Das umstrittene Steinkohlekraftwerk Lubmin ist trotz des Rückzugs des dänischen Investors Dong Energy am 11. Dezember 2009 und des darauffolgenden Jubels der Kraftwerksgegner noch nicht zu Grabe getragen.

Wie in den letzten Wochen mehrfach den Medien zu entnehmen war, läuft das Genehmigungsverfahren weiter. In einer Pressemitteilung von Dong Energy heißt es: „Während dieser Phase beabsichtigt die Projektgesellschaft, keine Schritte zu unternehmen, die der Realisierung des Kraftwerksprojekts entgegenstehen. Insbesondere werden die gestellten Genehmigungsanträge nicht zurückgezogen“.

Die Projektgesellschaft gibt es nach wie vor.

Die Projektgesellschaft Kraftwerke Greifswald, an der Dong Energy 74,9 Prozent der Anteile hielt, die Frankfurter Aktiengesellschaft WV Energie das restliche Viertel, sucht aktiv nach weiteren Investoren. Äußern will man sich dazu aber derzeit nicht: Ein Sprecher der WV Energie, auf deren Website das Projekt noch in der alten Form mit DONG als Hauptbeteiligtem zu finden ist, teilte mit, es würden aufgrund des noch laufenden Ausstiegsverfahrens derzeit keine Auskünfte an die Medien gegeben.

Nach den Worten des Dong-Sprechers Michael Deutschbein ist der Rückzug des dänischen Investors mit einem „Mangel an Unterstützung auf politischer Ebene“ zu begründen. Der folgende Strategiewechsel Dongs sei ein „normaler Prozess in der Projektentwicklung“. Sowohl die WV Energie als auch Deutschbein wollten keine näheren Angaben zum laut Ostseezeitung „unübersichtlichen Firmengeflecht“ von Dong Energy in der Region machen, welches aus der Projektgesellschaft, der Kraftwerke Greifswald GmbH&Co.KG sowie der Kraftwerke Greifswald Verwaltungs-GmbH und der Kraftwerke Greifswald Beteilgungs-GmbH besteht. Deutschbein betonte gegenüber dem webMoritz lediglich: „Es geht hier durchaus alles mit rechten Dingen zu“.

Genehmigungsbehörde: Verfahren wird derzeit nicht aktiv weitergeführt

So viel Dreck wie in dieser Darstellung der Kraftwerksgegner würde das Kraftwerk wohl nicht ausstoßen.

Laut Horst Wroblewski, Amtsleiter der Staatlichen Ämter für Umwelt und Natur (StAUN) Stralsund und Ueckermünde, ist das Genehmigungsverfahren zwar nicht beendet, wird aber derzeit auf Bitte der Antragstellerin auch nicht aktiv weitergeführt. „Wir warten momentan darauf, dass sich die Projektgesellschaft positioniert“, so der Leiter. Es handele sich zudem nicht um ein Einzelverfahren. Vielmehr seien Genehmigungen im Bereich des Bundesemissionsschutzgesetzes, des Naturschutzes, der Nutzung des Boddens, der Grundwasserabsenkung für Kraftwerksbau und -betrieb sowie je nach noch ausstehenden Unterlagen des Artenschutzes notwendig. Jedes dieser Verfahren sei nur genehmigungsfähig, wenn auch die anderen es sind.

Wenn die Anstragsteller zu zahlreichen Punkten wie etwa dem Artenschutz noch fehlende Unterlagen nachreichten, würde das Verfahren noch etwa ein Dreivierteljahr beanspruchen, schätzt der Amtsleiter: „Was wir hier machen, ist umweltschutzrechtlich europäische Spitzenliga. Es sind einerseits sehr viele Richtlinien zu beachten, andererseits gibt es auch Fragen, die derzeit noch nicht ausreichend geklärt sind oder in denen wir uns an aktuellen Gerichtsbeschlüssen orientieren müssen. Nach dem derzeitigen Stand der naturschutzfachlichen Unterlagen wäre das Projekt nicht genehmigungsfähig“.

Erhebliche Mehrkosten gegenüber ursprünglicher Planung

Oskar Gulla

Sollte das Steinkohlekraftwerk genehmigt und genügend Investoren gefunden werden, würden sich bei Inbetriebnahme erhebliche Mehrkosten gegenüber dem ursprünglich geplanten Betreibungsbeginn ergeben. Ab dem Jahr 2013 müssen Energiekonzerne den vollen Preis für CO2-Zertifikate zahlen. Hinzu kommen Kosten für die Vorratseinspeisung.

Oskar Gulla, Vorsitzender der Bürgerinitiative „Kein Steinkohlekraftwerk in Lubmin“ Greifswald formulierte diese Schwierigkeiten für den Steinkohlekraftwerksbau gegenüber dem webMoritz so: „Bei der Ankunft Dongs war die Hürde für den Kraftwerksbau 70 Zentimeter hoch. Jetzt ist sie zwei Meter höher“. Das liege nicht nur an den Mehrkosten, sondern auch an der Arbeit der Kraftwerksgegner sowie den zahlreichen Umweltauflagen, ist sich Gulla sicher.

Sowohl ökologisch wie auch ökonomisch könne kein Konzern den Kraftwerksbau noch rechtfertigen, sagt der Greifswalder. Sollte wider den derzeitigen Erwartungen das Genehmigungsverfahren dennoch positiv für den Bau des Kraftwerks ausfallen, so seien die Bürgerinitiativen noch immer zu einer Klage bereit. Diese könnte den Baubeginn noch erheblich verzögern.

Ein Gutachten des emerittierten Greifswalder Wirtschaftsprofessors Manfred Jürgen Matschke zur Wirkung des Kraftwerks auf die (regionale) Wirtschaft sei nur ein müdes Lächeln wert, sagte Gulla. Matschke hatte im Februar eine Untersuchung im Auftrag des Rats für Technik, Energie und nachhaltige Entwicklung im Unternehmerverband vorgelegt, die zu dem Schluss kommt, hätte ein Kraftwerksbau erhebliche positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung in der Region.

„Professor Matschke muss dieser Region böse sein.“, konstatiert Gulla. Auch bei anderen Gegnern des Kraftwerks wie den Greifswalder Grünen stieß Matschke auf scharfe Kritik. Es handle sich um „Stammtisch-Gaukeleien“, Matschke sei nicht ernst zu nehmen. Gulla sagte dem webMoritz, seiner Ansicht nach würden durch ein Steinkohlekraftwerk insgesamt rund 300 Arbeitsplätze in einer Region entstehen, in welcher mithilfe regenerativer Energieerzeugung 3.500 möglich wären. Gulla abschließend: „Jetzt ist die Politik gefragt. Der Platz sollte so schnell wie möglich anderen Unternehmen zur Verfügung stehen.“

Professor Matschke nahm zu den Vorwürfen Stellung gegenüber dem webMoritz. Da er darauf besteht, dass seine Antworten an dieser Stelle vollständig wiedergegeben werden, folgen diese nun in Interviewform:

Interview mit Professor Matschke

Professor Manfred J. Matschke

webMoritz: Zunächst wäre es sehr interessant, warum Sie dieses Gutachten übernommen und in wessen Auftrag.

Prof. Matschke: Man hat mich im August 2009 gefragt, und ich habe nach Klärung der Voraussetzungen im Oktober 2009 den Auftrag angenommen, weil es keinen sachlichen Grund gibt, einen Auftrag zu einer regionalwirtschaftlichen Analyse eines bedeutenden Investitionsvorhabens nicht anzunehmen. Der Auftraggeber war der Rat für Technik, Energie und nachhaltige Entwicklung im regionalen Unternehmerverband.

webMoritz: Sie nennen vorab ja einige Aussagen, die diejenigen des Investors DONG noch übertreffen. Sind dies Schätzungen oder schon genaue Berechnungen? Worauf basieren sie?

Matschke: Der Investor hat sicherlich keine regionalwirtschaftliche Analyse durchgeführt. Ein Ausschreibungsverfahren gab es auch noch nicht. „Versprechungen“ des Investors kenne ich nicht. Sie wären für mich als Gutachter auch bedeutungslos gewesen. Meine Kernaussagen sind Ergebnisse von Berechnungen auf Basis von Input-Output-Analysen, Multiplikatoranalysen, Variantenrechnungen sowie Monte-Carlo-Simulationen. Diese Berechnungen beruhen – soweit inhaltlich erforderlich – auf Angaben des Investors, die auf ihre Plausibilität überprüft wurden, ferner auf einer im Auftrag der Landesregierung Nordrhein-Westfalen erstellten umfangreichen Studie zu Kraftwerksinvestitionen und vielen weiteren statistischen und literarischen Informationen.

Hinsichtlich der deutschlandweiten Input-Output-Analysen beruhen die Berechnungen auf volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen des Statistischen Bundesamtes und dessen Veröffentlichungen zu so genannten Leontieff-Inversen, die man für Input-Output-Analysen benötigt. Es sind Matrizen mit 71 Zeilen und 71 Spalten, die die volkswirtschaftlichen Sektoren und deren Verflechtungen in 5.041 Koeffizienten abbilden. Grundlage der M-V-bezogenen Input-Output-Analysen ist eine Forschungsarbeit, deren Brauchbarkeit und deren Konsistenz zur deutschlandweiten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung von mir überprüft wurden. Vergleichbare volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen und Leontieff-Inversen wie auf Bundesebene stellt das Statistische Landesamt für M-V nicht zur Verfügung. Solche gibt es übrigens für die meisten Bundesländer nicht.

webMoritz: Abschließend: Wie stehen Sie selbst zu diesem Projekt?

Matschke: Meine Aufgabe war eine gutachterliche Sachaussage, nicht eine politische Meinungsäußerung. In der Politik agiert man für mich zu sehr auf Basis von „Meinungen“ – der eine meint halt das, der andere eben was anderes – und zu wenig auf Sachaussagen. Basisannahmen waren für mich die Genehmigung nach dem Bundesimmissionschutzgesetz und der nachfolgende Bau durch den Investor. Man kann schließlich keine regionalwirtschaftliche Analyse machen, wenn man nicht voraussetzt, dass es zur Investition kommt. Aus meinen gutachterlichen Sachaussagen ergibt sich, dass die Kraftwerksinvestition und die damit verbundenen und mir bekannten Folgeinvestitionen etwa im Bereich des Umweltschutzes und der Ausgleichsmaßnahmen aber auch des Schiffbaus in der Bauphase von herausragender regionalwirtschaftlicher Bedeutung für Mecklenburg-Vorpommern gewesen wären. Dieses Gesamtinvestitionsvolumen in der etwa vierjährigen Bauphase macht das 7,2-fache des Investitionsvolumens der Universitäts- und Hansestadt Greifswald und des Landkreises Ostvorpommerns zusammen im Zeitraum von 2007 bis 2010 aus. Das beträgt auf Basis von Istgrößen für die Jahre 2007 und 2008 und von Plangrößen für die Jahre 2009 und 2010 zusammen 122,4 Millionen Euro. Der berühmte „Peanuts-Maßkrug“ vom Chef der Deutschen Bank Ackermann im Umfang 50 Millionen Euro würde also fast 18 Mal gefüllt werden können. 🙂

Der Übernachtungsbedarf der bis zu 1500 Beschäftigten auf der Baustelle wird von mir auf rund 642.000 Übernachtungen in der Bauphase geschätzt. Bei einem Übernachtungspreis von 25 Euro pro Übernachtung sind das etwa 16 Millionen Euro. Das ist mehr als das 10-fache des Umsatzes des statistisch erfassten Gastgewerbes in Lubmin im Jahr 2008, der von mir auf Basis von 34.111 Übernachtungen und einem geschätzten durchschnittlichen Übernachtungspreis von 45 Euro pro Übernachtung auf ungefähr 1,54 Millionen Euro geschätzt wird. Im Jahr 2008 hatte dieses Gastgewerbe in Lubmin eine jahresdurchschnittliche Auslastung von ca. 23 Prozent der Bettenkapazität. Schade, dass man nicht hört, wie laut die Betten in der Region, nicht bloß in Lubmin, schreien: „Wir stehen leer!“

Die direkten Beschäftigungswirkungen in der Betriebsphase entsprächen derjenigen des gesamten Konzerns der Stadtwerke Greifswald, also von der Holding über die Gas-, Strom-, Fernwärme-, Wasserversorgung, der Entsorgung, des Verkehrsbetriebs, ferner von BIG-Bildungszentrum und Schwimmbad. Sind das Peanuts?

Der webMoritz hatte Profesor Matschke übrigens schon einmal zu seiner Haltung zum Kraftwerksprojekt befragt – damals allerdings als Kandidaten bei der Kommunalwahl und nicht als Wissenschaftler. Damals sagte er auf die Frage, was er von den Plänen des Investors halte unter Anderem:

„Ich stehe […] dem Umweltschutzgedanken sehr aufgeschlossen gegenüber. In der Vorlesung habe ich den Studenten unter anderem beigebracht, dass das, was jetzt mit Blick auf das Kraftwerk in Lubmin abläuft, ein Genehmigungsverfahren nach Recht und Gesetz und nicht nach politischem Gusto, also keine politische Geschmackssache, ist. Denn ein Antragsteller hat einen Rechtsanspruch auf Genehmigung, wenn die Genehmigungsvoraussetzungen erfüllt sind.“

Bilder: Screenshot der Betreiber-Homepage (oben) via webMoritz-Archiv, alle anderen: webMoritz-Archiv