Ein visionärer Dialog

Wir schreiben das Jahr 2456. In der Abtei „Hilda Secunda“ findet der Novize Aquilo ein altes Manuskript, das er dem Mönch Aquila zeigt.

Schüler: Seht hier, Meister! Es wird von einer Stadt berichtet, die einst von einem mächtigen Feldherrn belagert wurde. Dieser verlangte, ein große Zahl der edelsten Bürger herauszugeben und anschließend ihre Häuser niederzubrennen, damit ihrer nicht mehr gedacht werden würde.Die Bewohner der Stadt wussten, dass ihre Heimat ohne diese Bürger der baldigen Verödung preisgegeben war. Sie baten den Feldherrn, Gnade zu zeigen… Hier bricht die Nachricht ab. Was denkt Ihr, wurden die Bürger geopfert, um der akuten Gefahr zu entgehen?
Meister: Wie Du bemerkt hast, führt sowohl der Widerstand, als auch die Preisgabe zum Untergang der Stadt. Es ist also nur die Gnade des Feldherrn, die vermag die Stadt zu retten.
Schüler: Welchen Grund sollte er haben, Gnade zeigen? Er wird auf seinem Recht bestehen, wie dies einst der Jude Shylock in Venedig tat, als er ein Pfund Fleisch aus dem Körper des Kaufmanns Antonio forderte.
Meister: Ganz recht. Shylock zeigte keine Gnade, konnte aber durch eine weise Auslegung des gültigen Rechts von seinem tödlichen Vorhaben abgebracht werden.
Schüler: Nach welchem Recht sollte sich denn der Feldherr richten, wenn er doch keine andere Macht fürchten muss?
Meister: Bedenke, nur weil die Nachricht nicht von einer höheren Autorität berichtet, heißt das nicht, dass sie nicht existiert.
Schüler: Ihr meint also, dass der Feldherr sich sicher weiß, dass diese Autorität nicht von seinem Tun benachrichtigt ist. Wenn die Stadt also bei einer höheren Macht auf das Unrecht aufmerksam machen könnte, würde der Feldherr in seine Schranken gewiesen.
Meister: Warum, denkst Du, sollte diese Belagerung ohne die Kenntnis einer höheren Autorität geschehen? In Zeiten des Krieges sind bekanntlich viele Städte bedroht. Die Handlungen des Feldherrn könnten von ihr geduldet oder gar befürwortet werden.
Schüler: Aber wo bleibt da das Recht?
Meister: Du verwechselst Recht mit Deinem Verständnis von Gerechtigkeit. Wenn die Autorität in der Opferung der Stadt keine Straftat erkennt, so handelt der Feldherr nach ihrem Recht.
Schüler: Kann denn Recht so weit von Gerechtigkeit entfernt sein?
Meister: Du lässt Dich von Deinen Emotionen leiten.
Schüler: Verzeiht. Wenn also das Recht durch die Autorität definiert wird, so muss die Stadt versuchen, sie davon zu überzeugen, nicht entbehrlich zu sein.
Meister: So ist es. Doch wie sollte die Stadt sich Gehör verschaffen?
Schüler: Wart Ihr es nicht, der mir vom Buch Judith erzählt hat? Wird dort nicht ebenfalls von einer bedrohten Stadt berichtet?
Meister: Ich sehe, meine vielen Worte waren nicht umsonst. Die Stadt Bethulia wurde durch die heldenhafte Tat der ehrbaren Frau Judith gerettet.
Schüler: War sie es nicht, die den Feldherrn Holofernes tötete? Wenn es also gelänge, dies hier ebenso zu tun, bliebe die Stadt vielleicht verschont.
Meister: Bedenke was Du sagst! Der Tod des Feldherrn ist ein Weg, der ins Chaos führen kann. Die Autorität ist es, die es zu überzeugen gilt.
Schüler: Ihr meint, dass weniger die Tat an sich sondern die Entschlossenheit der Judith im Mittelpunkt steht und sie somit zu einem ruhmreichen Zeichen für die Stadt wurde. Es wäre also notwendig, solch eine Symbolfigur wie Judith zu finden.
Meister: Wenn die Stadt dies vermag, so wäre eine Rettung möglich.
Schüler: Glaubt Ihr, dass die Stadt dann die Gefahr überstanden hat?
Meister: Wir befinden uns im Bereich der Spekulation. Lassen wir es für heute darauf beruhen. Geh’ und schicke einen Knecht in den westlichen Wald, er soll mir einige von den Kräutern bringen, die dort zwischen den alten Ruinen wachsen…

Geschrieben von Arvid Hansmann