Die 24-Stunden-Vorlesung war schon wieder ein Zuschauererfolg – und eine schillernde Metapher für den miserablen Zustand der Hochschulpolitik
Bernadette Banaszkiewicz hängt ihren langen Mantel an den Haken, dann löst sie die Spange in ihrem lockigen, dunklen Haar, streift sich einen Efeukranz über, öffnet theatralisch eine Flasche Rotwein und kippt ein Schälchen voll aus dem Fenster in die dunkle Nacht hinaus. Das Publikum ist elektrisiert, betört von der Vorstellung. Hörsaal 5 im Audimax ist proppevoll, einige müssen stehen, die Luft knistert. Dann beugt sich die Altertumswissen-schaftlerin über das Mikrofon und haucht das Wort „Orgie“ in den Raum.
Bevor die 24-Stunden-Vorlesung um ein Uhr nachts einem ihrer Höhepunkte entgegen strebte, gab es erstmal jede Menge Ernüchterung. Um zehn Uhr abends ging über Greifswald grässlicher Nieselregen nieder, im Audimax war es jedoch warm und trocken und es gab scharfes Chili con Carne mit Brötchen
für 1,50 Euro. Ein Zettel mit dem Programm hing an der Wand. Motto? Sinn? Zusammenhang? Was will eigentlich Erwin Sellering, hier seines Zeichens SPD-Sozialminister von MV? Oder was hat Thomas Schattschneider, seinerseits Student, Ex-AStA-Vorsitzender und inzwischen Senatsvorsitzendenstellvertreter (sowie ebenfalls SPD-Mitglied), unter den mehrheitlich professoralen Dozierenden zu suchen? Und was hat ein Jugendoffizier der Bundeswehr mit unserer Uni zu tun?
Nicht, dass eine Suche nach dem Gemeinsamen leicht wäre. Das hat das Rumstochern im Nebel während des Unijubiläums im letzten Jahr gezeigt. Die wenigen Veranstaltungen, die sich ernsthaft mit der Frage beschäftigten, was denn die Alma Mater Gryphiswaldensis für uns Studierende und die Gesellschaft drumherum zu sagen hat, versanken im Palaver. Es zeigte sich, dass an dieser Hochschule Moderatoren für dieses Problem Mangelware sind. Rektor Rainer Westermann fiel nicht einmal beim Festakt am 17. Oktober Besseres ein, als die knappe Kasse der Uni zu bejammern.
Aufräumen mit den Illusionen
Eine Stunde nach Mitternacht schnallt man dafür die Gürtel etwas weiter und lockert seine Glieder. Ein allgemeines Raunen geht durch die Reihen, als die ersten orgiastischen Vasenbilder über den Beamer flackern. Aber (leider) – das explizite Gespiele der Götter, Fabelwesen und halbierten Tiere sagt über die wahren Sexpraktiken wenig aus. Eigentlich weiß niemand so recht, was während der griechischen Orgien passierte. Aus dem Ich herausgetreten sei man dabei, so die Überlieferung.
Weniger mythisch, vielmehr realer und grausamer muten im Vergleich die allgemeinen Kürzungsorgien und Streichwütereien an, die die Uni über sich ergehen ließ und lässt. Ex-Bildungsminister Hans-Robert Metelmann, von Haus aus Gesichtschirurg, war mit seinen Skalpell- und Schnibbel-Metaphern schon nicht ganz koscher. Ob Westermann und Co. zwischenzeitlich aus dem Ich herausgetreten waren – man wusste es nicht. Ihre Politik konnte den Eindruck erwecken.
Um 13 Uhr am nächsten Tag doziert der Jurist Joachim Lege über die Gemein-samkeiten zwischen Unterhaltungskultur und juristischer Schreibwut. Nicht nur der niveaulosen Fernsehsendun-gen gibt es immer mehr, sondern auch das Recht droht vor lauter
Verordnungen die Gerechtigkeit aus dem Blick zu verlieren. Also lieber Beschränkung auf das Wesentliche.
Dasselbe muss wohl Rektor Westermann gedacht haben, als er letzten Sommer vor seiner Wiederwahl auf die Frage, welche Ziele seine Politik denn haben werde, meinte, das stünde doch im Landeshochschulgesetz. Trotz vermeintlicher Komik endete alles tragisch, Westermann wurde wiedergewählt.
Da hilft dann nur noch ein kräftiger Schluck aus dem Bierglas! Den genehmigt sich Biochemiker Rüdiger Bode kurz vor 16 Uhr am Samstag, nach seinem Vortrag über die Braukunst. Und zitiert Goethe: „Das Bier schafft uns Genuss, die Bücher nur Verdruss!“ Wahre Worte des großen deutschen Dichters zum echten Studentenleben.
Etabliert = Erfolg?
Das Beste kommt wie immer zum Schluss. Der Politikwissenschaftler Hubertus Buchstein gestikuliert sich durch das Thema „Losverfahren in der Politik“. Angewandt zum Beispiel an der Baseler Universität. Dort wurden Professoren im 18. Jahrhundert nicht über quälend-nervige Auswahlverfahren in mehreren Stufen berufen, sondern zunächst auch nach Eignung, dann aber durch das Los. Die Folge: Weniger Querelen und Machtspielchen, dafür jede Menge hoch qualifizierte Bewerber. Was für ein Fazit!
Aber noch nicht ganz. „Die 24-Stunden-Vorlesung war erneut ein Erfolg“, freuten sich die Organisatoren Kristina Kühn und Christian Bäz vom AStA, „es waren eher kontinuierlich viele Leute da als geballte Massen wie im letzten Jahr.“ Dennoch bleibt ein fader Nachgeschmack. Denn der Verzicht auf eine kontroverse, politische Botschaft ist ein schwer wiegender Fehler. Dass die Uni viel und Unterschiedliches zu bieten hat, klingt nur nach Binsenweisheit, ist aber
hoch umstritten.
Man hätte die Gunst der Stunde(n) nutzen sollen statt uns Studierende mit schnöden Gewinnspielen zur Mitsprache bei StuPa-Wahlen bewegen zu wollen. Dass unsere acht Euro Studierendenschafts-beitrag pro Semester Leute entlohnen, die sich so etwas ausdenken, ist ein Unding. Der neuerliche Rettungsanker für die miserablen Wahlbeteiligungen ist zugleich der Primitivste. Da könnten wir auf die Überweisung auch verzichten.
Vielleicht haben die Damen und Herren Uni-Politiker alle mal eine ordentliche Orgie nötig. Zum Abschluss ihrer knisternden Vorlesung zitiert Bernadette Banaszkiewicz den Skandalphilosophen Friedrich Nietzsche. Der wusste noch, dass „die Orgie eine Heilkur für die mächtigen Männer ist, die dann mal einer völlig anderen Macht
unterworfen sind.“
Geschrieben von Ulrich Kötter