K. Spiess:"Stuttgart 21 hat das Vertrauen in die Polizei erschüttert."

„Die Mehrheit der Polizisten macht ihre Arbeit gut. Es gibt jedoch Vorwürfe, dass Menschen von der Polizei misshandelt werden. Deswegen empfehlen wir, dass jeder Polizeibeamte individuell gekennzeichnet sein sollte, entweder mit Namen, oder mit einer Nummer, damit jeder Polizeibeamte individuell zur Verantwortung heran gezogen werden kann. Gleichzeitig würde die individuelle Kennzeichnungspflicht jene Polizisten schützen, die ihre Pflicht verantwortungsbewusst wahrnehmen.“ Polizeigewalt. Das war das Thema einer Podiumsdiskussion, zu der der AKJ, Arbeitskreis kritischer JuristInnen am vergangenen Montag eingeladen hatte. Die zitierten Worte stammen von Katharina Spiess, der Kampagneleiterin von Amnesty International. Sie führte unter anderem mit diesen Worten in die Problemdiskussion ein. Der Hörsaal eins des Audimax war mit etwa 150 Besuchern bis auf den letzten Platz gefüllt.

Neben Katharina Spiess saßen noch Tobias Singelstein von der Freien Universität Berlin sowie Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft mit im Podium. Moderiert wurde die Veranstaltung von Kirstin Drenkhahn, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ernst-Moritz-Arndt Universität tätig ist. In ihren Einleitungsworten nannte Spiess einige Beispiele, wo Polizisten gegen das Gesetz verstießen und gegenüber Bürgerinnen und Bürgern gewalttätig wurden. Auffällig war dabei, dass es sich bei sämtlichen als Beispiel erwähnten Akten der Polizeigewalt um Übergriffe auf Migranten handelte.

Polizisten ermitteln gegen sich selbst

Singelstein unterstützte die Thesen der Aktivistin von Amnesty International und erläuterte, dass Polizeigewalt oftmals gar nicht als solche erkannt würde, weil die Grenzen zwischen Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit polizeilicher Handlungen fließend seien. Wird jemand Opfer von Polizeigewalt, so seien die Aussichten auf ein erfolgreiches Verfahren im Sinne des Opfers besonders gering. Die Quote der freigesprochenen Polizisten liege bei 95 Prozent. Darauf aufbauend argumentierten Singelstein und Spiess, dass die Justiz nicht unabhängig von der Polizei arbeite. „Insbesondere, wenn Menschen zu Tode gekommen sind, hat sich die Justiz recht schnell auf die Seite der Polizei gestellt und zunächst die Schuld von dieser verwiesen“, so Spiess gegenüber dem Publikum. Darüber hinaus seien Amnesty International Fälle bekannt geworden, wonach beschuldigte Polizisten oft gegen sich selbst, oder Kollegen gegen Kollegen ermittelten. Dies verstoße gegen die Unabhängigkeit der Ermittlungen. Zudem würden Ermittlungen gegen die Polizei oft nur sehr zögerlich aufgenommen. Singelstein nannte außerdem als Problem, dass Betroffene oftmals Angst davor hätten, zur Polizei zu gehen und Polizisten anzuklagen. Zeigt der Betroffene Polizeigewalt an und es komme zu einer Verhandlung, so könne man in den meisten Fällen eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation beobachten. Werden dann noch zusätzliche Zeugen heran gezogen, handelt es sich nicht selten ebenfalls um Polizisten. Diese verhielten sich in der Regel zu Gunsten des Angeklagten. Als Ursachen nannte Singelstein Corpsgeist und innerpolizeilichen Druck.

Bei Polizeigewalt handelt es sich um „bedauerliche Einzelfälle“

Das Podium: Tobias Singelstein, Rainer Wendt, Kirstin Drenkhahn, Katharina Spiess (vlnr.)

Polizeigewerkschafter Rainer Wendt wies hingegen sämtliche Vorwürfe zurück. Bei Polizeigewalt handele es sich um bedauerliche Einzelfälle. Aus diesem Grund sehe er auch keinen  Anlass für eine Kennzeichnungspflicht von Polizisten. Gerade bei Demonstrationen seien mit Namen gekennzeichnete Polizisten nicht mehr vor polizeifeindlich eingestellten Demonstranten, die zumeist „aus dem linken und rechten Spektrum stammen“, geschützt. „Dass Strafanzeigen gegen Polizisten gestellt werden, gehört zum Berufsalltag“, erläuterte Wendt weiter. Gegen ihn selbst seien insgesamt 80 bis 120 Strafanzeigen gestellt worden. Sämtliche Verfahren gegen ihn seien unbegründet gewesen und eingestellt worden. Der Polizist verwahrte sich entschieden dagegen, dass die Ermittlungen gegen Polizeibeamte schleppend verlaufen würden. „Wir haben ein erhöhtes Interesse, dass Ermittlungen schnell erfolgen.“ Schließlich hinge von den Ermittlungen der zukünftige Karriereweg eines Polizisten ab.

Die hohe Freispruchquote bei eingeleiteten Verfahren bewertete Wendt erwartungsgemäß anders: „Es zeigt, dass das Ausmaß rechtswidriger Handlungen der Polizei nicht so hoch ist, wie eigentlich angenommen wird.“ Zu dem Vorschlag von Katharina Spiess, eine unabhängige Ermittlungskomission, die über von der Polizei ausgehende Straftaten aufklärt, meinte Wendt, dass die „Polizeigewerkschaft gegen eine unabhängige Komission“ sei. „Wir wissen nicht, was diese besser machen könnte, als staatliche Behörden.“ Den einzigen Konsens zwischen Amnesty International und der Polizeigewerkschaft gab es in dem Punkt, dass sich beide für Fortbildungsmaßnahmen zum Thema Menschenrecht aussprachen. Während die Aktivistin von Amnesty-International davon sprach, dass sich rechtswidrige Übergriffe von Seiten der Polizei um die fünf Prozent bewegen, meinte Wendt, Polizeigewalt bewege sich im „Promillebereich“. In seinem Statement sprach er sich ganz klar gegen eine Kennzeichnungspflicht von Polizisten aus und wies den Vorwurf eines vorherrschenden Corpsgeistes innerhalb der Polizei zurück: „Kollegen achten sehr Wohl darauf, dass es nicht zu rechtswidrigen Übergriffen kommt. Daher gibt es keine Rechtfertigung dafür, alle Polizisten mit der Kennzeichnungspflicht unter Generalverdacht zu stellen.“

Wendts Äußerungen vom Publikum kritisch hinterfragt

Das Publikum schoss sich in der anschließenden Debatte relativ schnell auf den Polizeigewerkschafter Rainer Wendt ein. Einige Teilnehmer der Diskussion bezweifelten, dass es sich bei von Polizisten ausgehenden Straftaten um Einzelfälle handeln würde. So habe ein Veranstaltungsbesucher bereits acht mal Anzeige wegen Beleidigung und Körperverletzung gestellt. Einmal sei von der Polizei aus sofort eine Gegenanzeige gestellt worden. In dem Moment, als der Betroffene seine Anzeige zurückzog, folgte von Seiten der Polizei ebenfalls ein Rückzug der Gegenanzeige. „Das ist das beste Beispiel, wie korrupt es bei der Polizei zu geht. Und auch bei den Äußerungen von Herrn Wendt handelt es sich eher um Ausreden, damit sich die Polizei weiter im rechtsfreien Raum bewegen kann“, macht der Betroffene seinem Unmut Luft.

Rainer Wendts Äußerungen ernteten bei vielen Besuchern, so auch von diesem, Kritik.

„Ich bin ein Extremist“, meinte ein anderer ironisch zum Polizeigewerkschafter. „Ich bin extrem friedlich. Und ich glaube der Polizei kein Wort. Wir sollen Ausweise bekommen, bei denen Polizisten im Vorbeigehen diese lesen können. Warum wehren Sie sich dann im Gegenzug so gegen die Kennzeichnungspflicht?“ Wendt fand auf diese Frage nur sein bereits Eingangs erwähntes Argument, man würde damit alle Polizisten unter Generalverdacht stellen. Ein Besucher meinte darauf hin, dass Generalverdacht im Zuge der Vorratsdatenspeicherung, für die sich die Polizei stark machte, permanent stattfinde. „Niemand wird hier unter Genralverdacht gestellt“, meinte Wendt kurz und knapp dazu.

Diskussion um Kennzeichnungspflicht ist Hauptthema

Nachdem sich zahlreiche Besucher mehrere Male für die Kennzeichnungspflicht von Polizisten aussprachen, kamen auch einzelne Redebeiträge, die sich eindeutig dagegen aussprachen. „Die Linksextremisten im Schanzenviertel und in Kreuzberg werden schließlich auch nicht gekennzeichnet“, polemisierte ein Gegner der Kennzeichnungspflicht am Ende seiner Rede. Insgesamt wurde die Publikumsdebatte zunehmend emotionaler geführt. So wurde plötzlich davon gesprochen, dass die Ablehnung der Kennzeichnungspflicht für Polizisten „eine Arroganz der Mächtigen“ darstelle. „Wenn man politisch engagiert ist in diesem Staate, kommt man immer in Konflikt mit der Polizei. Wenn ich mich im System bewege, dann bin ich nicht Polizeirepressionen ausgesetzt, aber wenn ich demonstriere, muss ich mich dem aussetzen“, wurde der Polizei in Stellvertretung durch den Bundesvorsitzenden der Polizeigewerkschaft vorgeworfen. Dieser wies diese Behauptung entschieden zurück: „Wer sich im Rahmen der Gesetze bewegt, wird niemals in Konflikt mit der Polizei geraten.“ Wenngleich sich Wendt am Ende der Diskussion insgesamt enttäuscht zeigte, dass er mit seinen Argumenten nur einen kleinen Kreis der Zuschauer erreichen konnte, verwies er in seinen Schlussworten darauf hin, dass in der Zwischenzeit ein Dialog zwischen der Polizei und Amnesty International zustande gekommen sei. Zudem wolle die Gewerkschaft in Zukunft der Frage auf den Grund gehen, welche Strukturen innerhalb der Polizei zu „dem einen oder anderen Übergriff führen.“

Fotos: Marco Wagner