Ein polnischer Blick auf Stanislaw Lem

Am 27. März 2006 verstarb Stanislaw Lem. moritz sprach mit Professor Waclaw Cockiewicz vom Institut für Slawistik über den Autor, sein Verhältnis zur Literatur und seine Position im geistigen Leben des heutigen Polen.

moritz: Stanislaw Lem kennen die meisten Deutschen vor allem als einen Science-Fiction-Autor. Aber er hat ja noch einiges mehr geschrieben, was in Deutschland nicht so bekannt ist. Als wen sehen ihn seine Landsleute?

Cockiewicz: Meistens kennen ihn die Leute, wenn sie ihn überhaupt kennen, als einen Science-Fiction-Autor und als einen Unterhaltungsliteraturschöpfer. Dazu passt mein Lieblingszitat von Lem. Auf polnisch lautet das so: Nikt nic nie czyta. A jak czyta, to nie rozumie. A jak czyta i rozumie, to zapomina.* Also, das ist typisch und ein Gedanke, der diese Verkennung von Lem in hohem Grad erklärt. Beides hat sich bei ihm bestätigt, also manche verstehen von seiner Schöpfung nur diese Science-Fiktion-Geschichten aber bei ihm kann jeder etwas für sich finden. Also, in Russland ist er, auch jetzt, unglaublich populär, aber auch unter Krakauer Physikern, vor allem den theoretischen Physikern. Dabei war er überhaupt nicht ernst, er hat seine Literatur überhaupt nicht ernst genommen.
Wenn der Lem selbst davon erfahren hat, dass die Leute ihn so sehen, war er auch nicht zufrieden. Zumindest ab den siebziger Jahren war er immer weniger Romanautor, derjenige, der die Geschichten erzählt, als ein Philosoph der Wissenschaften. Ungefähr ab Mitte der achtziger Jahre hat er seine Erzählungen aufgegeben und sich ausschließlich mit philosophischen und literaturtheoretischen Schriften beschäftigt. In diesem Bereich ist er wenigstens genauso erfolgreich gewesen wie in diesem unterhaltungsliterarischen Bereich. Aber das ist symptomatisch, er hat keine falschen Vorstellungen davon gehabt.

Was macht Lem so populär?
Das Attraktive an ihm ist, dass er dieses Wissen in sehr leichter Form formuliert hat und dass er das, was er gesagt und geschrieben hat, mit einer unglaublichen Distanz und Selbstironie betrachtete. Die Bajki robotów (Robotermärchen), das sind solche Erzählungen mit Witz, mit Humor und Ironie und auch einer Distanz, mit der er über virtuelle Welten spricht. Und das sind die Inhalte, die insbesondere die theoretischen Physiker begeistern, weil das eigentlich ihre Domäne ist. Das, was wir heute im Internet virtuelle Wirklichkeit nennen, das hat er auch vorausgesehen. Das ist das Interessanteste, dass er das vorausgesagt hat.

Warum verband Lem so unterschiedliche Wissensgebiete?
Er hatte sein Medizinstudium wegen des Krieges nicht abgeschlossen. Sein Vater, Samuel Lem, war Laryngologe. Seine Vorfahren waren jüdisch, aber sein Vater war katholisch, er selbst hatte keine Ahnung von seinen jüdischen Wurzeln. Das hat ihm erst der Hitler klargemacht.
Er hat in seinem autobiographischen Roman, Wysoki zamek (Die hohe Burg)
über seine Lemberger Kindheit gesagt: ‚Die beiden großen Totalitarismen haben mich aufgeklärt. Also, Stalin oder die Bolschewisten haben mir klargemacht, dass meine Abstammung aus der Sicht der Klassentheorie falsch ist, Hitler hat mir dasselbe aus der Sicht der Rassentheorie erklärt.’

Ich finde das ziemlich schonungslos, dem Leser gegenüber. War er wirklich so sarkastisch?
Vielleicht klingt das so, aber er hat das mit einem Augenzwinkern geschrieben. Von Zorn gibt es dort keine Spur. Er ist sehr direkt, das heißt aber nicht aus Bosheit, sondern aus dem Respekt für den Gesprächspartner. Er hat es nicht für angemessen gehalten, in Höflichkeiten zu zerfließen.
Lem war einfach sehr direkt. Ich habe seine Vorlesungen besucht, Anfang der siebziger Jahre, als ich Polonistik in Krakau studiert habe. Er hat dort Vorlesungen für uns Polonisten in unserem Institut gehalten.

Worüber hat Lem diese Vorlesungen gehalten?
Über die Problematik, die er später in der Summa Technologiae bearbeitet hat, also über die Perspektiven der Kybernetik, der damals gerade entstehenden Informatik. Er hat damals sehr viel Norbert Wiener und Robert E. Kahn zitiert, weil er gerade auf der Basis ihrer Werke Englisch gelernt hat. Dazu hat ihn ein Philosoph, ein Physiker bewegt, dem er sich quasi anvertraut hat mit seinen Interessen. Als er 1948 nach Krakau übersiedelte, hat er zwei fertige Texte aus Lemberg mitgebracht, den Roman Mensch vom Mars und den Traktat Theorie der Gehirnfunktionen. Und der Mann, dem er sich anvertraut hat, heißt Dr. Mieczyslaw Choynowski. Ja, der Choynowski war von Lem Text damals nicht begeistert, aber von seinen
Interessen schon. Und er wurde zu seinem Mentor, hat ihn in sein Seminar aufgenommen, das Konversatorium über Wissenschaftskunde. Daran nahmen Philosophen, Kernphysiker und Kybernetiker teil. Dabei gab es damals offiziell keine Kybernetik in Polen, das war politisch verdächtig. Die Zensur hat manche seiner belletristischen Bücher verboten, mit dem Vorwurf, sie enthalten die versteckte Verteidigung der bürgerlichen Wissenschaft Kybernetik. Seine Vorlesungen waren zwar sehr interessant, aber nicht besonders effektvoll, weil er mit so leiser Stimme sprach. Ein guter Redner ist er nicht gewesen, er war ein guter Gesprächspartner.

Gab es dann den Terminus Kybernetik in Polen nicht, aber Inhalte der Wissenschaft schon?
Doch, es gab den Terminus Kybernetik, aber die Kybernetik als Wissenschaft war zu der Zeit Tabu. Man durfte darüber öffentlich nicht sprechen.
Lem hat sich mit dieser Kybernetik und mit diesen wissenschaftlichen Fragen ganz ausführlich vertraut gemacht. Die Physiker, die ich kenne, waren schon immer von ihm sehr begeistert. Sie behaupten, er ist der einzige Humanist, der etwas von Physik versteht.
Auf der anderen Seite konnte er aber auch ganz ungezwungen schreiben. Einer seiner Aufsätze wurde einmal in einer polnischen Zeitung nicht abgedruckt, weil er das Wort ‚Arsch’ enthielt. Der Aufsatz hieß ‚Traktat o dupie’, Traktat über den Arsch, und er beschreibt, wie sich eine junge deutsche Wissenschaftlerin mit diesem Thema in der modernen Werbung beschäftigt, und dass sie ihm ihre Dissertation zu lesen gegeben hat. Er zitiert reichlich aus dieser Arbeit, und das macht den Artikel wirklich sehr witzig. Es war natürlich auffällig, dass er es für angemessen hielt, zu betonen, dass es eine deutsche Autorin gewesen ist, aber er hat es natürlich auch begründet. Er sagte, sie habe das mit ihrer national typischen Tüchtigkeit gemacht.

Was halten Sie von Solaris?
Solaris ist sein bekanntester Roman. Das ist eine Geschichte eines totalitären Systems, aber auch viel, viel mehr. Auf diesem Planeten, den Lem beschreibt, gibt es keine einzelnen intelligenten Wesen wie wir, sondern es ist ein einziges totalitäres Wesen, der denkende Ozean.
Ein amerikanischer Kritiker, ein Anglist, begann, ihm die unmöglichsten Sachen einzureden und den Text im Geist Sigmund Freuds auszulegen. Er hatte diesen Roman nur auf Englisch gelesen, und als Lem diese Rezension gelesen hat, hat er sich fast totgelacht und gesagt, dass es im polnischen Original aus sprachlichen Gründen überhaupt nicht möglich ist, diese Schlussfolgerungen zu ziehen. Die innere Form der Sprache ist einfach anders und dieser Kritiker hatte alles nur aus der Oberfläche gezogen. (lacht)
Also, Lem hat sich wirklich damit amüsiert und das nicht auf eine bösartige Weise verspottet, ihm hat es wirklich Spaß gemacht. Eigentlich ist er immer sehr bescheiden gewesen.

Wann haben sie Stanislaw Lem zum letzten Mal gesehen?
Ich habe ihn das letzte Mal im Jahre 2000 gesehen, bei der Verleihung des Ehrendoktorats an der Universität Bielefeld. Die Verleihung fand in Krakau in der altehrwürdigen Aula statt und per Telebeam konnte man das in Bielefeld in einem riesengroßen Saal verfolgen. Vor Ort gab es nur eine Delegation, eine Vertretung, und in dieser Menge ist der kleine Mann einfach verschwunden. Keiner konnte ihn sehen und plötzlich sind die Kameraleute wie wild herumgelaufen und haben ihn gesucht. Jeder hat gefragt: Wo ist der Lem? Wo ist der Lem? (lacht wieder)

2004 verstarb der polnische Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz. Nun Lem …
Der Tygodnik Powczechny hatte eine Rubrik, in der der Jesuit Stanislaw Obierek eine Frage an eine Krakauer Kapazität gestellt hat. Das war immer eine fundamentale, existentielle Frage, und im Fall von Stanislaw Lem hat er gefragt: Was erwarten Sie nach dem Tod?

Lems Antwort war: Ich erwarte gar nichts. Er hat das ganz einfach mit seiner Erfahrung begründet. Er sagte, es werde genau das sein, was er erfahren habe, als er geboren wurde. Es gab nichts, und so werde es beim Tod ebenso sein.
Als ich das damals las, empfand ich es als genial. Wenn man an eine Narkose denkt, oder an einen traumlosen Schlaf, dann kann man sich das vorstellen, wie eine ‚Welt ohne mich’ aussehen könnte. Heute aber ist das für mich eine traurige Perspektive, nicht nur weil für einen persönlich alles zu Ende geht, sondern auf moralischer Ebene, wenn es keine Gerechtigkeit und keinen Ausgleich für das Unrecht in der Welt gibt. Eigentlich bedeutet das eine unfreiwillige Akzeptanz, dass die Welt ein Dschungel ist. Das ist zwar rationalistisch, aber im tiefsten Sinn auch sehr traurig.
Wenn man Lem aufmerksam betrachtet hat, dann konnte man in seinen Augen irgendeine Traurigkeit sehen, die ich mir damals nicht erklären konnte. Ich dachte damals, Lem sei ein interessanter Herr, aber ein bisschen eigenartig. Manchmal denke ich immer noch darüber nach.

Sehen sie denn im Moment jemanden, der in Lems Fußstapfen treten könnte?
Ganz ehrlich: Im Moment nicht.

(Waclaw Cockiewicz ist Professor für slawische Sprachwissenschaft. Im Juli kehrt er nach einer auf 5 Jahre befristeten Professur für Polonistik in Greifswald zurück an seine Heimatuniversität Krakau. Sein Lehrstuhl wird danach nicht wieder besetzt.)

* Keiner liest etwas. Und auch wenn jemand etwas liest, versteht er das nicht. Aber auch, wenn er etwas liest und wenn er das versteht, dann vergisst er das gleich.

Geschrieben von Marlene Sülberg