Ein Interview mit Professor Walter Baumgartner vom Nordischen Institut über Hans Christian Andersen

moritz: Welche Bedeutung hat Andersen für die Literatur?

Baumgartner: Er ist einer der ersten modernen Autoren und Berufsschriftsteller in Skandinavien gewesen. Er war immer Gesprächsstoff für die damaligen Medien. Er reiste viel in der Welt herum, war dort immer Stadtgespräch und hat selber Gesprächsstoff mit nach Hause genommen.

Wofür benötigte er den?

Für seine Reiseberichte und als Denkanstöße.

Was machte ihn besonders?

Seine Bedeutung für Dänemark lag darin, dass er die steife und kunstvolle Sprache verworfen hat und schrieb, was aus seinem Schnabel kam. Diese „Mündlichkeit“ war allerdings streng am Schreibtisch kalkuliert.

Hört man das in seinen Märchen?

Ja, sie liegen perfekt auf der Zunge. Andersens Texte sind so, wie die Leute sprechen – wenn sie schlagfertig, ironisch und hintersinnig reden.

Er schrieb Antimärchen, was ist das?

Volksmärchen laufen nach einem festen Schema mit Happy End. Andersen streicht das Happy End!

Ein Beispiel vielleicht…

Ein klassisches Heiratsmärchen. Ein armer Junge zieht von zu Hause aus. Er trifft eine Prinzessin, sie ist verflucht, er erlöst sie, sie heiraten und er bekommt das ganze Königreich. Bei Andersen geht es so: Das Mädchen ziert sich, ist zu fein für einen armen Jungen. Sie werden verjagt, sie muss auf dem Töpfermarkt arbeiten, er kommt vorbei und zertrümmert ihre Sachen. Dann will sie ihn heiraten und er ruft sinngemäß: „Hau ab, du blöde Zicke!“ Das nenne ich Antimärchen.

Verfolgte Andersen politische Ziele?

Er war wenig politisch interessiert. Gesellschaftskritisch war er jedoch. Er kam aus dem Proletariat und drängte sich anfangs auf und trug in feinen Salons Schiller und Goethe in kurzen Hosen vor. Ganz akzeptiert fühlte er sich auch als weltberühmter Dichter nie. Er war gegen „Standesdünkel“ und rächte sich in seinen scheinbar nur liebenswerten Märchen auf subtile Art und Weise.

Zum Geburtstag: Sind 200 Jahre mehr als eine Zahl?

Es ist ein rundes Jubiläum, das halt gefeiert wird. Besonders in Dänemark. Es wurden „Andersen-Botschafter“ ernannt. In Deutschland Nina Hagen zum Beispiel.
Allerdings war Andersen stets lebendig, man braucht ihn nicht wieder zu entdecken.

Welche Angebote gibt es für Studenten am Nordischen Institut?

Es läuft ein Seminar am Nordischen Institut.

Über seine Märchen?

Nicht nur, auch über seine Romane und Reiseberichte. Hätte Andersen nur die Romane veröffentlicht, so hätte er sicherlich einen festen Platz in der dänischen und skandinavischen Literatur.

Günter Grass hat Andersens Märchen illustriert. Weshalb?

Grass ist ein Schriftsteller, der Umgangssprache und Dialekte einsetzt. Er schreibt salopp und frech. Ich glaube, er sieht das auch bei Andersen. Andererseits war er zuerst Bildhauer und damit Künstler wie Andersen, der Scherenschnitte fertigte.

Geschrieben von Uwe Roßner und Kilian Jäger