Eine Reportage

Die Nacht bricht über Greifswald herein, vereinzelt werden Blätter vom Wind über die Straßen getragen, der Schrei der über den Ryck kreisenden Möwe verstummt. Vereinzelt treffen wir noch einzelne Passanten auf der Straße, die sich auf den Heimweg machen. Greifswald schläft. Fast. Denn in den Nachtstunden kommt eine andere Stadt zum Vorschein. Eine Stadt, in der Menschen in Containern nach etwas Essbarem suchen. Es sind weder Arbeitslose, noch Obdachlose, es sind zumeist Studenten.

Wir treffen uns mit zwei Studenten, die ebenfalls im Müll nach etwas Essbarem suchen und fragen sie gleich zu Beginn, was es mit dem Containern, so wird diese Form des Erwerbs von Lebensmitteln bezeichnet, auf sich hat. Sie klären uns auf: Containern ist eine Form der Konsumkritik, genauer gesagt Konsumverweigerung. „Täglich werden in deutschen Discountern bis zu 45 Kilogramm an Lebensmitteln weggeworfen, die eigentlich noch haltbar sind“, begründet Florian* sein Handeln, während die Straße unter uns in Richtung des ersten Supermarktes hinweg fegt. „Mehr als die Hälfte unserer Lebensmittel landet auf dem Müll, so die Welternährunsorganisation der UNO – das Meiste, bevor es unseren Esstisch überhaupt erreicht“, heißt es zu diesem Thema in der ARD-Reportage „Frisch auf den Müll“. Ursache dieses Wegwerf-Wahns ist vor allem ein Überangebot in den Supermärkten. So weiß der öffentlich-rechtliche Fernsehsender zu berichten, dass täglich bis zu 100 verschiedene Joghurtsorten verschiedenster Hersteller angeboten werden.

Wir werfen Essen weg, andere Menschen verhungern

Zwei Tage, nachdem ein Produkt in die Kühlregale einsortiert wurde, muss es wieder raus, ganz unabhängig vom Haltbarkeitsdatum, berichtet eine Mitarbeiterin eines Supermarktes in der Dokumentation. Dass da recht schnell die Zahl noch nicht verfallener Waren auf dem Müll steigt, dürfte kaum überraschend sein. „Wir kaufen nicht Waren ein, die wir brauchen, sondern die wir optional mal brauchen könnten“, ergänzt der Kölner Psychologe und Marktforscher Stephan Grünewald in der ARD. Bei Fisch, Fleisch und Eiprodkuten sei die Gesundheit im Falle des Verzehrs nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums möglicherweise beeinträchtigt.

Containern soll Nachfrage in den Supermärkten verringern

Der Griff in die erste Tonne wird zum Erfolg

„Von den weltweit weggeworfenen Lebensmitteln könnten die Hungernden der Welt drei mal ernährt werden“, werde ich von Florian plötzlich jäh aus meinen Gedanken gerissen. Wir stehen auch mittlerweile vor der ersten Mülltonne. Wird sich überhaupt etwas Haltbares, Essbares in der Mülltonne finden? Viel ist es nicht, wie die beiden feststellen müssen, während sie in dem Behälter kramen. Unter vereinzelt verschimmelten Lebensmitteln und Verpackungen holen sie, nachdem sie einige Minuten gesucht haben, einen unversehrten Kohlkopf aus der Tonne. Es folgen Radieschen und Tomaten. Nicht viel, aber immerhin, dachte ich  mir, als wir die Beute begutachteten und Philipp, unser webMoritz-Fotograf, mit dem ich unterwegs bin, die Fundstücke ablichtete.

„Wir machen das alles nicht aus Eigennutz, sondern wollen, dass insgesamt weniger Lebensmittel weggeworfen werden. Indem wir weggeworfene, aber noch haltbare Produkte aus den Tonnen holen und verbrauchen, verringern wir die Nachfrage auf dieses Produkt“, erklärte uns Florian die Idee, die hinter dem containern steckt. Schließlich würden sie regulär im Laden einkaufen gehen und somit Supermarkt-Kunde sein. Indem sie das Produkt jedoch aus den Mülltonnen des Supermarktes holen, sind sie kein Kunde mehr und entziehen sich der Kaufkraft, wodurch der Umsatz des Supermarktes sinkt. Inzwischen haben wir den ersten Discounter verlassen und machen uns auf den Weg zum nächsten Markt, der mit niedrigen Preisen, Frische und hochwertiger Qualität wirbt.

Müll zu verwerten ist Diebstahl

Zwischenzeitlich schweifen unsere Gespräche ein wenig zum Problem der Milchbauern ab, die unter dem Druck der Supermarktketten zu leiden haben. Damit ALDI dem Kunden Milch immer noch billiger verkaufen kann, als es bei der Konkurrenz der Fall ist, werden die Milchbauern gezwungen, ihre Produkte zu Preisen verkaufen, die der Arbeitsleistung nicht ansatzweise gerecht werden. Unser Gespräch wird an dieser Stelle unterbrochen, schließlich haben wir den nächsten Discounter erreicht.

In der Lagerhalle brennt noch Licht. Und so beschließen die beiden, es bei dem nächsten Laden zu versuchen. „Juristisch gesehen ist das natürlich eine Straftat“, begründet Florian, weshalb sie unter diesen Bedingungen nicht containern, während Christian* still neben uns her läuft.

Innerhalb des deutschsprachigen Raumes ist die Bundesrepublik jedoch  das einzige Land, in dem das Einsammeln von Müll für die eigene Nutzung als Straftat bewertet wird. Das ergibt eine kurze Recherche im Internet, die ich im Anschluss des containern gehens durchgeführt habe.

Wie Maria Kapeller in dem österreichischen Online-Magazin „Der Standard“ berichtet, stellt das Dumpstern, wie das Containern auch genannt wird, in dem Nachbarland keine Straftat dar. Gleiches gilt auch für die Schweiz. „Was weggeworfen wird und nicht für Dritte bestimmt ist, gehört niemandem mehr. Wenn man nicht über einen Zaun steigen oder ein Schloss aufbrechen muss, um an die Waren heranzukommen, dann ist gegen das Containern nichts einzuwenden“, bewertet der Baseler Staatsanwalt Markus Melzel in dem 2008 von Mena Kost verfassten Bericht „Mülltaucher beim Einkaufsbummel“, der auf der Plattform „streetnewsservice.org“ publiziert wurde.

Die Mülltonnen des zweiten Supermarktes, den wir mittlerweile erreicht haben, stehen etwas versteckt in einer kleinen Ecke. In der einen Tonne befindet sich lediglich Papier- und Plastikmüll, aus der anderen holen beide noch einige andere Waren aus den Tiefen des Mülls: Zucchini, Tomaten, Paprika, Möhren sowie eine Dose Schlagsahne und einen Becher Senf. Sowohl Sahne als auch Senf sind noch nicht verfallen, nur entwertet worden, indem man sie in den Papierkorb warf. Die beiden finden auch noch andere Lebensmittel in der Tonne, so beispielsweise Milch, die jedoch bereits verfallen war.

Hauptsächlich wird Gemüse entsorgt

Das Endergebnis des Containerns: Gemüse, Senf, Sahne...

In der Regel wird Gemüse containert, weil hier die Wahrscheinlichkeit noch relativ groß ist, dass es noch haltbar ist. Anders sieht es hingegen bei Fleisch und Käse aus. Ist hier das Mindesthaltbarkeitsdatum verfallen, sollten die Waren besser nicht containert werden, erklärt uns Florian im Folgenden. Nach etwa einer Stunde und dem Abgrasen von drei Supermärkten wird das Geborgene begutachtet. Die Bilanz fällt mäßig aus. Es konnte nicht sehr viel containert werden, aber immerhin: Sahne, Broccoli, Radieschen, Weintrauben, Zucchini, Paprika, Möhren, Tomaten und ein Becher Senf.

Nachdem Philipp und ich uns von den beiden auf einem Parkplatz verabschiedet haben, denke ich noch eine Weile über das Containern nach.

Protest oder Flucht in die innere Emigration?

Ein Kommentar von Marco Wagner

Was ist das Containern für eine Form von Protest? Es ist eine Verweigerung, ein Protest gegen den verschwenderischen Kapitalismus, den niemand sieht, weil er in der Dunkelheit geschieht. Nachts, in den Straßen von Greifswald, Berlin, oder Wien. Welchen Nutzen hat Protest, von dem die Öffentlichkeit kaum Notiz nimmt? Der Hunger in der Welt bleibt trotz der Verweigerung, die Supermarktketten sind groß genug, dass das Containern keine wirtschaftlichen Folgen hat, sodass sich auch nichts an dem Einkaufverhalten der Ketten ändert. Ganz zu schweigen davon, dass diese Form des Protests ebenso wenig das Konsumverhalten derer ändert, die einen immer vollen Supermarkt mit 100 verschiedenen Joghurt-Sorten fordern.

Vielleicht handelt es sich weniger um Protest, als vielmehr um die Flucht in die innere Emigration, um wenigstens ein bisschen dem Wegwerf-Konsum-Syndrom, das die Marktwirtschaft täglich im Überfluss produziert, zu entkommen.

* Name von der Redaktion geändert

Fotos: Phillipp Blank