Für Zyniker hört die Welt an der Stadtgrenze von Greifswald auf. Dahinter flaches Land, Dörfer, in denen nur Rentner in arbeitslose Männer hausen und aus denen die Frauen flüchten, Autofahrer mit Wildwestmanier. Und viel Alkohol.

Es hat mal jemand ausgerechnet, dass in Vorpommern 16 Liter reiner Alkohol pro Kopf der Bevölkerung im Jahr getrunken werden. Das sind über 90 Flaschen Schnaps. Sicher, die Tradition des Alkoholtrinkens ist so alt wie das Abendland selbst, wird aber wohl nirgends so exzessiv betrieben wie in Vorpommern. Nicht einmal im Land der weißen Würste und Biere. Dort könnte man noch am Ehesten von einer Tradition sprechen.
„Bier wird in Vorpommern schon gar nicht mehr als Alkohol wahrgenommen, es zählt nur noch Hochprozentiges“, berichtet Klaus-Peter Philipp vom Greifswalder Institut für Rechtsmedizin. Er und seine Kollegen untersuchen für die Polizei die vorpommerschen Blutproben auf den Alkoholgehalt. Sie halten die durchaus umstrittene These, dass hier im Nordosten mehr Alkohol getrunken wird, für glaubwürdig. „Es gab schon zu DDR-Zeiten ein Nord-Süd-Gefälle beim Alkoholkonsum, dazu ist nach der Wende auch noch ein Ost-West-Gefälle gekommen“, so Philipp. In Greifswald genügt es, vor den diversen „Getränkestützpunkten“ einmal die Augen aufzumachen. Und deren Sortiment an Hochprozentigem auf sich wirken zu lassen.
Die Formen des Alkoholmissbrauchs sind vielfältig und fangen nicht beim Vollrausch an. Alkoholabhängigkeit wurde erst 1976 überhaupt als Krankheit anerkannt. Der Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Alkoholismus ist differenziert, mal kam das eine, mal das andere zuerst. Auch der soziale Status spielt eine Rolle, der Angestellte mit Fahne fliegt schneller raus als der hausbarleersaufende Rektor.
Vorpommern liegt bei jugendlichen Straftätern unter Alkoholeinfluss über dem Durchschnitt, der Landespräventionsrat stellte Schüleralkoholismus fest. „In Vorpommern sterben auch mehr Menschen am Alkohol als anderswo“, so Klaus-Peter Philipp, „auch wenn die amtliche Statistik widerspricht.“ Er verlasse sich auf seine lange Berufserfahrung. „Ich sehe das ganze aus der sachverständigen Sicht des Rechtsmediziners“, resümiert er, „aber vielleicht haben wir im Abendland verlernt, mit Alkohol umzugehen.“

Geschrieben von Ulrich Kötter