Verkatert, im Halbschlaf und von den Geschehnissen der letzten Nacht durch Wunden an Kopf und Schienbein sichtlich gezeichnet, greift Dorfrichter Adam (Jan Bernhardt) zielsicher nach der Weinflasche und stellt erstaunt fest: „Zum Straucheln braucht’s doch nichts, als Füße. Auf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier? Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt den leidgen Stein zum Anstoß in sich selbst.“ Einmal ins Rollen gebracht, nimmt dieser in Heinrich von Kleists bekanntester Komödie Der zerbrochne Krug unaufhaltsam seinen Lauf.
Ein unangekündigter Inspektionsbesuch des Gerichtsrats Walter in Huisum reißt Adam abrupt aus seiner Unbekümmertheit. Um sich ein Bild des hiesigen Gerichts machen zu können, drängt dieser ihn umgehend, den Amtstag zu eröffnen. Unter großem Geschrei und Pöbeleien betreten beide Parteien, Klägerin Marthe Rull (Gabriele M. Püttner) und ihre Tochter Eve (Marta Dittrich), sowie die Angeklagten Ruprecht Tümpel (Christian Holm), Eves Verlobter, samt Vater Veit (Lutz Jesse), die Gerichtsstube. Gegenstand der Verhandlung ist Marthes altehrwürdiger, reich verzierter und über Generationen hinweg vermachter Krug, der nach dem nächtlichen Besuch eines noch Unbekannten in Eves Zimmer zu Bruch ging. Aus Anstand und Sorge um ihren Verlobten verweigert sie jedoch eine klare Aussage und initiiert so ein heilloses Durcheinander aus Anschuldigungen und Unschuldsbeteuerungen, in dem Adam, wie die Namenskonstellationen bereits vermuten lassen, mehr als nur Richter ist.
„In eurem Kopf liegt Wissenschaft und Irrtum geknetet, innig, wie ein Teig, zusammen; Mit jedem Schnitte gebt ihr mir von beidem.“
In seiner Funktion als Ordnung schaffende, autoritäre Instanz, die durch rationale Abwägung der vorgebrachten Indizien und Umstände zu einem objektiven, allgemein anerkannten Urteil gelangen soll, scheitert Richter Adam aber an allen Fronten. Der Verlust seiner Perücke beraubt Adam zunächst nicht nur eines Teils seiner richterlichen Würde, sondern gibt auch die klaffenden Wunden an seinem Schädel preis, und in ihnen jene Menschlichkeit und Fehlbarkeit, die Autoritäten generell durch ästhetische Konventionen zu verleugnen suchen. So ist er zwar der Mittelpunkt der Geschehnisse, jedoch zu keiner Zeit in der Lage, den Wirrwarr aus Subjektivitäten, mit dem er sich konfrontiert sieht, in Absehung seiner persönlichen Interessen zu entflechten. Lediglich der Gerichtsrat Walter ist in der Lage, durch das Befolgen der formalen Prozeduren und das Walten seines Amtes, objektiv zu urteilen und das Gewirr aus individuellen Absichten und Forderungen in gemäßigte Bahnen zu lenken.
Wirkt das auf der Bühne entstehende Chaos zunächst absurd und belustigend, beschleicht den Zuschauer schnell das Gefühl, dass hinter Adams witziger Zerstreutheit mehr steckt als nur ein tiefer Blick ins Glas. Seine innere Unruhe und Angespanntheit verleihen einzig seinem Bedürfnis, alle Verdachtsmomente gegen seine Person zu vertuschen und mit heiler Haut davon zu kommen, Ausdruck. Ironischerweise äußert sich Adams Selbsterhaltungstrieb gerade nicht in martialischen Gesten des nackten Überlebens, sondern allein im Versuch, sich der Verantwortung für seine Taten zu entziehen. Der Verantwortung, für deren öffentliche Zuschreibung und Ausführung sein Richteramt ursprünglich Sorge zu tragen hätte. Somit werden Adams Korruptions- und Boykottierungsversuche des Verfahrens zur paradoxen Leugnung seines Selbst. Dass Kleist Adams Menschlichkeit darüber hinaus als entscheidenden Schwachpunkt und Auslöser erbärmlicher Bestechungsversuche skizziert, wirft einen langen und düsteren Schatten über die „schönen Seelen“ seiner Zeit und auf die Ideale von Vernunft und Rationalität.
Klassische Inszenierung hebt (post)moderne Aspekte des Kleistschen Lustspiels hervor
Neben Kleists gekonnter Verknüpfung tragischer und komischer Elemente zeichnet Der zerbrochne Krug noch etwas anderes aus: sein Tempo, sein Rhythmus. Von Anfang bis Ende befinden sich die Figuren in Bewegung, ohne dass es längere Monologe gäbe. Dennoch bietet das Stück genügend Raum, in kurzen Gesten und Blicken Absichten, Gefühle und Pointen zu vermitteln, und gerade letztere stellen immense Anforderungen an das Ensemble. Besteht die Aufgabe des Schauspielers darin, die Illusion des Unbewussten und Neuen im Bewussten Darstellen aufrecht zu erhalten, so können bereits kleinste Risse und Brüche dieser Illusion die auf der Bühne dargestellte Scheinwirklichkeit zerstören.
Wirft man einen Blick auf das Manuskript des Stücks wird weiterhin deutlich, mit wie viel Augenmerk und Feingefühl Matthias Nagatis (Inszenierung), Henning Schaller (Bühne und Kostüm) und Anja Nicolaus (Dramaturgie) Kleists Klassiker auf die Greifswalder Bühne übertragen haben. Anstatt durch häufige Regieanweisungen die Pointen zu lancieren, quillt Kleists Skript über von Kommata, Semikola und Gedankenstrichen, aus denen die sprachlichen Farben und entsprechenden Gesten mühsam interpretiert werden müssen. Umso gelungener ist die Idee des willkürlich tragbaren Zeugenstands. Zum einen lockert dieser durch seine Verrückbarkeit das fixe Bühnenbild auf und verstärkt das chaotische Treiben auf der Bühne, gleichzeitig illustriert er die Manipulierbarkeit und Subjektivität der Wahrheit. Neben dem positiven Gesamteindruck des Ensembles, in dem die vermeintlichen Nebendarsteller, wie zum Beispiel Jörg F. Krüger als Gerichtsschreiber Licht, statt flacher Vorlagengeber und blasser Kulisse zu mitunter hitzigen Motoren der Handlung werden, sind es vor allem Marco Bahr (Walter) und Jan Bernhardt (Adam), deren schwereloses Spiel die bröckelnden Fassaden und schwelenden Konflikte der Figuren gewandt und doch unausweichlich zum dramatischen Höhepunkt trägt.
Fazit – Anschauen!
Nun, und was bleibt am Ende? Auch wenn Kleist selbst sein Stück als Lustspiel bezeichnet hat und am Schluss alle Konflikte gelöst scheinen, will ein bitterer Nachgeschmack nicht weichen. Zwischen dem oberflächlichen Klamauk und den amüsanten, sprachlichen Feinheiten verstand es Kleist meisterlich, seine Handlung und Symbolik mit tragischer Tiefe präzise und subtil anzureichern, ohne dass sich diese dem Zuschauer, wie in vielen deutschen Tragödien üblich, unangenehm aufdränge. Zur tragischen Erkenntnis des zerbrochenen Kruges gesellt sich allerdings noch das Bedauern des tragischen Todes Heinrich von Kleists im zarten Dichteralter von 34 Jahren. Als „Erfinder“ und Meister der Deutschen Komödie steht Kleist seinen berühmteren Zeitgenossen kaum nach, und so bleibt leider auch das Bedauern über den frühen Tod eines der größten Meister des deutschen Theaters. Umso erfreulicher ist es jedoch, dass man nun, dank der aufmerksamen Arbeit des Theaters Vorpommern, in Greifswald die Möglichkeit hat, sich Kleists Klassiker ohne Abstriche anschauen kann, und sollte.
Anmerkung: Wer sich Kleists Meisterwerk vorm Theaterbesuch noch einmal durchlesen möchte, um sich eventuell weitere Gedanken, als die oben dargestellten machen zu können, hat hier die kostenlose Möglichkeit.
Nächste Vorstellungen:
- Sa 14. Mai, 19.30 Uhr, Greifswald (Großes Haus)
- So 29. Mai, 16.00 Uhr, Greifswald (Großes Haus)
Fotos: Vincent Leifer (Theater Vorpommern)