Mit den weißen „Lost-in-translation“-Hausschuhen schlurfte ich über den Flur des Hostels. Unweigerlich wurde ich mit Lewis konfrontiert. „Good morning!“, I said, äh, sagte ich. Schwer atmend erwiderte er den Gruß. Der korpulente Herr von circa 35 Jahren saß vor einem Wirrwarr aus Klamotten und anderen Utensilien, das er versuchte in seinen Koffer zu verstauen.
Als ich aus dem Bad zurück zum Zimmer ging, war ihm dieses Wunder fast gelungen, jedoch machte er einen aufgelösten Eindruck. „You are leaving today?”, fragte ich. „Yes, man. But I can’t find my battery charger.“ Er verwies auf das „iPod“-Gerät, das offenbar multifunktional war und teuer aussah. „Maybe it’s between all your things“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Die Unruhe in seinem Wesen ließ auch nicht nach, als er einsah, dass das Teil momentan nicht auffindbar war.
„OK. Come on! Let’s go up to take breakfast!” sprach er mit offenbar chronischem Bewegungsdrang. „Just one moment!“ beruhigte ich ihn. Ich ging leise in mein Zimmer, um die beiden asiatisch-stämmigen Kalifornier und den Brasilianer nicht aufzuwecken, zog meine Schuhe an, nahm die „Keycard“ aus dem Kulturbeutel und folgte ihm die alte Treppe des historistischen Gebäudes hinauf zu Rezeption und Frühstücksraum.
Als wir uns mit Brötchen, Marmelade und Latte Macchiato aus einem Automaten, an dem der Kaffee um diese Zeit „for free“ war, eingedeckt hatten, nahmen wir in einem Raum Platz, wo auf einem Fernseher permanent MTV lief. „You come from America?“ fragte ich ihn. „Right, man. From New York.“
„How did you like Rome?“ Ich befand mich seit vier Tagen in der “Ewigen Stadt” und wollte nun erfahren, welchen Eindruck sie auf einen Bewohner der Neuen Welt machte. „Too much history, man. Too much history.” Sein unruhiger Blick richtete sich auf eine Wand des Raumes. „What does this mean? I was there, but tell me, man. You know it.” Vor uns war eine mittelmäßige Adaption des berühmten Details aus den Fresken der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo. „It’s just the moment, when God gives the life to Adam.” Vor meinen Augen ließ ich den vorangegangenen Tag Revue passieren, wo ich mit verrenktem Hals die unzähligen Details dieser „Kapelle“ betrachtete, die in unseren Breiten etliche Kirchen in den Schatten stellen würde, hier aber im Verhältnis zum hypertrophen Petersdom wie „rangeklatscht“ wirkt.
„You know a lot, man. – But I don’t like Rome. Too much history, man. Too much history.” Ich meinte seine Einstellung etwas nachvollziehen zu können. Die Zahl der Kirchen, die ich mir in diesen wenigen Tagen ansah, kann ich auch heute nicht klar definieren. „Yes, it was also for me a lot. I have just focussed on the Christian art. You know the big churches from the emperor Constantine…” – „Constantine? Was it a good guy or a bad guy?” – “Oh…” Ich musste überlegen, wie ich ihm antworten sollte. „It was a good guy“, sagte ich dann. Es machte wohl wenig Sinn, ihm zu erklären versuchen, dass so ein pauschal-dualistisches Urteil eigentlich nicht zu fällen war, sondern dass es immer erst aus der historischen Nachbetrachtung entsteht. So hatte der als „böser Antichrist“ verschrieene Kaiser Diokletian wesentliche Reformen durchgesetzt, die Konstantin in vielen Teilen übernahm. Die Ausmaße der von ihm gestifteten Thermenanlage, deren Reste hier „gleich um die Ecke“ lagen, sind heute noch beeindruckend.
In diesem Moment wurde mir jedoch klar, dass all dies für Lewis kaum nachvollziehbar war. Wie sollte er erkennen, dass die barocke Kirche „Santa Maria degli Angeli“ in ihrer heutigen Form erst über 1000 Jahre später in die spätrömische Badehalle eingebaut wurde? War ihm bewusst, dass Julius Caesar das Kolosseum nie gesehen hat? War für ihn Kaiser Nero eine ebenso historische Gestalt wie Sir Peter Ustinov?
Ich frage mich, ob bei ihm überhaupt ein derartiges chronologisches Bewusstsein existierte, wie es hierzulande vermittelt werden soll. Waren für ihn die Hollywoodbilder nur Schlaglichter in einem unförmigen Nebelwald, der als „ancient times“ abgetan wurde? Waren sie Exempla für einen moralisierenden Geschichtsentwurf, wie er beispielsweise in der Frühen Neuzeit ausgeprägt war?
Bei der Greifswalder Fachtagung „Wahre Geschichte – Geschichte als Ware“ am zweiten Januarwochenende 2006 wurde mir jedoch vor Augen geführt, dass selbst im Elfenbeinturm des Historikers die Grenze zwischen der abstrakten wissenschaftlichen Erkenntnis und den vermeintlich als klar fiktiv abgetanen Bildern verschwimmt. Sollte diese vermeintliche Rationalität nichts weiter als der „intellektuelle Hochmut“ des zephirgleichen Williams von Baskeville bei Umberto Eco sein, der auch für unsereinen in Personalunion mit Sir Sean Connery tritt?
Jedenfalls kam es dem wenig konzentrationsfreudigen Lewis in den Sinn, vor seiner Abreise nach Madrid einen Internet-Zugang zu suchen. „Just go to the Termini station. There is an internet pool in the big hall.” – “OK, man. Let’s go there.” – “Oh, not so fast. Let me eat my breakfast. We meet there in half an hour, OK?” – “All right, man.” Da war er auch schon verschwunden.
Geschrieben von Arvid Hansmann