Liebe Leser, nach den Vorfällen der vergangenen Woche hat sich Torsten Heil auf eigenen Wunsch aus dem Kolumnenprojekt zurückgezogen. Wir bedauern diese Entscheidung, wenngleich wir Verständnis dafür haben. An diesem und den nächsten zwei Dienstagen erwarten euch nun Kolumnen von Gastautoren.
Samstagabend auf einem Dorffest in der mecklenburgischen Provinz: Es schüttet aus allen Schleusen des Himmels, die Menschen drängeln sich unter die wenigen Zelte. Während ich noch überlege ob ich unter der winzigen Überdachung des Getränkeausschanks stehenbleibeoder ob ich durch den strömenden Regen zum Zelt laufen soll, gesellt sich ein Mann mittleren Alters zu mir. „Drei Whiskey-Cola, aber ordentliche!“ bestellt er.
An der Artikulation glaube ich wahrzunehmen, dass das nicht die ersten drei heute Abend sind. Der Mann ist vielleicht Anfang vierzig, nicht muskulös aber drahtig. Sein Gesicht ist kantig und trägt die Art von Bräune die nicht vom letzten Teneriffa-Urlaub stammt. Er sieht aus wie ich mir jemanden vorstelle, der sein Geld mit eigener Hände Arbeit verdient.
Dann dreht er sich zu mir: „Scheißwetter“, raunt er. Und da ich auf dem ganzen Fest nur zwei Leute kenne, ergreife ich die Gelegenheit beim Schopf und versuche Konversation zu machen. „Das hört bestimmt gleich auf“, antworte ich freundlich. Der Mann schaut mich verkniffen an: „Biste’n Bauer?“ – „Nein“ – „Dann haste auch keine Ahnung.“ Er greift die drei Pappbecher vom Tresen und verschwindet in den Regen Richtung Zelt. Das war’s. Der Versuch des Smalltalks zwischen angehendem Akademiker und der vermeintlich einfachen Bevölkerung ist geplatzt.
Einmal mehr muss ich erkennen, dass die Bodenhaftung meines Lebens irgendwo auf dem Weg zwischen Oberstufe und Studium verlorengegangen ist. Ich bin und bleibe ein Kind der Oberschicht, als behütetes Nesthäkchen in der Stadt aufgewachsen: Ein Spießer.
Ich kann keine politische Diskussion führen, ohne Verständnis zu haben – für andere Positionen, für die menschlichen Schwächen der Volksvertreter und die Sachzwänge der Gesetzgebung. Ich kann mich nicht über Boxen unterhalten, ohne durchscheinen zu lassen, dass ich es abartig finde, dass die Prügelei zweier erwachsener Männer ein Fernsehgroßereignis ist. Und ich kann auch nach fünf Bier keine abgedroschenen Witze über Frauenfußball machen, ohne dabei über Gleichstellung, Quoten und längst depublizierte Glossen studentischer Medien nachzudenken.
Aber ich würde es gerne. Ich würde gerne Partys toll finden, die ohne musikalische Cross-Over-Indie-Nonkonformisten, ohne dadaistische Showeinlagen, ohne hippe Club-Mate-Mischgetränke auskommen. Schwelgend in einer Zufriedenheit des Augenblicks, nicht auf der Suche nach der nächsten innovativen Veranstaltungskonzeption. Eigentlich finde ich es auch toll, bei Bier und 80er Jahre Chart-Musik mit Freunden zu quasseln, aber ich würde es nie öffentlich zugeben. Das Fleisch ist willig, aber der Geist…
Ein Freund von mir wird demnächst heiraten – Standesamt, Polterabend, Kirche – jetzt soll es auch noch einen Junggesellenabschied geben. Ich habe keine Ahnung was man an so einem Abend machen soll, trotzdem plane ich mit. Und ich weiß jetzt schon, dass es passiert. Irgendwann wird es einer vorschlagen, vielleicht jemand, von dem ich es gar nicht erwarte, vielleicht auch der größte Klischeemacho: „Lasst uns in ‘nen Stripclub gehen!“ Und ich werde mich wieder als Spießer outen.
Fotos: Christine Fratzke (Porträt), Jakob Pallus (Grafik),“Jakob’chen (!)“ via www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc-nd)
Dieser Text ist Teil des webMoritz-Projekts „fünf x fünf – Die Kolumne“. Vom 20. Juni bis 22. Juli schreiben werktags fünf Autoren an je einem festen Tag eine Kolumne für den webMoritz. Weitere Infos gibt es hier. Morgen ist an der Reihe: Sophie Lagies
🙂 Sehr schön! In meinen Augen die bisher beste Ausgabe von fünf x fünf, inhaltlich wie formal sehr unterhaltsam und trotzdem bleibt der Denkanstoß hängen: Wann hab ich meine "Bodenhaftung" verloren und kann oder soll man da noch was machen?
Sehe ich ähnlich. Irgendwie die erste Kolumne mit einer Aussage, die das Textende überlebt. Für die Sache mit der Bodenhaftung gibts mehrere Ansätze, sie wieder einzufangen.
nebenher bitte hier nochmal nacharbeiten: "muskolös" , "Klischemacho" und anschließend gerne den zweiten Teil dieses Kommentares löschen…
Jetzt auch mit dem richtigen Account: Korrigiert, danke.
Da stellt sich doch die Frage, warum "Menschen aus sozial benachteiligten Gruppen" die Reflexionsfähigkeit fehlen soll. Im Übrigen liest sich der Kommentar für mich arg großväterlich, siehe "wir, als teil der gebildeten Oberschicht" oder auch "insgeheim spüren sie…" Was die substanzlose Provokation am Ende soll, erschließt sich mir zudem nicht. Insofern: "So einfach kann man es sich nicht machen und daher finde ich diese[n Kommentar] auch nicht besonders gelungen."
Ehrlich gesagt, finde ich, dass gerade dein Kommentar mehr Arroganz gegenüber "der Unterschicht" enthält, als der obige Artikel. Wieso reduzierst du die Gruppe, von der sich der Autor losgelöst fühlt auf diese RTL-Hartz-IV-Stereotypen? Was ist mit dem Zimmermann, der einen kleinen Betrieb aufgebaut hat, jeden Tag viel und mit Spaß arbeitet, sich aber auch über dass alljährliche Dorffest freuen kann? Was mit dem Bauern, der sich stundenlang über Traktoren und Maschinen unterhalten kann und dabei das Grinsen nicht aus dem Gesicht bekommt? Was mit der Verkäuferin im Discounter, die jeden Tag gut gelaunt mit ihren Stammkunden plaudert? Mit denen kannst du nicht (unbedingt) über Gender-Fragen o.Ä. diskutieren. Erkenntnis oder oder allzu abgehobene Diskussionen sind doch kein Indikator für Glück, aggressive Alkoholiker-Existenzen gibt es auch im akademischen Bereich. Ebenso kann ich in dem Artikel nicht erkennen, dass diese Gleichung aufgemacht wird.
Die Frage ist nicht, wer ist glücklicher, der Punkt wurde hier gar nicht angesprochen. Viel mehr stellt sich die Frage wie und wieso man sich abgrenzt. Ob diese Abgrenzung trotz klarer Interessensdifferenzen sinnvoll ist. Bringt es etwas, wenn man diese Grenze in guter Absicht aufweichen will, indem man mit gewissen Personen versucht ins Gespräch zu kommen, sei es wie oben beschrieben übers Wetter? Ich habe wie Herr Schönebeck des öfteren erlebt, dass das bei aller Mühe einfach nicht akzeptiert wird.
Die angenehmsten Gespräche führt man unabhängig von Intelligenz oder, was man als solche bezeichnet, erst, wenn gemeinsame Interessen vorhanden sind. Das "gruppenübergreifendste" Thema, das ich hier kenne, ist z.B. Musik. Über das tolle AC/DC Konzert kann sich auch ein Doktorand mit nem KFZ-Mechaniker unterhalten und schon ist die Grenze überwunden und schwups ist man überrascht, wie gleich doch die Probleme sind, denen beide Existenzen alltäglich begegnen.
In meinen Augen ist es durchaus sinnvoll, dass sich in einer Gesellschaft Gruppen bilden: Niemand möchte ständig von zig Leuten umgeben sein, die nicht ansatzweise die gleichen Interessen oder die gleiche Meinung teilen, das ist bei aller Toleranz einfach zu anstrengend und macht einsam/unglücklich. Qualitativ gibt es zwischen den Gruppen aber selten grundlegende Unterschiede. Und deswegen ist es in meinen Augen nicht richtig, von Leuten zu reden, die mehr Glück hatten (wenn du mal z.B. mit einem Gärtnermeister sprichst, wird er dich kaum beneiden, dass du an der Uni sitzen darfst und später irgendwo im Büro – auch wenn mich die überpolitisch korrekten jetzt zerreißen werden, aber in dem Sinne hat der Spruch schon seine Berechtigung: Jedem das Seine). Insofern ist es durchaus sinnvoll, die Grenzen zwischen den Gruppen nicht ins absolute expandieren zu lassen, sondern den Leuten auf beiden Seiten zu zeigen, dass das ein künstliches Konstrukt ist, das nicht Apfel von Birne trennt, sondern höchstens den roten, weichen Apfel von dem grünen, sauren Apfel.
Das Wesentliche haben die Kommentatoren über mir schon gesagt. Als Kind der "Unterschicht", das sich jetzt in der akademischen Schicht herumtreibt, kann ich dem Autoren in vielerlei Hinsicht Recht geben. Auch ich frage mich, wenn ich daheim, unter alten Freunden und Bekannten auf irgendwelchen Provinzfesten bin, wann ich mich in dieser Art von ihnen entfernt habe. Einst waren es Noten, die uns trennten. Heute ganze Weltbilder. Und als unglücklich kann ich diese Leute auch nicht unbedingt beschreiben. Als dumm genauso wenig, denn es gibt eine Intelligenz, die sich bei aller akademischer Ausbildung nicht erklären lässt und die ich in dieser Schicht schon oft beobachtet habe.
Die Polemik am Ende ist nun völlig unpassend und liegt mitnichten klar auf der Hand. Im Gegenteil, denn von allen Gesellschaftswissenschaften sind Jura und BWL diejenigen, mit dem höchsten Grad an Praxisbezug.
Zuletzt: Als gebildeter und reflektierter Mensch aus sozial sicheren Verhältnissen bedienst Du übrigens selbst wunderbar ein Klischee: Das des Oberschichtenkindes, dass für seinen Dasein nie selbst arbeiten musste, wenig Hindernisse überwinden. Zum Glück ist auch dies nur ein Klischee und nicht der Standard.
Die Polemik am Ende ist leider viel zu treffend, um sie an dieser Stelle nicht zu bringen, denn Jura und BWL sind effektive Instrumente der herrschenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse. BWL und Jura haben nur einen Praxisbezug, wenn man den Kapitalismus als einzige Möglichkeit zu wirtschaften propagiert und noch nicht gemerkt hat, dass das Recht , überwiegend zur Scheinlegitimation von rationalem und ethischem Unrecht missbraucht wird. Gerade weil sich die allermeisten Jura- und BWL-Studierenden, dessen nicht bewusst sind, sondern mangels Intelligenz und mittels Bildung einfach nur mitspielen (meist für ein unbeschwertes Leben mit Haus, Hund, Familie und Garten) ohne zu bemerken, dass sie anderen Lebewesen und sich selbst bzw. ihren Nachfahren die Lebensgrundlagen entziehen, deswegen gelten insbesondere Jura- und BWL-Studierdende (aber auch viele Studierende aus anderen Fachrichtungen) als "dumm und glücklich".
btw: "denn es gibt eine Intelligenz": die sich emotionale (früher: soziale) Intelligenz nennt und die unabhängig vom Bildungsstand ist, aber leider vielen Menschen fehlt, da sie sich selbst am nächsten sein wollen (z.B. Besitz und Eigentum anhäufen), aber nicht wissen, wie wichtig eine soziale Umwelt/Gesellschaft ist. Naja Menschen eben.
Dem ersten Absatz möchte ich widersprechen. Es bleibt festzuhalten, dass eine Gesellschaft Wirtschaft braucht. Das wird schon daran deutlich, dass auch die DDR BWLer ausbildete. Sie entziehen also nicht anderen die Lebensgrundlage, sondern sind viel mehr unumgänglicher Teil eines funktionierenden Wirtschaftssystems, denn ohne funktionierende Wirtschaftsprozesse kann keine (eine Ausnahme vllt.) Gesellschaft existieren. Alles was die Menschen konsumieren, muss nämlich erst erwirtschaftet werden.
Die Frage nach Recht und Gesellschaft wiederum stellt sich schon in Grundzügen des Studiums auch den Juristen. Wie weit es der Student vertieft, bleibt ihm überlassen. Es gibt mit dem Anarchismus m. W. genau eine Gesellschaftsform, die auf gesetzliche Regelungen verzichtet, jede andere macht davon jedoch regen Gebrauch und ist daher auf Juristen angewiesen – die geltendes Recht und Gesellschaft in Einklang bringen.
Unter'm Strich bleibt daher festzuhalten, dass gerade die Wirtschafts- und Rechtswissenschaften gesellschaftsformunabhängig sind.
Du hast in Deinem ersten Satz noch einen Ansatz zur Systemkritik, den ich mal überspringe.
Zum letzten Absatz. Ich danke für die Konkretisierung. Gibt es dazu eigentlich wissenschaftliche Beschäftigungen? Ich habe diese Form der Intelligenz besonders häufig, aber nicht ausschließlich, in den sog. "bildungsfernen Schichten" vorgefunden und hatte überlegt, ob zunehmendes Wissen bzw. materielle Intelligenz und emotionale Intelligenz sich an einem Punkt ausschließen können. Oder ist es vllt. Wohlstand? Bislang war jedoch keine versuchte Regel allgemeingültig.
"wie wichtig eine soziale Umwelt/Gesellschaft" Nichts, was offensichtlich ist, oder? Vllt. mag es daran liegen.
Soweit ich informiert bin, ist das Feld der Intelligenz ganz gut abgeforscht und man differenziert sehr viele Formen von Intelligenz.
Zum BWL-Jura-Problem hat sich Wayne ja schon geäußert, kann ich nur abnicken. *nick*
Hast Du ne Lese- oder, besser noch, Buchempfehlung zu dem Thema?
Eure Auffassung kann man teilen, muss man aber nicht 😉
Ashburn Avenue sagt:
5. Juli 2011 um 10:57
»Warum gibt es so viel Gewalt in den Familien der Unterschicht[?] (…) insgeheim spüren sie durchaus das [sic] es im Leben mehr geben könnte außer [sic] Fußball und Autotuning, aber als Antworten haben sie nur Alkohol und Gewalt. Ich will hier jetzt kein zu einfaches Bild zeichnen oder in Stereotypen sprechen (…)«
_Fail_
_rofl_
_rofl_ + 1!!
Mariano, vielleicht könntest du deine Aussage etwas präzisieren, sonst wird das nix mit der Diskussion. Und wir sind hier ja nicht bei twitter, du kannst ruhig mehr als 140 Zeichen verwenden…
Wenn ich das hier lese werd ich richtig agressiv.
Wie kann man sich selbst nur so feiern nur weil man ein paar Semester an der Uni hinter sich gebracht hat.
Glaubt ihr wirklich, dass der normale Angestellte ohne Abitur und akademischen Abschluss nicht intelligent oder gebildet sein kann? Würdet ihr euch mal dazu herablassen mit einigen von diesen Leuten (vielleicht auch mal bei 1-2 Bierchen) zu reden, wärt ihr überrascht wie schnell sie doch euer ach so schön aufgebautes Kartenhaus aus Bücherwissen, Definitionen und teils veralteten Theorien zusammenstürzen lassen können.
Leute die ihre Fähigkeiten durch die tägliche Praxis erlernt haben und mittlerweile rein intuitiv Dinge ausführen die unsereins sich teilweise qualvoll zur Klausur in den Kopf "prügelt" oder Leute die durch ihre "unterschichten"freunde so viele Missstände sehen, so viele Fehler in der Gesellschaft, so viele Ideen hätten wie man es besser und leichter machen könnte….und die im Laufe der Zeit einfach nur aufgegeben haben darüber zu reden, weil sich ja doch nichts ändert.
Also kommt mal wieder runter von eurem hohen Ross.. letztendlich kochen wir alle nur mit Wasser.
kein grund zum überkochen, auch wenn's nur mit wasser ist.
erstaunlich, wie extrem ein text misinterpretiert werden kann. genau das, was du schreibst, hat der autor doch eigentlich gemeint.
Mein Beitrag war auch eher auf die Kommentare hier bezogen..