Könnt ihr es auch kaum glauben? Es ist schon wieder Ende Dezember. Um die vergangenen 12 Monate in unserer Stadt noch einmal Revue passieren zu lassen, nehmen wir euch mit durch die Höhen und Tiefen, die Greifswald in dieser Zeit erlebt hat.
kontroverse Volksentscheidungen
Fangen wir also an mit dem Januar … – Ne! Wir beginnen mitten im Jahr, sozusagen in medias res. Der Juni stand im Zeichen des Bürgerentscheids über die Verpachtung von Grundstücken des Landkreises, zwecks der Errichtung von Flüchtlingsunterkünften. Klingt kompliziert? Dieser Artikel des webmoritz zeigt noch einmal die Hintergründe des Entscheids auf, der bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Die Greifswalder Bürger votierten mit 65 Prozent gegen die Verpachtung für Flüchtlingsunterkünfte. Auch wenn diese Abstimmung keinen Einfluss auf die Anzahl der Menschen hat, die nach Greifswald kommen, wurde das Ergebnis als Signal gegenüber der allgemeinen Migrationspolitik gewertet. Eines ist sicher, diese Thematik wird Greifswald auch im nächsten Jahr beschäftigen.
Ja oder Nein: Eine Frage, über die viel diskutiert wurde. Foto: Adrian Siegler
Eine echte Premiere: Der erste Dies Academicus der Universität Greifswald
Böse Zungen könnten behaupten, dass manche Dinge eben etwas länger brauchen, um zu uns in den tiefen Nordosten zu gelangen. Was an anderen Universitäten schon Usus, Gewohnheit oder Ritual ist, soll auch an der Universität Greifswald etabliert werden. Der Dies Academicus, eine Art akademischer Feiertag, bringt im Idealfall alle Mitglieder einer Uni näher zusammen. In Greifswald geschah dies durch Podiumsdiskussionen zur Zukunft der Lehre, akademische Preisverleihungen, ein breites Sportangebot oder auch den Markt der Fachschaftsräte. Habt ihr den Dies Academicus besucht? Man kann gespannt sein, was 2024 alles geboten wird. Dann wird der akademische Feiertag am 29. Mai begangen.
Bald Profifußball im Greifswalder Volksstadion?
2018 noch in der Verbandsliga (6. Liga) zu finden, befindet sich der Greifswalder FC Ende 2023 auf dem besten Weg in die 3. Liga, was den Schritt in den deutschen Profifußball bedeuten würde. In der gesamten Saison, seit Ende Juli, haben die Boddenkicker kein einziges Spiel verloren und stehen mit fünf Punkten Abstand an der Tabellenspitze. Trotz einer neu zusammengestellten Mannschaft und neuem Trainer gelang es dem GFC, bis zur Winterpause Mitte Dezember namhafte Teams, wie den ehemaligen Bundesligisten Energie Cottbus, hinter sich zu lassen.
Die Tabellenspitze der Regionalliga Nordost: Greifswald überwintert an der Spitze. Quelle: Kicker.de
Vielleicht sehen wir im nächsten Jahr auch ein Mecklenburg-Vorpommern-Derby in der 3. Liga: Hansa Rostock befindet sich in der 2. Bundesliga in akuter Abstiegsgefahr. Ein Abstieg Rostocks mit dem gleichzeitigen Aufstieg von Greifswald würde für ein Aufeinandertreffen der MV-Clubs sorgen. Mecklenburg-Vorpommern als neue Fußball-Hochburg. Klingt gut, oder nicht?
Schrecken in Schönwalde: Fund einer zerstückelten Leiche
Mitte Oktober: Die Studierenden kommen nach einer erholsamen Pause voller Elan zurück in ihre Studienstadt, die bunt gefächerte Blätterpracht sorgt in der Herbstsonne für eine schöne Atmosphäre. Das ist die Idealvorstellung. Im vergangenen Oktober gab es aber eine Nachricht, die einen Schatten über die Stadt warf. Die zerstückelte Leiche eines 38-Jährigen wurde in einer Wohnung in Schönwalde gefunden. Ein Verbrechen, völlig konträr zu dem sonst ruhigen Kleinstadtflair. Im Artikel des NDR findet ihr weitere Hintergründe zu der Tat, die als dunkle Erinnerung des Jahres 2023 im Gedächtnis bleibt.
Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?
Kommen wir aber wieder zu leichteren Themen: dem Wetter. Die heiße Jahreszeit, die uns eigentlich zum Sonnenbad nach Eldena oder Lubmin zieht, hat 2023 ziemlich enttäuscht. Auch wenn es natürlich einige schöne Tage gab, beweist die Statistik, dass der Sommer dieses Jahr eher ein Lowperformer war. Die Daten von wetterkontor.de attestieren Greifswald 30 Sommertage. Das sind Tage, an denen der Tageshöchstwert über 25 Grad Celsius lag. Laut dem langjährigen Mittel von 1991 bis 2020 dürfte man aber mit knapp 50 Tagen rechnen. Enttäuschend, nicht wahr? Immerhin hatte der heißeste Tag des Jahres in Greifswald ein geradezu perfektes Timing. Am 15.07. konnten die Greifswalder*innen 33.2 Grad genießen – oder ertragen, je nachdem wie man es interpretiert. Der Tag war gleichzeitig auch der Samstag des alljährlichen Fischerfestes, sodass die Volksfestbesucher auch in den späten Abendstunden noch in sommerlicher Kleidung feiern konnten. Der kälteste Tag ist übrigens noch gar nicht allzu lange her. Am 01.12. wurde bei -7.7 Grad gefroren. Die vom Schnee verzauberte Landschaft konnte aber einiges wieder wettmachen.
Der heißeste Tag des Jahres: Der fiel dieses Jahr auf den 15.07., den Samstag des Fischerfestes. Foto: Simon Fortmann
Ein Jahr ChatGPT: Sind wir in der Zukunft angekommen?
2023 war das erste (komplette) Jahr, indem wir die Vorteile, aber auch die Bedrohungen der künstlichen Intelligenz des Chatbots der amerikanischen Firma OpenAI erleben konnten. ChatGPT entwickelt sich immer weiter, sodass 2023 wohl nur Jahr eins in der Zeitrechnung des KI-Zeitalters bleibt. Dass die Technologie auch im Studium ganz hilfreich sein kann, haben viele von euch wahrscheinlich schon längst gemerkt. Im Juli veröffentliche die Universität Greifswald eine Grundsatzerklärung zu KI in der Lehre. Im Februar sprachen wir aber schon mit dem Prorektor für Digitales über die neue Herausforderung, wie ihr in diesem webmoritz-Artikel nachlesen könnt.
2024: Eine kleine Preview
Am Ende dieses Jahres blickt jeder von uns zurück auf 365 Tage, die mal spannend oder eintönig, himmelhochjauchzend oder zutiefst betrübt, anstrengend oder zum Genießen waren. Der Rückblick ist ganz bewusst ohne Anspruch auf Vollständigkeit verfasst. Schreibt uns also gerne, welches euer ganz persönliches (Greifswald) Highlight 2023 war.
2024 bietet neben einem Bonustag, es ist ja schließlich ein Schaltjahr, viele Gründe für Vorfreude. Allem voran natürlich der 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich, der in Greifswald mit einem ausgiebigen Programm gefeiert wird. Was genau dort geboten wird, erfahrt ihr bald hier auf dem webmoritz. Die Sportfans unter euch freuen sich sicher auf die Europameisterschaften im Handball und Fußball in Deutschland, die im Januar bzw. im Juni und Juli stattfinden. Es stehen auch wichtige politische Entscheidungen an, mit Bürgerschafts-, Kreistags- und Europawahlen am 9. Juni in Greifswald. Bei alledem wird der webmoritz euch natürlich bestmöglich auf dem Laufenden halten.
Im Juni 2023 wurde bereits ein Artikel beim webmoritz publiziert, der über den Stand der Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit informiert. Der bisherige Stand ist offensichtlich unzureichend.
In den wenigen Jahrzehnten, in denen das Deutsche Kaiserreich eigene Kolonien besaß, beging es bereits schwere Menschheitsverbrechen an der indigenen Bevölkerung. Der deutsche Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, war einer der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts. In Deutsch-Südwestafrika wurden zudem Strafarbeiterlager betrieben, die wie später im Nationalsozialismus Konzentrationslager hießen, und den Nazis als Vorbild für ihre noch brutaleren Konzentrationslager dienten. Schädelvermessungen und andere rassistisch-biologische Untersuchungen wurden auch bereits in dieser Epoche begonnen. Bis heute fehlt dazu eine offizielle Entschuldigung der Bundesregierung.
Kolonialzeit als Schwachstelle einer eigentlich sehr guten Aufarbeitung eigener Geschichte
Dabei ist die kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte eigentlich eine Stärke Deutschlands. Wohl kaum ein Land befasst sich mit einer unmoralischen Epoche seiner eigenen Geschichte so intensiv wie Deutschland mit dem Nationalsozialismus. Das ist auch völlig richtig und muss unbedingt so bleiben. Dennoch muss es zusätzlich auch möglich sein, sich mit vorherigen Verbrechen der eigenen Geschichte ebenfalls kritisch zu befassen. Hier steht Deutschland erst ganz am Anfang. Erst in den 2010er Jahren begann das Auswärtige Amt anzuerkennen, dass die brutale Niederschlagung der Herero- und Nama-Aufstände und deren Vertreibung in eine Wüste, um sie verdursten zu lassen, ein Völkermord waren. Die Verhandlungen über eine Entschädigung liefen stockend, auch weil die Bundesregierung immer wieder versucht hat, die deutschen Verbrechen zu marginalisieren.
Änderungen in der Aufarbeitungspolitik notwendig
Lange überfällig wäre eine aufrichtig wirkende Entschuldigung, die nicht direkt wieder eine Einschränkung enthält. Zudem müssten die Gespräche nicht nur mit der namibischen Regierung, sondern auch mit Vertreter*innen der Herero und Nama geführt werden, um wirklich mit den Opfern in Kontakt zu kommen. Stattdessen wurde lange versucht, eine Anerkennung als Völkermord zu verhindern, weil die UN-Definition dazu erst 1955, also später, entstand. Eine juristische Aufarbeitung wurde entschieden abgelehnt, weil die Verbrechen längst verjährt seien.
Hinzu kommt, dass die Verbrechen der deutschen Kolonialzeit in der deutschen Bevölkerung nahezu überhaupt nicht präsent sind. Natürlich kann man eine solche öffentliche Erinnerung nicht wirksam direkt per Gesetz beschließen, aber es wäre möglich und dringend notwendig, die notwendigen Voraussetzungen dazu in der politischen Bildung zu schaffen. Im Geschichtsunterricht ist das Thema bislang nahezu überhaupt nicht präsent. Eine Schwerpunktsetzung auf dieses Thema in den Lehrplänen würde eine deutlich intensivere Erinnerung und Diskussion mit dieser verbrecherischen Epoche der deutschen Geschichte ermöglichen. Auch gibt es bislang keinen zentralen Gedenkort für die Opfer des Genozids. Die Errichtung eines solchen Mahnmals und die Schaffung weiterer lokaler Gedenkorte könnte eine Erinnerung und Aufarbeitung ebenfalls erheblich verbessern. Es wäre auch möglich, Gedenkstätten für deutsche Kolonialismuskritiker*innen im Kaiserreich oder Widerstandskämpfer*innen in den Kolonien zu errichten. Diese Maßnahmen würden langfristig für eine deutlich effektivere Aufarbeitung sorgen.
Zudem müsste Deutschland in den Verhandlungen mit Namibia erheblich mehr Entgegenkommen zeigen. Das würde diese erheblich beschleunigen und vereinfachen und wäre ein wichtiges Signal der Einsicht an die Nachfahren der Betroffenen. Ein Abkommen über Entschädigungszahlungen mit einer offiziellen Entschuldigung könnte auch eine weitere Aufarbeitung und gesellschaftliche Diskussionen in Deutschland und Namibia ermöglichen.
Gegenargumente nicht plausibel
Es wird immer wieder eingeworfen, dass andere europäische Staaten eine viel intensivere und längere Kolonialzeit mit deutlich mehr Verbrechen als Deutschland hätten und dort solche Diskussionen trotzdem nicht geführt werden würden. Diese Punkte sind zwar richtig, aber kein sinniges Argument. Schließlich beschäftigt sich Deutschland bereits jetzt sehr viel intensiver mit den Verbrechen seiner Vergangenheit als sehr viele andere Staaten, indem es die Verbrechen von Nationalsozialismus und Holocaust immer wieder in der Öffentlichkeit wachruft und diskutiert. Dieses Stellen der eigenen Vergangenheit ist eine Stärke Deutschlands, auf die wir Deutschen stolz sein können, und keine Schwäche. Deshalb ist es aber zwingend notwendig, dass wir dazu bereit sind, uns auch den Fehlern unserer Vergangenheit vor dem Ersten Weltkrieg zu stellen, also der Kolonialzeit. Wenn wir dann die einzige Nation sind, die sie aufarbeiten, sind wir die einzigen, die bereit sind, richtig zu handeln und sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Das ist positiv, nicht negativ.
In diesem Sinne würde eine intensive Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit die Erinnerung an den Nationalsozialismus keinesfalls gefährden. Sie wäre im Gegenteil die Ergänzung, die notwendig ist, um wirklich ehrlich sagen zu können, dass wir uns den Verbrechen unserer Vergangenheit stellen und sie als Mahnung für die Zukunft verstehen. Diese Aussage ist nur dann wirklich glaubhaft, wenn sie alle begangenen Verbrechen miteinbezieht.
Fazit
Folglich gäbe es etliche Möglichkeiten, die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus erheblich zu beschleunigen und zu verbessern. Das könnte auch der Beginn einer neuen Epoche in den diplomatischen Beziehungen zu den Staaten, die einst deutsche Kolonien waren, werden. In einem Zeitalter, in dem die Rolle Europas in der Weltpolitik zunehmend geringer wird, erscheint das nicht nur moralisch, sondern auch geopolitisch-rational ratsam.
Der Enkeltrick ist heutzutage vor allem eines: notorisch. Notorisch für seine Primitivität. Das denkt zumindest meine Generation, welche aus genau diesem Grund den Gefahren und Folgen dieser Betrugsmasche wenig Verständnis entgegenzubringen hat. Dabei könnten die Opfer uns kaum näher stehen. Aber stimmt das? Stellen der Enkeltrick und seine modernen Variationen wirklich noch eine ernsthafte Gefahr für Opa und Oma dar?
Doch zuallererst: Was ist der CaMeTa-Staffellauf?
Dieser Artikel ist Teil einer kollaborativen Reihe unter dem Titel „CaMeTa-Staffellauf“. Hintergrund sind die namensgebenden Campusmedientage, zu welchen das Akrützel der Uni Jena letzten September eingeladen hat. Dort haben wir uns mit anderen Campusmedien aus ganz Deutschland vernetzen können und tolle neue Erfahrungen gesammelt. Daraus ist unter anderem auch diese Reihe geboren – eine kollaborative Serie von Artikeln auf den jeweiligen Plattformen unserer Campusmedien unter einem gemeinsamen Thema. Und jeden zweiten Tag wird der metaphorische Staffelstab an eine neue Redaktion gereicht.
Was ist der Enkeltrick?
Der Enkeltrick ist eine Sonderform des Trickbetrugs, also der rechtswidrigen Beschaffung oder Beschädigung des Vermögens einer*s anderen durch das Vortäuschen falscher Tatsachen. Hier treffen wir zum ersten Mal das Wort „Täuschung“ an – denn das ist das grundsätzliche Vorgehen der Täter*innen. Die Opfer sollen auf allen möglichen Wegen getäuscht, in Unsicherheit gebracht und im Kontext einer vorgetäuschten Notlage um ihr Vermögen gebracht werden. Das Strafgesetzbuch verfügt über keinen eigenen Paragraphen zum Enkeltrick. Stattdessen wird die Straftat unter einem gemeinsamen Paragraphen zusammengefasst.
§ 263 StGB – Betrug
(1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Der Versuch ist strafbar.
In besonders schweren Fällen kann das Strafmaß sogar auf sechs Monate bis zu zehn Jahre ausgeweitet werden. Besonders schwere Fälle zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass es bei sich den Taten nicht um Einzelfälle handelt, eine Person in wirtschaftliche Not gebracht wird oder man gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande agiert. Der letzte Punkt soll für uns im Folgenden von besonderer Bedeutung sein.
Die Täter*innen
Gewerbsmäßiger Bandenbetrug. Das ist der strafrechtliche Ausdruck für den Enkeltrick. Diese Bezeichnung rührt zum einen daher, dass die Täter*innen immer organisiert und im großen Stil agieren. Zum anderen handelt es sich bei den Täter*innen immer um bandenmäßig organisierte Großfamilien im Ausland. Doch dazu später mehr. Wie bereits eben erwähnt, ist das Vorgehen immer das gleiche und in hohem Maße koordiniert. Mit alten Telefon-CDs (quasi Telefonbücher im CD-ROM-Format) werden die Telefonnummern von Menschen mit alt klingenden Namen durchsucht und diese dann systematisch abtelefoniert. Dazu werden ganz einfach alte „Wegwerfhandys“ und Prepaid SIM-Karten verwendet. Aus Sicherheit wandern diese jeweils nach maximal einem Tag in den Müll. Die Ausweispflicht, welche in Deutschland bei Aktivierung einer Telefonkarte gilt, wird einfach mit Karten aus dem Ausland umgangen.
Bei jeder Tat sind mindestens 3 Akteur*innen involviert:
Anrufer*in Das sind, wie der Namen vermuten lässt, diejenigen, die den eigentlichen Anruf tätigen. Sie sitzen meist in Polen und sprechen akzentfrei und fließend deutsch. Die Rolle der*des Anrufer*in ist eine sehr zentrale für das Vorgehen und wird nur von wenigen Bandenmitgliedern beherrscht. Die Polizei schätzt die Zahl auf gerade mal 12 oder 13 Anrufer*innen, welche in der Regel gleich zwei oder drei Abholerteams parallel zur Verfügung haben.
Logistiker*in Diese Rolle ist für die nötige Hintergrundrecherche notwendig. Während der Anruf getätigt wird, werden online direkt Infos eingeholt in Bezug auf Adresse, die nächstgelegene Bank (sollte das Opfer kein Bargeld zuhause haben) oder gar die Anbindung an den ÖPNV. Dann wird das Abholerteam instruiert und zur Adresse geschickt.
Abholer*innenteam Dieses besteht meist aus drei Personen, die jeweils ihre eigene Rolle erfüllen. Die*Der Fahrer*in bringt die Kompliz*innen zum Opfer. Die*Der Observant*in beobachtet den Tatort und stellt fest, ob Polizei auf dem Weg ist oder sogar bereits informiert wurde und sich ebenfalls vorbereitet. Die*Der Abholer*in sammelt das Geld an der Haustür ein. Sie vermeiden dabei Augenkontakt und versuchen die Interaktion so kurz wie möglich zu halten (je länger die Interaktion, desto mehr Spuren und Indizien haben die Opfer, um sich später an die Polizei zu wenden). Anschließend wird das Geld per Online-Geldtransfer oder Kurier an die Hintermänner ins Ausland gebracht und hinter den Kulissen verteilt. Die übliche Aufteilung: 50 Prozent für Anrufer*innen, 25 Prozent für Logistiker*innen und 25 Prozent für das Abholerteam.
Wer sind jetzt diese Großfamilien? Um den Enkeltrickbetrug hat sich über die letzten knapp 25 Jahre eine Enkeltrickmafia gebildet, die der italienischen gar nicht so unähnlich ist. Dabei handelt es sich um einen größtenteils in Polen ansässigen Zusammenschluss aus Roma-Clans, der entsprechend streng hierarchisch strukturiert ist. Das Geschäft bleibt hier Familiensache. Außenstehenden wird nicht vertraut. Innerhalb der Familien haben sich Repressalien etabliert, um zu verhindern, dass die eigenen Verwandten abtrünnig werden. Sprich: Wer bei der Polizei auspackt, wird aus dem Clan ausgeschlossen oder erhält ein Kopfgeld.
Die Opfer
Die Bezeichnung Enkeltrick macht kein Geheimnis aus der Zielgruppe der Großfamilien. Es sind immer ältere Menschen mit alt klingenden Vornamen, die ohnehin wenig angerufen werden und grundsätzlich eher einsamer sind. Auch der eigentliche Trick ist selbsterklärend. Die Täter*innen geben sich als Enkel/Nichten/Neffen oder andere Teile der Verwandtschaft aus – immer in einer äußerst dringlichen Notlage. Der einzige Ausweg: ein hoher Geldbetrag, den nur die Großeltern als letzte Option bereitstellen können. Der Kreativität sind bezüglich der Notlage keine Grenzen gesetzt, sie wird lediglich durch den Faktor der Plausibilität limitiert. Klassische Beispiele sind ein Autounfall mit dem Mietwagen, ein Verkehrsunfall mit Verletzten oder der dringende Kauf der Traumimmobilie.
Warum sind ausschließlich ältere Menschen Opfer vom Enkeltrick? Sind ältere Menschen wirklich so einfältig und leichtgläubig? Unbefriedigenderweise heißt die Antwort hier Ja und Nein. Zum Unglück vieler Senior*innen unserer Bundesrepublik bringt gerade ihre Bevölkerungsgruppe besonders viele Eigenschaften bzw. Voraussetzungen mit, die den Enkeltrick so erfolgreich machen.
Auf der einen Seite finden wir die bereits erwähnte Notsituation wieder, in der sich die angeblichen Verwandten befinden und die ein schnelles Handeln erfordert. Dazu kommt die Tatsache, dass ältere Menschen eher dazu tendieren, ihr Bargeld oder wertvollen Schmuck zuhause zu verwahren. Auf der anderen Seite sind sie anfälliger für Täuschungsversuche. Das hat eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2013 herausgefunden. Diese unterstellt älteren Menschen vor allem eine höhere Anfälligkeit, Opfer von Betrug zu werden. Gründe dafür sind ein schlechteres soziales Wohlbefinden und unbefriedigte soziale Bedürfnisse. Unterstützt wird das ganze durch den demografischen Wandel, den wir in Deutschland und Europa erleben. Das Durchschnittsälter steigt immer weiter an und damit gehen den Betrüger*innen auch die Opfer nicht aus.
Jeder hat Angst vor Einbrüchen, Raub oder Überfällen. Niemand hat Angst vor dem Enkeltrick, weil jeder überzeugt ist, dass es ihm nicht passieren kann.
Joachim Ludwig – Polizeihauptkommissar, Polizeipräsidium Köln
Doch zum finanziellen Schaden – dieser kann für die Opfer mehrere tausend Euro betragen und in nicht wenigen Fällen die gesamten Ersparnissen aufbrauchen – kommt auch ein psychischer Schaden hinzu. Dieser ist nicht zu unterschätzen und hat weitreichendere Folgen als der wirtschaftliche. Opfer haben oft Angst ans Telefon oder die Tür zu gehen, was als Katalysator für die Vereinsamung wirkt und im schlimmsten Fall bis zum Suizid führen kann. Weiterhin machen sich Opfer oft selbst für die Tat verantwortlich, schämen sich oder fürchten Ärger mit ihren Kindern und Enkeln. Die Polizei schätzt, dass circa die Hälfte aller Opfer sich nicht traut die Tat anzuzeigen.
Die Justiz
Wenn die Vorgehensweise der Betrüger*innen so primitiv und gleichzeitig so durchschaubar ist, warum ist die Justiz nicht dazu in der Lage, dem Enkeltrick ein Ende zu setzen?
Joachim Ludwig ist Polizeihauptkommissar in Köln und ermittelt seit 20 Jahren gegen Telefonbetrüger*innen. Die Kolleg*innen nennen ihn auch Mr. Enkeltrick. Er sieht einige Probleme in der Arbeit der Polizei, aber auch im Rechtssystem, welche die Ermittlungen in Sachen Enkeltrick erheblich erschweren.
Eines der größten Probleme ist die Abschaffung der sechsmonatigen Vorratsdatenspeicherung. Dadurch fehlen den Ermittlungen wichtige Daten und Infos in Bezug auf die Anrufer*innen. Auch Anbieter wie die Telekom dürfen keine Telefonnummern oder Etwaiges speichern. Als zweiten großen Punkt kritisiert Ludwig den Föderalismus, der auch in der polizeilichen Arbeit ein Problem darstellt. Während die Täter*innen in ganz Deutschland agieren, investigieren die jeweiligen Dienststellen nur in ihrem eigenen Bundesland – sobald Ländergrenzen überschritten werden, hört die Zuständigkeit der entsprechenden Dienststelle auf. Noch schlimmer wird es erst auf internationaler Ebene. Hier sind Kooperationen mit ausländischen Dienststellen die absolute Ausnahme und kommen so gut wie nie zustande.
Die Geschichte des Enkeltricks
Ende Mai 2014 allerdings kam es zu einer solchen seltenen Kooperation zwischen deutschen und polnischen Beamt*innen. In Warschau, Posen, aber auch in deutschen Städten kam es zeitgleich zu 49 Festnahmen verschiedener Drahtzieher*innen und Handlanger*innen der Enkeltrickmafia. Darunter auch Arkadiusz L. und sein Bruder Adam P. Arkadiusz L. (Spitzname „Hoss“) gilt als Erfinder des Enkeltricks und ist „Pate“ einer Roma-Großfamilie. Der Legende nach begann alles Ende der 90er Jahre. Damals hat Hoss noch als Teppichverkäufer in einem Callcenter gearbeitet. Als er einen älteren Herren am Telefon hatte, glaubte dieser die Stimme seine Enkels Rudolph zu hören und sprach ihn auf seine akuten Geldprobleme an. Arkadiusz L. spielte ganz einfach mit und so ist der erste erfolgreiche Enkeltrick über die Bühne gegangen. Hoss verschwendete keine Zeit damit sein Wissen an die Verwandten weiterzugeben und hat so den Telefonbetrug im großen Stil aufgezogen.
Bei seiner Festnahme im Mai 2014 konnten die polnischen Behörden ihm allerdings nur acht Straftaten nachweisen. Seinem Bruder Adam nur sieben, sodass beide nach fünf Monaten gegen Kaution aus der Untersuchungshaft freikamen. Hoss wurde im Jahr 2017 erneut festgenommen, doch kam er auch hier nach kurzer Zeit gegen Kaution wieder frei. Ende 2019: das gleiche Spiel. Deutsche und polnische Behörden sind fassungslos. Zwischenzeitlich wurde im Frühjahr 2018 einer der Hintermänner und Sohn von Hoss – Marcin Kolompar, genannt „Lolli“ – festgenommen und vor dem Landgericht Hamburg zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Und auch Arkadiuzs L. selbst sitzt aktuell wieder in einem polnischen Gefängnis ein. Fragt sich nur für wie lange.
Eine Sache steht auf jeden Fall fest: Der Enkeltrickbetrug braucht seinen Erfinder nicht. Kaum waren Hoss und Konsorten hinter Gittern, glühten wieder die Telefonleitungen älterer Menschen in Deutschland, Österreich, Schweiz und Luxemburg. Direkt sind neue Hintermänner nachgerückt, die den Familienbetrieb am Laufen halten.
Wie kann ich mich und meine Nächsten schützen?
Laut Joachim Ludwig kann jede*r dem Enkeltrick zum Opfer fallen, unabhängig vom Bildungsstand oder dem Wissen über die Möglichkeit solcher Taten. Entscheidend ist nur der falsche Moment. Die Täter*innen greifen die Opfer hochgradig auf emotionaler Ebene an, sodass diese entsprechend unüberlegte, emotionsgetriebene Handlungen vornehmen.
Auch sind ältere Menschen gar nicht so anfällig für den Enkeltrick als dieser Artikel es vielleicht bisher impliziert hat. In der Regel gehen einer vollendeten Enkeltricktat hunderte von missglückten voraus. Fälle, in denen Angerufene die Polizei informiert haben oder aufmerksamen Bankangestellten die Ungereimtheiten auffielen sind zwar nicht die Regel, aber auch keine Seltenheit. Solche Informationen sind eine der größten Hilfen für die Behörden.
Tipps der Polizei, um sich vor Enkeltrickbetrüger*innen zu schützen, umfassen unter anderem das Aufhängen eines Zettels neben dem Telefon – dieser soll bei jedem Anruf an Betrüger*innen erinnern. Eine weitere gute Strategie ist das Zurechtlegen von Fangfragen, sollten Zweifel aufkommen, wer gerade anruft. Generell muss die Bevölkerung umdenken und mehr aufeinander achten. Während unseren Eltern oder Großeltern bequem per Telefon die Taschen gelehrt werden, dürfen wir nicht weiter die Augen zu machen.
Auf die Frage hin, warum sie denn tun, was sie tun, antworten die meisten Betrüger*innen: „Ihr seid doch selbst Schuld, wenn ihr auf eure Alten nicht aufpasst.“ Und vielleicht ist da sogar was dran.
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