„Es ist unmöglich, die Geschichte eines Menschen lückenlos zu rekonstruieren. Zu begrenzt sind Zeugenaussagen, zu begrenzt sind auch Selbstzeugnisse, etwa in Form von Berichten über ihre eigenen Taten. Jeder Zeuge, auch der sachlichste, gibt immer nur seine Sicht der Dinge wieder. Gefühle, Motivationen, innere Regungen entziehen sich ohnehin weitgehend der Berichterstattung. Grobe Verfehlungen werden von Beteiligten selbstverständlich nur ungern geschildert.“
Dies schrieb Stefan Aust einst selbst, am Anfang seines Werkes „Der Baader-Meinhof-Komplex“. Oliver Gehrs macht in seinem Buch „Der Spiegel-Komplex“ deutlich, wie vorsichtig ein Stefan Aust ist, um sich selbst keine Blöße zu geben. So soll auch dieses Zitat nach Gehrs Meinung einzig der Vorbereitung des Lesers auf das kommende Buch „Mauss. Ein deutscher Agent“ gedient haben.
Unabhängig davon, was von diesem einzelnen Beispiel zu halten ist: Oliver Gehrs hat es sich mit seiner Hinterfragung der Person und Persönlichkeit Stefan Aust nicht leicht gemacht. Nur bekommt der Leser manchmal den Eindruck, Gehrs habe sich so sehr in seine Arbeit hinein gesteigert, dass er kaum noch aus ihr herauszufinden vermochte.
Doch ist seinem Schaffen damit kein Abbruch getan. „Der Spiegel-Komplex“ ist zweifelsohne mit Verve recherchiert, eine Ausleuchtung Stefan Austs, die es bis jetzt so nicht gab. Dies wohl auch ein wenig aus Angst vor dieser Ikone des neuen Journalismus. So musste sich Gehrs vor Beginn seiner Arbeit einen unangenehmen Anruf gefallen lassen: „Am Apparat war Gabor Steingart, der Berliner Büroleiter des Spiegel. Er fragte mich, ob es stimme, dass ich über Aust schreiben wolle, was ich bejahte. Daraufhin machte Steingart eine lange Pause und sagte dann quasi ins Ausatmen hinein: „Ich würde es nicht machen.“ Es war ein bisschen wie in dem Film Der Pate.“ Das spornte Gehrs dann doch eher an, was der Öffentlichkeit dieses Buch bescherte, in dem Stefan Aust wieder auf ein vernünftiges Maß geschrumpft wird: Dem eines talentierten Journalisten mit Gespühr für Macht und Schlagzeilen. Eine lichte Wunderfigur ist er so wenig wie jeder andere, der sich gerne als eine solche geriert.
Wundervoll chronologisch rollt Gehrs Austs Leben auf. Von der Schülerzeitung „Wir“ über die „Konkret“ und die „St. Pauli Nachrichten“ zum NDR bei „Panorama“ und schließlich, nachdem er dort seiner Streitbarkeit wegen übergangen wurde, hin zu den Privatsendern. Nachdem er dort „Spiegel-TV“ quotenfähig gemacht hatte, wurde er von Rudolf Augstein zum „Spiegel“ geholt. Da sitzt er heute noch und hat auch diese Redaktion gründlich umgekrempelt. Das ist es auch, was Gehrs an der ganzen Aust-Kiste zu reizen scheint. Die einflussnehmende Art des Machtmenschen Stefan Aust, der Mitarbeiter vor den Kopf stößt, wenn ihm ihre Arbeiten nicht zusagen. Der ohne Rücksicht auf Verluste stets eine autoritäre Redaktionsstruktur anstrebte, natürlich mit ihm an der Spitze.
Oliver Gehrs bringt es ganz einfach auf den Punkt: „Aust ist kein Historiker, sondern Journalist.“ Zum Glück für den Leser hat Gehrs sein Buch historischer geschrieben, als Aust sein Leben.
Das Buches „Der Spiegel-Komplex“ von Oliver Gehrs ist bei Droemer/Knaur erschienen.
Geschrieben von Stephan Kosa