Nach dem theatralischen Abschied im letzten Heft werden viele Leser verwundert zur Kenntnis nehmen, dass ich hier schon wieder eine ganze Seite mit meinen Gedanken fülle. Da bin ich meinem Ziel, „etwas kürzer treten zu wollen“, mal wieder nicht gerecht geworden. Allen „Erstis“ sei gesagt, dass hier ein Relikt des Magisterstudiums am Werk ist, das die ihm dadurch gegebenen Freiheiten der universitas literarum im Laufe der Semester (mehr oder weniger) intensiv genutzt hat. – So, nun in medias res.
„Arvid hat keine Freunde an der Uni Greifswald.“ – Diese nüchterne Aussage sprang mir als Erstes entgegen, als ich mich beim StudiVZ „einloggte“. Doch kaum eine Stunde später bekam ich die erste „Freundschafts-Einladung“. Die mit ihr verbundene Nachricht sah wie folgt aus: „Ich wusste gar nicht, dass du Zeit für so was hast.“ – Ja, eigentlich hatte ich die Zeit auch nicht, aber ich habe sie mir genommen. Es war einer der letzten heißen Tage im Juli – „bevor es dunkel wurde; vor dem August“ (um mal diesen Sommer zu charakterisieren) – und eigentlich wollte ich mich ja um meine Arbeit kümmern, was aber faktisch oft so aussah, dass man nur auf den blinkenden Cursor starrte, während „The End“ von den „Doors“ erklang und der Rettungshubschrauber überm Dach zum Landen ansetzte. Und so war ich gerne geneigt, mich „kurzweiligeren“ Dingen hinzugeben.
Bereits wenige Tage später war die Zahl der „Freunde“ zweistellig und es wurde zur täglichen Gewohnheit, einen Blick auf diese Seiten zu werfen, auch wenn man keine E-Mail mit „Neue Nachricht“ bekam – wobei es dann doch etwas nervig wurde, wenn es hieß „Arvid Sowieso hat eine Nachricht in der Gruppe ‚Alle Arvids’ hinterlassen“.
Auf „das wohl größte und am schnellsten wachsende Studenten-Netzwerk Europas“, wie es sich offiziell bezeichnet, aufmerksam gemacht wurde ich übrigens durch ein anderes Phänomen, das sich in diesem Sommer nicht nur bei Politikern großer Beliebtheit erfreute und das aufgrund seiner „eher physischen Ausrichtung“ der Jahreszeit eigentlich eher angepasst war: der Drachenbootsport. Um meine subjektive Befangenheit über das, faktisch utopische, Ideal des „objektiven Journalisten“ stellen, möchte ich hier explizit das Wettkampfteam „Hell-Fisk“ nennen, dem ich mich als dokumentierender Begleiter sehr verbunden fühlte.
Doch hier zeigt sich wieder einmal die temporäre Gebundenheit, die der Enthusiasmus mit sich bringt. Hauptintention vieler, die sich in die Gruppe „Hell-Fisk“ einschrieben, war es sicher, das Phänomen des „Teamgeistes“ in die digitale Welt zu übertragen, also ein lebendiges Forum für all die Anliegen zu schaffen, die diese Gruppe definiert. Doch die anfängliche Begeisterung für diese Lebendigkeit wurde bald transformiert – zu einer akribischen Systema-tisierung und Archivierung von Fakten. Was ich in der Juni-Kolumne noch selbstmitleidig angeprangert hatte, ist nun zur Profession geworden: In den „Fotoalben“ kann man eine Welt aufbauen, die sich jenseits des Bildschirms oder platonisch gesprochen „hinter einem“ verbirgt. Doch über die „Privatandacht“ hinaus ist es die „soziale Repräsentation“, die hier eine immense Aufwertung erfährt. Es entwickelt sich fast zu einer Art Politikum, ob man einen „Freund“ ablehnt oder bestätigt – wobei ich bisher noch niemanden abgelehnt habe und hier niemandem vor den Kopf stoßen möchte, aber als neulich anstatt 30 nur noch 29 Freunde da waren, kam mir spontan nicht in den Sinn, wer fehlen könne, bis ich erfuhr, dass es sich um „Stadt Greifswald“ handelte – „Stadts Freunde“ waren zuletzt über 200. Die Kündigung der Freundschaft kommt also einer damnatio memoriae gleich.
Eine derartige Entwicklung ist einem solchen System sicher zwangsläufig inhärent, doch fragt man sich, inwieweit eine derartige Detailfülle zur jeweiligen Person von Nöten ist. Vielleicht ist es ein zu „investigativer“ Drang meinerseits, der mich bereitwillig derartigen Informationen (wie z.B. der schulischen Vergangenheit) nachgehen lässt. Aber andererseits besteht offenbar auch der Wille, entsprechend viel „über sich“ zu sagen. Welche Folgen die Angabe des Geburtsdatums hat, ist vielen sicher anfänglich nicht bewusst.
Olfaktotrische Hasenjagd
Als Unterstützung „realer“ sozialer Kontakte mag das System ja durchaus angebracht sein, jedoch stellt sich die Frage, ob hier nicht Welten aufgebaut werden, die mitunter den Anspruch erheben wollen, sich über diese Realität hinweg zu setzen – Wel-ten, die Hierar-chien neu definieren wollen, die Beziehungen entstehen lassen, denen letztendlich – wie man schweren Herzens erkennt – die Basis fehlt.
Denn auch wenn die digitale Technik mittlerweile schon bestrebt ist, eine Hasenjagd in einem Lavendel-
feld nicht nur audiovisuell, sondern auch olfaktorisch zu adaptieren, ist es doch immer noch die Welt „dort draußen“, in der wir uns begegnen müssen – denn was ist schon ein durchkalkulierter Generalstabsplan gegen die unbekümmerte Spontanität eines Lächelns … .
Geschrieben von Arvid Hansmann