Letzte Woche schlug eine Pressemitteilung der Stadt Greifswald mit der Einladung zur ersten Bürgerversammlung zum kommunalen Klimaschutz in der ganzen Republik hohe Wellen und in Münster ein wie eine Bombe. Greifswald stieß in dieser kurzen Einladung Münster vom Thron und gab sich selber den Titel „Fahrradhauptstadt“.

Fahrradfahrer auf dem Wall, Foto Torsten Krüger

Die Stadt nennt dieses Bild "Fahrradfahrer auf dem Wall". Tatsächlich ist aber wohl eher am neuen Campus...

Unglücklich, aber sehr provokativ wurde darin die Information gestreut, dass Greifswald einen Anteil von 44 Prozent Fahrradfahrern am Gesamtverkehr hat, Münster dagegen nur 38 Prozent. Die Stadt mit einem König als Bürgermeister verlieh sich nun noch den Hauptstadtstatus. Fahrradhauptstadt Greifswald!

Grundlage dieser Zahlen ist die Verkehrsumfrage der Stadt im Mai, die das geographische Institut der Universität durchgeführt hat.

Bereits im Juli wurden die ersten Ergebnisse präsentiert. Am Dienstag präsentierte Projektleiterin Dr. Ruth Bördlein vom geographischen Institut der Uni auf der Bürgerversammlung die kompletten Ergebnisse der Untersuchung. 1.036 Personen nahmen an der Befragung zum Modal-Split (Anteil der Verkehrsmittel am Personenverkehrsaufkommen) teil und listeten detailliert ihr Mobilitätsverhalten auf.

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Modal-Split in Greifswald

So kamen Daten von insgesamt 3.500 Wegen zusammen. Besonders auffällig war hierbei der hohe Anteil der Radfahrer. Während im Bundesdurchschnitt der Fahrradfahreranteil bei nur 10 Prozent und in Münster der bisherigen so genannten Fahrradhauptstadt bei 38 Prozent liegt, kamen 44 Prozent in Greifswald zusammen. 31 Prozent fuhren mit einem Auto oder Motorrad (davon 9 Prozent als Mitfahrer), 21 Prozent gingen zu Fuß und ganz abgeschlagen lag der Öffentliche Nahverkehr mit nur 2 Prozent weit hinten.

In Münster sorgte die Pressemitteilung für heftige Reaktionen in der Lokalpresse. Da schimpften Redakteure und Leserbriefschreiber über „unverschämtes Ossi-Volk“ und entdeckten über eine Webcam auf dem Marktplatz angeblich keinen einzigen Fahrradfahrer. Leider steht keine Webcam an der Europa-Kreuzung…

Kommentar von Oliver Wunder

Die Leute fahren hier nicht wegen guter Wege Rad, sondern trotz der schlechten.  Wieso ist die Stadt auf dieses Ergebnis so stolz? Das Mobilitätsverhalten wurde eindeutig nicht durch verkehrspolitische Maßnahmen erreicht. Das Verhalten des Großteils der 12.200 Studierenden und der normalen Bevölkerung wird als vermeintliche Eigenleistung und Legitimation der Stadt verkauft. Dabei hat die Stadt erst vor kurzem damit begonnen, die Radfahrer verkehrspolitisch wahrzunehmen und nun die miserable Infrastruktur zu verbessern.

Viele Faktoren, darunter der Zustand der Radwege, wenn vorhanden, die Beleuchtung, ständig Glasscherben und und und erschweren in Greifswald eher den Radverkehr, als dass es positive Anreize gibt, das Rad zu benutzen. Daher ist das Ergebnis tatsächlich erstaunlich. Ein Beispiel: In Münster gibt es 293 Kilometer eigenständige Fahrradwege, in Greifswald 14. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl hat Münster vier Mal mehr Fahrradwege.

Die Busse der Stadtwerke bieten keine gute Alternative zur Fortbewegung, das zeigt sich im schlechten Abschneiden bei der Befragung. Der Schwung aufs Rad ist daher wahrscheinlich den kurzen Wegen – 95 Prozent der Bevölkerung wohnen innerhalb eines 3-Kilometer-Radius – und der Unatraktivität des Autoverkehrs zu verdanken.

Räder vor dem Biotechnikum, Foto Torsten Krüger

Räder vor dem Institut für Biochemie

Fahrradhauptstadt? Das klingt reißerisch und das sollte es vermutlich wohl auch. Doch was legitimiert einen dazu, so einen Titel zu tragen? Die bloße Zahl an Radfahrern? Die Summe aller Fahrräder? Der Anteil des Radverkehrs an der Wahl der Verkehrsmittel? Greifswald ist nach diesen Ergebnissen zumindest was den Anteil des Radverkehrs an der Wahl der Verkehrsmittel betrifft auf Position 1, doch Fahrradhauptstadt kann sich die Stadt nicht nennen. „Greifswald die Fahrradstadt, das kann man auf Grund der Daten schon sagen“, so Bördlein.

Vielleicht fallen bei einigen Lokalpolitikern endlich die Groschen und es kommt zu einem fahrradfreundlichen Ausbau der Infrastruktur.

Einen durch Lokalpolitiker und Medien geschürten „Fahrradkrieg“ zwischen Münster und Greifswald gibt es aber nicht. Greifswald muss von Münster lernen. Dort ist die Stadt wirklich fahrradfreundlich. Hier gibt es noch vieles zu verbessern. Keine Zeit, sich auf selbst vergebenen Titeln auszuruhen.

Bereits die Grünen und der Fleischervorstadt-Blog beschäftigten sich mit dieser Thematik.

Fotos: Torsten Krüger (via städt. Pressestele), Studie