Eindrücke aus dem Südosten von Indien

Am Stadtstrand von Madras flattern die Planen im Wind, sie sind nur lose an Brettern befestigt. Vom Meer weht der Wind landeinwärts. Da liegt der Indische Ozean, der Golf von Bengalen, glitzernd in der Morgensonne, die Dünung legt die Wellen ganz sanft ans Ufer. Von hier aus kann man die St. Thomé Church sehen, dort sollen die sterblichen Überreste des Heiligen Thomas aufbewahrt sein.

Der Papst hat dort gebetet in der Krypta irgendwann in den Achtzigern. Die Kirche liegt leicht erhöht etwas weiter landeinwärts.
Ich stehe inmitten von Trümmern am Strand. Mit Ziegelsteinen doppelt gemauerte Wände liegen in faustgroßen Stücken vor mir –Häuser haben hier gestanden, für indische Verhältnisse sehr stabil gebaut. Davon ist nicht mehr viel übrig. Soweit man sehen kann, nur Ruinen. Weiter hinten steht ein einzelnes Haus, das den Wellen getrotzt hat, die hier am 26. Dezember 2004 auf Land getroffen sind.
Gebückte Gestalten zwischen diesen Steinen graben in den Trümmern noch immer nach etwas Verwertbarem. Mir kommen diese Bilder seltsam bekannt vor, aus Dokumentationen über den Zweiten Weltkrieg, über die Trümmerfrauen. Und auch wenn hier keine kriegerische Auseinandersetzung stattgefunden hat, diese Menschen in den Trümmern kämpfen – ums Überleben.
Die Planen flattern im Wind, sie sind ihr neues Zuhause, auf der anderen Straßenseite liegen die Überreste ihrer Häuser und hinter den Planen rauscht das Meer.

Und auch wenn hier keine kriegerische Auseinandersetzung stattgefunden hat, diese Menschen in den Trümmern kämpfen – ums Überleben.

Zwischen diesen Planen leben sie jetzt. Entlang der Küstenstraße bauen sie Slums. Sie, denen nun nur noch die Trümmer gehören. „Wir können nirgendwo anders hin, überall in der Stadt schickt man uns weg“, sagt mir ein Mann. Und da sie niemand auf seinem Grundstück weiter landeinwärts duldet, müssen sie am Strand bleiben. Ob sie Angst haben, frage ich, Angst, dass noch einmal etwas Ähnliches passiert. Der Mann schlenkert langsam mit dem Kopf – das heißt in Indien „Ja“. „Manche schlafen nicht mehr“, sagt er noch. Und wer schläft, der wacht unter dem Rauschen der Wellen morgens auf.
Lothar Kleipaß ist Entwicklungshelfer für den Internationalen Landvolkdienst Bad Honnef. Er betreut Projekte rund um die Welt und steht jetzt auf dieser Straße und schüttelt den Kopf: „Wenn hier in der Landeshauptstadt von Tamil Nadu die Versorgung nicht funktioniert, wie soll das dann auf dem Land aussehen?“
Der Staat hat Hilfe versprochen, hat auch versprochen, die Menschen umzusiedeln. Manche haben auch Soforthilfe bekommen – Fischerfamilien zuerst – sie haben bei der indischen Regierung Priorität. Sie haben sich davon Kochgeschirr gekauft und Lebensmittel. Was sie aber wirklich brauchen, ist eine Perspektive: Ein Boot, Netze. Vielleicht für die, die sich noch trauen, wieder raus zu fahren. Manche Frauen halten ihre Männer davon ab, wieder fischen zu gehen. Sie haben Angst, Witwen zu werden und sie kennen schon so viele andere Witwen.
Ein paar Tage später stehe ich auf einer Bühne in Mangalapuram und gen. Sie stammen von hier und sind in der Hoffnung auf einen Job in die Städte gegangen, nach Pondicherry oder Cuddalore. Jetzt kommen sie zurück. Anders als die Menschen am Stadtstrand in Madras haben sie Dörfer, Verwandte und eine Organisation, die sie aufnimmt. Es ist ein seltsames Gefühl, Hilfsgüter zu verteilen. Zwei Kamerateams sind da und Fotografen und sie sagen, ich solle in die Kamera schauen.
Meine Mitreisenden haben 16.000 Euro an Spendengeldern gesammelt. 168 Familien wird damit das Nötigste zum Bestreiten des Alltags finanziert. Ich verteile Eimer und Aluminiumtöpfe, Seife, Binden, Reis und Zucker und ich sehe diese Menschen und ich habe dieses Gefühl wie am Strand in Madras. Das Gefühl, dies alles wahrzunehmen und zu wissen, was hier passiert ist, aber ich kann es nicht wirklich verstehen, ich kann es nicht nachfühlen.
Es ist kein großartiges Gefühl, Hilfsgüter auszuteilen, es ist eher bedrückend. Vielleicht schämen sich diese Menschen auch. Menschen, die sonst gewohnt sind, selbst in den schlimmsten Notlagen eigene Lösungen zu finden, zu improvisieren, ihrem Karma entsprechend die Herausforderungen des Lebens zu ertragen und nicht aufzugeben.
Shiva ist der Gott, der nach indischem Glauben die Welt erschafft, zerstört und wieder neu erschafft. Er ist Zerstörer und Quelle der Erneuerung und Schöpfung zugleich. Vielleicht bedarf es einer solchen Gottheit für die Menschen in Tamil Nadu im Süden Indiens, um mit dieser unvorhersehbaren Katastrophe psychisch fertig zu werden und nicht an der Sinnlosigkeit zu verzweifeln.
Aber Shiva allein ist keine Stütze, es braucht Menschen und Geld, vor allem aber eine Perspektive für die Zukunft. Ein langfristiges Konzept, das die Betroffenen in vorhandene Strukturen integriert.
Lothar Kleipaß bemüht sich zum Beispiel um die Finanzierung von Nähmaschinen und Kühen, die durch ihre Milchproduktion für die Besitzer eine tägliche Einnahmequelle bedeuten. Kleinkredite zu guten Konditionen, um Geschädigten Straßenstände mit Lebensmitteln zu finanzieren.
Und bald darauf sitze ich im Flugzeug Richtung Frankfurt. Die Stewardess bringt das Essen und ich könnte auf zwölf verschiedenen Kanälen Unterhaltungsprogramme hören. Manchmal sehe ich noch die Bilder der Menschen an den Stränden, wo sie nun ausharren, monatelang, und ich habe mich kaum getraut, für die kurze Zeit, die ich dort war, dem Meer den Rücken zuzudrehen. Das alles ist so unwirklich – wie dieser Moment im Flugzeug, als ich über den Satz stolpere: „Schwimmweste unter ihrem Sitz“.

Geschrieben von Jonas Wipfler