Kurz vor zehn, das Licht geht aus. Kein Vorhang, der fällt. Unentschlossenes Klatschen ertönt zaghaft von vereinzelten Sitzen. Das Licht geht wieder an. Endlich lösen die Darsteller durch unsichere, nach Rückmeldung suchende Blicke, die beklemmend-intensive, den Raum erfüllende Spannung. Es ist offensichtlich, dass die letzten neunzig Minuten an keinem der Beteiligten, weder Publikum noch Schauspielern, spurlos vorbei gegangen sind.
Dabei beginnt die Handlung des Stückes unspektakulär: In einem von Bürgerkrieg beherrschten Land treffen sich der krebskranke Lokaljournalist Ian (Jan Bernhardt) und seine ehemalige Geliebte Cate (Elke Zeh) in einem Hotelzimmer. Er will mit ihr schlafen, sie sucht Geborgenheit und Zuwendung.
Wieder einmal das Thema gestörter Alltagskommunikation zwischen Mann und Frau? Nicht ganz: Nachdem Cate mehrmals Ians Annäherungsversuche ablehnt, vergewaltigt dieser sie schließlich. Plötzlich dringt der Bürgerkrieg in das private Geschehen. Nahe dem Hotel detoniert eine Granate, kurz darauf stürmt ein Soldat (Katja Klemt) in das Zimmer und das private Machtgefüge wird gesprengt, denn der vom Krieg gezeichnete Soldat ist vielmehr der Auslöser eines verstörenden Gewaltszenarios als ein Heilsbringer.
Entfremdete Gewalt
Ziemlich schnell wird klar, dass „Zerbombt“ entgegen seines Titels kein weiteres Drama über den Krieg darstellt, sondern – zugleich allgemein und intim – mittels Gewalt das Bild des Menschen skizziert. Ähnlich der Griechischen Tragödie werden hier Abgründe des menschlichen Handelns schonungslos offen gelegt. Die geschickte Erzählweise bewahrt das Stück allerdings davor, in ein bloßes Gewaltspektakel zu verfallen, die Gewalt bricht sich nicht auf der Bühne Bahn, sondern wird entfremdet, lediglich skizziert. Es ist die Vorstellungskraft des Zuschauers, welche die Ausmaße der Gewalt bestimmt, sie tobt im Inneren, der Übergang ist fließend.
Auf bemerkenswerte Weise wird „Zerbombt“ (engl. Originaltitel: „Blasted“ ~ gesprengt) seinem Titel gerecht, indem es bestehende Grenzen aufbricht. Innen und Außen gehen ineinander über, die öffentliche Gewalt, in Form des Bürgerkriegs, scheint erst durch den privaten Gewaltakt der Vergewaltigung beschworen, und ist ihrerseits wieder Auslöser privater Gewalt.
Feinfühlig und ausdrucksstark
Sind die Motivationen der Charaktere zu Beginn des Stückes klar differenziert, so stellt der Krieg die individuelle Moral in ihren Grundfesten in Frage. Die Moral verschwindet, das Überleben zählt. Doch nicht nur die Moral der handelnden Personen wird auf die Probe gestellt, sondern auch die des Zuschauers. Wie viel ist man bereit hinzunehmen, wie viel kann man ertragen? Zweifellos werden hier die moralischen Grenzen eines jeden Einzelnen ausgetestet und überschritten. Indem der Bühnenaufbau dem Zuschauer ermöglicht, die Reaktionen seiner Mitmenschen ihren Gesichtern ablesen zu können, wird der Einzelne selbst zum Darsteller. In den Gesichtern der Anderen spiegeln sich die eigenen Emotionen.
Dass „Zerbombt“ überhaupt erst in der Lage ist, so polarisierend zu wirken, verdankt die Greifswalder Inszenierung vor allem der Aufmerksamkeit, mit der das Original erfasst wurde, dem Feingefühl, mit dem es arrangiert wurde, und der Ausdrucksstärke, mit der die Schauspieler dem Stück Leben einhauchen.
Die Frage, was für ein Menschenbild Sarah Kane in ihrem Erstlingswerk zeichnet, bleibt jedem selbst zu beantworten. Ist es das eines gewalttätigen Psychopathen oder steckt womöglich mehr hinter der inszenierten Gewalt? Wer bereit ist, seine eigene Moral nicht dominieren, sondern sich auf „Zerbombt“ einzulassen, wird die zarte Poesie erkennen, die ab und an durch die Trümmer und Scherben des Stückes schimmert. So bewegt sich „Zerbombt“ permanent zwischen Abscheu und Faszination.
Die nächsten Vorstellungen im Theater Vorpommern:
Mittwoch, 19. Mai, 20:00 Uhr, Greifswald
Mittwoch, 16. Juni, 20:00 Uhr, Greifswald
Bildquelle
Fotos – Vincent Leifer
Herr Kremser, das liest sich wirklich gut und macht Lust auf das Stück. Ich würde mich freuen wenn sich mit Felix Kremser endlich ein "Qualitätsstandard für Kritiken" etabliert…
Diese ist absolut gelungen und für mich die Beste je auf dem Webmoritz gelesene…
Ja, dem stimm ich zu. Wirklich sehr gelungen geschrieben & macht Lust auf das Stücke. Gute Werbung, gute Auseinandersetzung.
Der Artikel mag sich wie gute Werbung für das Stück lesen, leider hält die Vorführung dann nicht, was versprochen wird.
Auch ich bin mit gewissen Erwartungen in das Stück gegangen – und wurde irgendwie enttäuscht. Die Inszenierung ist durchaus gelungen, viele zynische Momente, Popmusik zur Vergewaltigung etc.
Das hinterlässt schon ein mulmiges Gefühl. Ich muss aber sagen, dass ich vom Stück an sich mehr oder minder enttäuscht bin. Oder wollte Sarah Kane mir das mitteilen? Dass ich abgestumpft bin, Gewalt ohne weiteres Wimpernzucken konsumieren kann? Sicherlich steht der Plot nicht im Mittelpunkt, trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sich Kane zwischen "Ficken, ficken", "Schlampe, Scheiße Scheiße" und dem Abbeißen und Aufessen von Augen bzw. Kleinkinderkörperteilen verloren hat.
Sorry, wie grausam die Welt ist und was Menschen anderen Menschen antun können – dazu reichen ein paar Klicks im Internet. Wer heute uns heute zum Thema Gewalt den Spiegel vorhalten will, muss nicht mit Erdbeerjoghurt rumspritzen! Dann lieber einen Plot und Figuren wie im Film "funny games". Das hat mich auf jeden Fall nachhaltiger verstört, als diese Orgie in weiß.
Trotzdem nochmal großes Lob für die Inszenierung und an die Darsteller!