Die Sitzplätze reichten nicht, viele standen, andere schauten sich den Vortrag über einen Videostream in einem anderen Raum an. Viel Anziehungskraft erzielte der ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück, der am Mittwochabend im Alfried-Krupp-Kolleg die 26. Greifswalder Rede zu globalen Machtverschiebungen und der Rolle Europas hielt. Dabei sieht er eine Verlagerung von Macht zugunsten Asiens und Lateinamerikas.
In ihrer Begrüßung lobte die Vorsitzende des Krupp-Kollegs Prof. Bärbel Friedrich die hohe Reputation Steinbrücks in Finanzfragen und erwähnte in ihrer biografischen Aufzählung auch Steinbrücks Mitgliedschaft im Aufsichtsrat von ThyssenKrupp und seit 2010 von Borussia Dortmund. „Seitdem stehen sie oben“, spielte Steinbrück humorvoll auf Dortmunds Meisterschaft an und begann seinen Vortrag zu „Globale Machtverschiebungen – Europas Rolle im 21. Jahrhundert“. Vor etwa einem Jahr war Steinbrück schon einmal in Greifswald.
„Es gibt eine Zeitenwende.“
„Wir haben es mit einer Zeitenwende zu tun“, die von besonderer Qualität sei, begann Steinbrück seine Ausführungen und nannte vier Gründe. So führe die Globalisierung zu einem Wachstum der Schwellenländer. Zudem hätten sich die Finanzmärkte von der realen Wirtschaft entfernt: „Der Derivatenhandel macht jährlich 700 Billionen US-Dollar, die globale Wirtschaftsleistung mit etwa 67 Billionen US-Dollar nur ein Zehntel“. Hinzukomme die Digitalisierung mit großen gesellschaftlichen Konsequenzen. Als letzten Grund sieht Steinbrück die demographische Entwicklung in Deutschland, indem der Einfluss der Rentner steige, weil diese eine größere Wählerschaft stellen.
„Die Koordinaten verschieben sich und Europa hat das nicht auf dem Schirm“, machte Steinbrück eine Verlagerung der Machtzentren deutlich. Früher hätten die G7 den Takt auf der Welt vorgegeben, was die wirtschaftliches Potential und finanzielle Kraft angehe. „Die G7 verstanden sich als globale Machtkonstellation“, so der ehemalige NRW-Ministerpräsident. Dies habe sich mit der Finanzkrise hin zu der G20 geändert, die eine stärkere Mitsprache forderten. „Das Machtgefüge ändert sich global“, sagte Steinbrück mit Blick auf stärker werdende Länder in Asien (China, Indien) und Lateinamerika (Brasilien, Argentinien). „Die Amerikaner spielen nicht mehr den Dirigenten, sondern nur noch die erste Geige“, veranschaulichte Steinbrück eine mulitpolare Weltordnung, in der es keinen Dirigenten mehr gebe. Das exportgetriebene China ist der Hauptgläubiger der Vereinigten Staaten und habe ein Interesse am amerikanischen Markt, aber durch die Verschuldung habe auch China ein Problem mit Amerika.
„Europa muss sich damit beschäftigen, welche Rolle es spielen will.“
„Europa muss sich damit beschäftigen, welche Rolle es spielen will“, forderte Steinbrück, räumte aber ein: „Europa ist nicht so organisiert, wie es sein sollte.“ Als Beispiel nannte er eine fehlende gemeinsame Sicherheitspolitik wie zur Lybien-Entscheidung. So enthielt sich Deutschland im UN-Sicherheitsrat, während Großbritannien und Frankreich für ein militärisches Vorgehen stimmten. „Europa hat keine Meinung dazu, wie groß es sein will“, sagte er mit Blick auf weitere Beitrittsländer. Europa wolle eine „wissenbarsierterste, wettbewerbsfähigste Region der Welt“ sein. Dieses Ziel wurde 2010 nicht erreicht und fraglich sei, ob es 2020 erreicht werde. Steinbrück forderte er eine stärkere Zukunftsausrichtung der EU, indem nicht mehr 40 Prozent der EU-Ausgaben in Landwirtschaft gehen, sondern die Mittel verstärkt in Bildung und Infrastruktur investiert werden.
Er sieht Europa aber auch als ein Vorbild. „Europa soll sich behaupten und für andere Regionen attraktiv sein“, äußerte Steinbrück mit Blick auf Länder, in denen die Gerichte korrupt sind oder Demonstranten nach Protesten verhaftet werden. Diesen Ländern soll das demokratische Systems Europas nicht übergestülpt werden, aber andere Länder sollten neugierig gemacht werden.
Euro-Abschaffung würde zu Depression in Europa führen
In diesem Zusammenhang verteidigte Steinbrück auch den Euro, denn mit nationalen Währungen hätten erhebliche Turbulenzen gedroht. „Eine neue D-Mark hätte die deutschen Exporte im Ausland bei einer Währungsaufwertung von 40 bis 50 Prozent verteuert. Das würde die deutsche Wirtschaft ins Mark treffen.“ Schwache Länder hätten Abwertungen erfahren, verbunden mit deutlich höheren Importpreisen. Sie hätten Energie dann kaum noch bezahlen können. „Eine Depression wäre die Folge“, fuhr er fort: „Not frisst Demokratie, Armut innere Stabilität“. Er zeigte Verständnis für Griechenland: „Die Griechen gehen zu Recht auf die Barrikaden, wenn sie acht Prozent des Bruttoinlandsproduktes einsparen müssen. Auf Deutschland übertragen wären das 180 Milliarden Euro. Dann würden wir auch auf die Barrikaden gehen.“ Er warnte davor, dass der Funke auf andere Staaten Europas überspringen könnte. Vor über 80 Jahren hätte es unter Reichskanzler Brüning auch solch eine extreme Sparpolitik gegeben. „Das endete dann mit Adolf Nazi“, nannte Steinbrück einen Grund für das Dritte Reich. Daher sprach er auch von „Europa im Ausnahmezustand“. So eine lange Friedensperiode wie nach 1945 habe Europa noch nicht erlebt.
Steinbrück wirbt für verstärkte Integration
Mittelfristig sieht er Europa an einer Wegmarke zwischen einem losen Staatenbund oder einer verstärkten europäischen Integration. Diese Integration sei auch mit der Abgabe souveräner Rechte verbunden. „Ein Staat, der an der Bonität solventer Staaten teilnimmt“, muss sich auch an die Spielregeln halten“, äußerte Steinbrück. Verletze ein Staat die Regeln, „muss es Durchgriffsrechte, auch in die Haushalte geben“. Das gelte auch für Deutschland. Um Deutschland auf diesen Weg zu bringen, müsse vielleicht die Verfassung angepasst werden. Wenn jetzt eine Volksbefragung komme, wisse er nicht, wie es ausgeht. „Ich hoffe aber, dass ich Sie von diesem Weg überzeugt habe“, wandte sich Steinbrück abschließend an die Zuhörer.
Fotos: David Vössing (Artikelbild – webMoritz-Archiv)