Greifswalder auf Zeit berichten
Sechs Überlebende einer Erasmuserfahrung in Greifswald hatten nach der Rückkehr an ihre Heimatuniversitäten die Idee, noch etwas weiter zu machen und ein kleines ?Journal international? herauszugeben. Konkret ist daraus nun das Projekt geworden, jeden Monat (oder auch alle zwei) einen Artikel zu schreiben, der die verschiedenen nationalen oder persönlichen Perspektiven auf ein bestimmtes, gemeinsames Thema wiederspiegelt. Das Ergebnis soll dann mehr oder weniger gleichzeitig in Fribourg, Riga, Lublin und Greifswald erscheinen.
Schaut doch mal in die jeweiligen Uni-Magazine, wenn ihr vorbeifahrt! Wer wir sind? Ewa und Aga, Jurastudentinnen aus Lublin (Polen), Andis und Inga aus Lettland, Studenten der Baltistik in Riga, Matthieu aus Fribourg (Schweiz), der Zeitgeschichte studiert und Thomas, ?der Eingeborene?, Student der Politikwissenschaft. Übrigens: Geschrieben wird auf Deutsch und dann jeweils übersetzt – braucht es da noch eines Beweises, dass Sprache verbindet?
PS: Dieser Artikel über das Sommersemester 2004 ist bereits auf Französisch in der Dezember ’04-Ausgabe des zweisprachigen Studentenmagazins „Spectrum“ der Uni Fribourg/Freiburg (Schweiz) erschienen.
Thomas:
Was kann der Eingeborene dazu schreiben? Ich denke, mit Recht behaupten zu können, für Greifswald sind sie zweifellos eine ganz besondere Bereicherung – die Studenten, die aus verschiedenen ?Ecken? Europas und der Welt hierher in den Nordosten der Bundesrepublik kommen. Allein der weite Weg und ihr Interesse an der Fremde ehren uns Einheimische. Durch ihre Beteiligung in den Kursen, aber auch Veranstaltungen im IKUWO, der Mensa und anderswo schaffen sie Gelegenheit zum gegenseitigen Kennenlernen und interkulturellen Erfahrungsaustausch. Sich zu verstehen ist die Basis für Verständigung. Wer sich von den Greifswalder Studenten auf dieses ?Abenteuer? einlässt, kann seinen Horizont erweitern – und, mit eine bisschen Glück, sogar neue Freunde finden…
Inga/Andis:
Immer mehr Studenten von den Hochschulen und Universitäten Lettlands fahren ins Ausland, um ihre Fremdsprachen zu verbessern, etwas Neues in ihrer Studienrichtung zu lernen oder um neue Bekannte und Freunde zu finden.
Wir – zwei Studenten der Philologischen Fakultät der Universität Lettland (Latvijas Universitate) – sind mit dem SOCRATES/ERASMUS-Austauschprogramm nach Greifswald gekommen.
Warum Greifswald? Der Grund ist ziemlich einfach: In Lettland studieren wir baltische Philologie, das bedeutet lettische und litauische Sprache und Literatur – die Sprachen der einzigen ?überlebenden? baltischen Völker. Natürlich ist diese Fachrichtung sehr spezifisch und die Möglichkeiten, sie außerhalb von Lettland oder Litauen zu studieren, sind sehr klein. In Deutschland kann man dies in Mainz und Greifswald machen, aber nur in Greifswald gibt es ein Institut für Baltistik. Dies ist zwar sehr klein aber für uns war es sehr interessant, die Deutschen kennen zu lernen, die sich ?ausgesucht? haben, unsere ziemlich komplizierte Sprache, die noch dazu so wenige Leute sprechen, zu lernen. Einige tun das, weil sie lettische Freunde haben, andere weil sie es sehr exotisch finden.
Wir waren vier Letten im Sommersemester 2004 in Greifswald. Genug, um sich nicht einsam zu fühlen und zu wenig, um sich nur miteinander zu unterhalten. Deswegen hat es uns viel Spaß gemacht, die anderen Austauschstudenten kennen zu lernen – von Sibirien bis Florida, von Schweden bis Spanien. Natürlich war es auch sehr interessant, für einige Monate Teil des deutschen Bildungssystem zu sein, das ganz anders ist als das in Lettland. Das Unvergessliche an dieser Zeit bleibt jedoch nicht die akademische Arbeit, sondern die Leute und die engen Beziehungen, die in so kurzer Zeit zwischen den Menschen so verschiedener Kulturen und Mentalitäten entstanden sind.
Ewa:
Schon seit langer Zeit hatte ich nach einer Möglichkeit gesucht, nach Deutschland zu fahren. Ich denke, eigentlich wollte ich irgendwo hin, etwas Neues erleben, neue Leute kennen lernen.
Zufällig habe ich einmal mit jemandem gesprochen, der schon ein Auslandsstudium im Rahmen des SOCRATES/ERASMUS-Programms hinter sich hatte und ?total? begeistert davon war. Ich dachte: Das will ich auch, davon habe ich geträumt! Sofort habe ich mich an meiner Uni dafür beworben. Ich will unterstreichen, dass ERASMUS in Polen nicht besonders populär und verbreitet ist. So funktioniert die ganze Infrastruktur auf der Uni-Seite sehr schlecht. Alle erforderlichen Dokumente sind ?vom Studenten-Kopf? zu erledigen. Die Zeit vor der Abfahrt war ?ein Kampf gegen die Bürokratie?. Es lohnt sich aber, diesen ?Preis? für spätere, großartige Erfahrungen und Abenteuer zu bezahlen!
Anfangs wollte ich für ein Jahr nach Hannover – das klappte aber nicht und ich habe den Platz in Greifswald bekommen. Ich muss zugeben, dass ich sehr enttäuscht war. Greifswald – was ist denn das? Eine kleine Stadt irgendwo in Norddeutschland, von der niemand gehört hat, und noch dazu in der ehemaligen DDR! Aber besser das als nichts, dachte ich.
Heute weiß ich jedoch, dass ?jemand? alles gut geplant und die richtige Entscheidung getroffen hat. Ich habe eine Art von Paradies gefunden: nämlich Greifswald. Dort habe ich zwar nur ein Sommersemester studiert, aber während dieser Zeit habe ich mehr gelernt als an meiner Heimatuni in vier Jahren. Es handelt sich nicht um „wissenschaftliche, akademische Forschung“ im engeren Sinne, sondern um ?Lebensforschung?: zwischenmenschliche Kontakte und Freundschaften, die Horizont erweitern. Früher hatte ich keine Ahnung von der Schweiz, Lettland, Spanien, Estland – jetzt bedeutet jedes Land für mich etwas anderes und hinter allen Ländern stehen für mich wichtige Personen. Außerdem ist es ein wunderbares Gefühl, wenn man in jeder Ecke der Welt jemanden hat. Aus dieser multikulturellen Mischung kann jeder etwas Wichtiges und Neues für sich selbst gewinnen. Unbekanntes wird plötzlich bekannt und das finde ich besonders schön und wertvoll.
Das Leben in Greifswald ist leider schon vorbei, das bedeutet aber nicht, dass sich damit alles beendet hat. Zum Glück geht ?unser? Erasmusleben weiter und entwickelt sich, was auch viele neue Ideen für die Zukunft bringt. Meiner Meinung nach verstehen sich alle Leute, die an solchen Veranstaltungen (wie SOCRATES/ERASMUS) teilgenommen haben, ohne Worte – und es ist egal, wo sie ein Austauschstudium gemacht haben. Ich bemerke, dass eine Art von ?Erasmusbevölkerung? existiert.
Geschrieben von Matthieu Gillabert / Thomas Müller