Bei Egon Bahrs Vortrag in der Universitäts-Aula wurde es so voll, dass Teile des Auditoriums dem Vortrag per Videoübertragung im Konferenzsaal unter der Aula folgen mussten. Der wichtigste Vertraute Willy Brandts und Architekt der neuen Ost-Politik ab 1969, hielt seinen Vortrag unter dem Titel: „Nach 40 Jahren staatliche Einheit erreicht – nach 20 Jahren innere Einheit verfehlt“.
Eine lange Liste an Erfolgen der Wiedervereinigung zählte Bahr auf, zum Beispiel die Erneuerung von Verkehrswegen, den Ausbau der Kommunikation, die Rettung von Bausubstanz und Kulturgütern – dann jedoch kam das große ,Aber‘: „Unseren eigenen Maßstab, die innere Einheit, haben wir nicht erreicht. Damit sind wir gescheitert.“
Zuvor hatte der 87-Jährige seine Analyse der Lage in West und Ost nach 20 Jahren Wiedervereinigung präsentiert: Die Differenzen zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen lägen seiner Meinung nach daran, dass die Politik bei der Vorbereitung der Wiedervereinigung „die unterschiedlichen Mentalitäten und Strukturen der Gesellschaften nicht richtig berücksichtigt habe.“ Man hätte durchaus das ein oder andere Element der ostdeutschen Gesellschaftsstruktur übernehmen können – etwa bei der Kinderbetreuung. Eigentlich könnten die Ostdeutschen, die den Mauerfall selbst herbeigeführt hätten, stolz auf ihre Leistung sein. Aber eben dieser Stolz sei dann durch die Form der Wiedervereinigung „erdrückt worden“. Und weiter: „Aus Brüdern und Schwestern sind Ossis und Wessis geworden.“
Die jetzige Lage in Ostdeutschland müsse politisch verändert werden, sagte Bahr. Sein ernüchterndes Fazit: „Wenn wir so weitermachen, kann der Osten auch bis 2050 nicht besser werden.“ Selbst eine Rückentwicklung sei möglich.
Grundgesetz oder neue Verfassung?
Zu der Frage, ob die Übernahme des Grundgesetzes richtig gewesen sei, sagte Bahr: Zwar kenne er keine bessere Verfassung als das Grundgesetz, aber dennoch deute Artikel 146 auf die Absicht der Verfasser des Gesetzes hin, dass sich das deutsche Volk irgendwann eine eigene Verfassung gebe – das Grundgesetz sei im Grunde nur eine diktierte Verfassung mit kleinen selbst gestalteten Elementen. Diese neue Verfassung habe aber keine Eile: „Das spielt im Wahlkampf 2009 keine Rolle, 2013 vermutlich auch nicht. Aber vielleicht 2017.“
Bahr erzählte, dass es 1989/90 bei einem Treffen der SPD mit der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP) Harald Ringstorff, später von 1998 bis 2008 Ministerpräsident in Mecklenburg-Vorpommern, gewesen sei, der gesagt habe: „Nach Artikel 23 können weitere Länder der Bundesrepublik beitreten. Mecklenburg-Vorpommern wird das tun.“ Der Artikel 23 ermöglichte damals den Betritt „anderer Teile Deutschlands“ zur Bundesrepublik. Nach der Wiedervereinigung wurde dieser Teil des Artikels abgeschafft, um zu zeigen, dass Deutschland nun komplett sei.
Den Brandt-Satz „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“, kritisierte Bahr, der als engster Vertrauter Brandts galt, indirekt. Er stellte Mauerfall und Wiedervereinigung zwar als nahtlose Konsequenz aus der neuen Ostpolitik ab 1969 dar, gab aber zu: „Auch wenn Brandts das so gesagt hat, haben alle Westdeutschen die Wiedervereinigung verschlafen. Es war eher eine Sturzgeburt als ein Zusammenwachsen.“ Das gilt übrigens auch für Bahr. Er soll laut Bernhard und Hans-Jochen Vogel im November 1989 gesagt haben: „Lasst uns um alles in der Welt aufhören, von der Einheit zu träumen oder zu schwätzen.“
Bahr sprach vor allem über die Ost-Politik
Bahr ließ in seinem Vortrag, dessen größten Teil er für eine Rückblende auf seine Politik und die Politik seiner Partei verwendete, allerdings keinen Zweifel daran, dass die Ostpolitik der sozialliberalen-Koalition Willy Brandts immer auf die Wiedervereinigung hingearbeitet habe. „Als wir 1969 die Regierungsgeschäfte übernahmen, mussten wir feststellen, dass überhaupt keine Planungen für eine Wiedervereinigung in der Schublade lagen“, sagte er.
Das Verhandeln mit der DDR habe man schon vor der Kanzlerschaft Brandts in der Mitte der 60er-Jahre geübt, als man vom Berliner Senat (Brandt war damals regierender Bürgermeister Berlins, Bahr sein Sprecher) aus mit der DDR über das Passierscheinabkommen verhandelt habe. In den 60er-Jahren habe die Politik erkennen müssen, dass den Siegermächten des Weltkriegs die Zivilbevölkerung Deutschlands im Grunde egal gewesen sei: „Und so schlimm war die Mauer für die Siegermächte ja auch nicht.“ Daher habe der Berliner Senat die Verhandlungen mit der DDR selbst gesucht. „Für uns gab es damals dann ganz andere Probleme. Wir durften die DDR nicht beim Namen nennen, weil die Bundesrepublik den Staat nicht anerkannte. Ich habe daher immer von „der anderen Seite“ gesprochen. Da wussten die dann, was gemeint war und konnten nicht beleidigt sein.“
Manchmal klang ein bisschen Wahlkampf an
Auch die aktuelle Politik spielte gelegentlich eine Rolle. Hin und wieder hatte man im zweiten Teil der Rede den Eindruck, Bahr mache auch Wahlkampf für seine Partei. So schimpfte er über die Rede der Kanzlerin zum CDU-Wahlprogramm: „Merkel sagt, die CDU mache immer das, was sie sage. Das ist unsinnig, gelinde gesagt.“
In der Fragerunde nach dem Vortrag zeigte sich der Alt-Politiker äußerst redselig. Als Rektor Westermann, der Bahr zuvor dafür gedankt hatte, die 40 vereinbarten Minuten Redezeit etwa um die gleiche Zeit überzogen zu haben, die dritte Publikumsfrage mit den Worten einleitete: „Und das ist dann die letzte Frage“, quittierte Bahr das mit einem grummeligen „Na ja“ – an ihm solle das aber nicht liegen. Insgesamt wurden dann ein halbes Dutzend Fragen an Bahr gestellt – unter anderem, ob er Patriot sei. Seine Antwort: „Ja selbstverständlich – was denn sonst?“
Bilder:
- Vortrag: Hans-Werner Hausmann
- 1976: Bundesarchiv via Wikimedia
Ob Bahr 1989 dies gesagt hat „Lasst uns um alles in der Welt aufhören, von der Einheit zu träumen oder zu schwätzen.”, weiß ich nicht mehr.
Was er aber garantiert und in meiner Anwesenheit 1989 gesagt hat, war "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört, aber es darf nicht zusammen wuchern." Gemeint war die Idee einer Föderation zwischen der DDR und der BRD mit der Möglichkeit einer späteren Vereinigung als Gegenentwurf zum Kohl/Genscher-Plan der Vereinigung nach Artikel 23
Guter Artikel!
ein guter Artikel, allerdings bleibt doch zu erwähnen dass in den tatsächlichen Jahren der Wende die CDU mit der FDP, d.h. Kohl und Genscher, die mit permanenten Verhandlungen die treibende Kraft hinter der Wiedervereinigung war, während man in der SPD schlief bzw. ausgesprochen gegen die Wiedervereinigung argumentierte (Günther Grass, Oskar Lafontaine). Das sollte auch Herr Bahr anerkennen, so sehr seine Ostpolitik auch die Verständigung zwischen BRD und der Sowjetzone verbessert hat, was ja jeder neidlos anerkennen muss.
Guten Tag Edmund,
endlich zeigst Du wieder einmal an dem Vokabular "Sowjetzone" Deine geistige Verfassung, die eines kalten Kriegers. Richtig wäre ja in Deinem Schützengrabenvokabular SBZ.
Guten Tag Manfred!
Du sagst es!. In der Tat wäre "SBZ", d.h. sowjetisch besetzte Zone, ob des dort geschehenen völkerrechtswidrigen Unrechts die noch weniger beschönigende, und damit noch zutrefflichere, Bezeichnung gewesen
Erwähnenswert finde ich, dass Studenten vor der Tür bleiben mussten (auch solche, die sich voher angemeldet hatten), weil es dem Rektorat offenbar wichtiger war, eine hübsche, prestigeträchtige Feierstunde für Profs zu veranstalten (so hat Hr. Westermann ja auch ausdrücklich die Kollegen, nicht aber die Studenten begrüßt) als allen Universitätsangehörigen die Teilnahme an der Diskussion zu ermöglichen. Was hat ein Vortrag mit geladenen Gästen an der Uni zu suchen? Gerade an einer Hochschule sollte allen gleichberechtigt der Zuganag ermöglicht werden.
Kann ich Dich so verstehen, daß schon die Gründung der DDR, des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden, in Deinen Augen "Unrecht" gewesen sei?
Oder war gar schon die Befreiung Deutschlands vom Faschismus durch die Rote Armee "Unrecht"?
Vielleicht waren dann auch die Räte-Republiken (1919 in Bayern, in Braunschweig, in Bremen), die Oktoberrevolution 1917 in Rußland und erst recht die Pariser Commune 1871 Deiner Meinung nach "Unrecht"?
Das würde mich tatsächlich mal interessieren.
Ich (Student) war da und ich habe eine Menge Kommillitonen getroffen. Es lag wahrscheinlich an der Aula, die eine arg begrenzte Zahl an Sitzplätzen hat. Aber HS5 wäre auch ein unwürdiger Raum gewesen.
Das "würde dich" NICHT "interessieren", da du die Antwort auf diese dumme Frage doch sowieso schon kennst. Das Ende des 2. Weltkriegs ist übrigens KEINE Legitimierung einer nicht vom Volk gewählten sozialistischen Gewaltherrschaft.
Dann sollte man in der Innenstadt ein Hörsaalgebäude errichten, dass sowohl ästhetisch wie raummässig den Ansprüchen einer solchen Veranstaltung gerecht wird.
Wie recht du hast Ede: Das Ende des 2. Weltkriegs ist übrigens KEINE Legitimierung einer nicht vom Volk gewählten kapitalistischen Gewaltherrschaft. Ich kann mich zumindest nicht erinnern, dass es unter Adenauer (oder später) einen Volksentscheid über das Wirtschaftssystem gab.
Ja am besten auf dem Grundstück auf welchem zur Zeit noch der Dom steht. Wer braucht den schon?
in dem ist die Akkustik leider sehr schlecht, siehe Grass-Artikel…
Es waren noch Plätze frei – so deutlich muss ich das sagen:
sowohl in den oberen Rängen (Stehplätze erst recht) ohne Anmeldung und auch unten blieben Plätze leer die dann mit Studenten von oben aufgefüllt wurden.
Es gab aber im Gegensatz zur DDR auch keine Klagen darüber und kostenlos gab es sogar noch Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Da staunst du wa? Und jetzt stell dir vor, das Volk durfte sogar echt wählen! Unfassbar für dich oder? Die Legitimierung der Wirtschaftsform ist nämlich indirekt durch die Ergebnisse der freien und geheimen Wahlen in der BRD in der Nachkriegszeit bestätigt worden.
Die Gründung eines sozialistischen Staates ist in sofern sicher auch Unrecht, da es ohne Zustimmung der Bürger stattfand. Millionen Bürger haben dann mit den Füssen dagegen abgestimmt und sind geflüchtet bzw. mussten flüchten nachdem Ihnen hab und Gut vom Staat geklaut wurden.
Im übrigens war die DDR der erste, aber auch der letzte (!) sozialistische Staat auf deutschem Boden.
Da muss ich dir ausnahmsweise recht geben, da die Gründung jedes Staates Unrecht ist. Jeder Staat basiert auf dem gleichen Prinzip der Knechtschaft der eigenen Bevölkerung.
Da du schon mit Prognosen um dich wirfst, gebe ich dir auch eine Prognose für die BRD und zwar dass deren Lebenswartung keine 10 Jahre mehr beträgt.
Bevor ich zwischen Pest und Cholera wähle, bevorzuge ich lieber Gesundheit und gesund ist maximal eine Gesellschaft, die es nicht nötig hat, von irgendwelchen Partei-Ideologen geführt zu werden. Es wurde im Westen nie über Wirtschaftskonszepte oder Gesellschaftskonzepte abgestimmt, sondern über Parteien und was die Parteien taten, darauf hatte der Wähler keinen Einfluss. Das Wirtschaftssystem wurde durch die Steuerungsmechanismen der Besatzungstruppen erzeugt und bekam im Westen den Segen der katholischen Kirche, welche für Adenauer Wahlwerbung machte und damit den Weg für die Truman-Doktrin, die Blutsteinaktion (CIA) und den Marshallplan öffnete. Versammlungsfreiheit hat übrigens nichts mit den CSU-Stammtischtreffs zu tun, was das Papier wert ist, auf dem das Recht steht, siehst du, wenn Protestkundgebungen mal wieder von uniformierten Mutanten niedergeknüppelt werden, und die Meinungs- und Pressefreiheit reduziert sich zum großen Teil auf die Teilhabe, den geistigen Dünnschiss der Springer-Presse auch noch im Gebührenzwangsfernsehen sehen zu müssen.