedenkveranstaltungen anlässlich des 20. Jahrestages der Pogrome beteiligt, dürfte wenig überraschend sein. Neben Innenminister Lorenz Caffier (CDU), Juri Rosov vom MigrantInnenrat Rostock und der Rostocker Sozialsenatorin Juliane Melzer wird er am 23. August um 19 Uhr als Zeitzeuge an der Podiumsdiskussion „20 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen: Zuwanderung und Integration als Herausforderung und Chance für Mecklenburg-Vorpommern“ teilnehmen. Geleitet wird die Diskussion von Stefan Horn, dem Leiter des Rostocker NDR-Studios.
Der Blick nach vorne (?!)
20 Jahre nach dem Pogrom, über das heute niemand gerne redet, wird an die Opfer des Sonnenblumenhauses gedacht. Doch wie wird es am 21. Jahrestag aussehen? Wird man auch dann wieder daran denken? Und auch jetzt möchte man keinen „rückwärtsgewandten Erinnerungsmarathon“, wie die „Karawane“ es in ihrer Ankündigung zum Theatertag schreibt, der am 25. August stattfinden wird. Vielmehr geht es an jenem Tag um „gegenseitige Begegnung“. Und das, obwohl gerade Theater sich dafür anbietet, zu erinnern, ohne dabei „gegenseitige Begegnung“ zu vernachlässigen.
Doch Erinnerung gehört nunmal zur Geschichte dazu, ganz egal, wie sehr man sich bemüht, lieber nicht darüber zu sprechen, oder bemüht ist, aufzuzeigen, wie „bunt“ doch plötzlich alles geworden ist. Und am Ende klebt trotzdem an der einen oder anderen Lampe in Lichtenhagen ein Aufkleber der „Nationalen Sozialisten Rostock“, oder anderer freier Kameradschaftsgruppen, egal, wie sehr sich Lichtenhagen „bewegt“, egal wie „bunt statt braun“ Rostock geworden ist. Verschwunden sind sie nicht. Man sieht sie nur nicht mehr so schnell, die neuen Nazis. „Was habt ihr getan?“ – vielleicht steht auch das irgendwann mal auf einem Gedenkstein: vor dem Sonnenblumenhaus Rostock-Lichtenhagen. Doch der muss auch erst mal gesetzt werden. Irgendwann. Vielleicht zum 30. Jahrestag.
Beiträge, die als Grundlage für diesen Text dienten:
ARD: Wer Gewalt sät, von Brandstiftern und Biedermännern, 1993.
Der Freitag: Der Tod von Menschen war einkalkuliert, 14. August 2012.
Radio Corax: 15 Jahre danach – Neues aus Lichtenhagen, 5. Juni 2007.
Veranstaltungskalender des Bündnisses „Lichtenhagen bewegt sich“
Fotos: Schiwago/ wikimedia commons (Sonnenblumenhaus), Bundesarchiv/ wikimedia commons (Vietnamesische Näherin)
Ich erwische mich auch immer wieder, dass ich Pogrom mit einem "r" zuviel schreiben will …
Ohje. Danke für den Hinweis.