“Greifswald 1989” – Studenten interviewten Zeitzeugen

Viele Veranstaltung hat es in den letzten Monaten anlässlich 20 Jahren friedlicher Revolution in Greifswald gegeben, einige stehen noch bevor. Seitens der Uni gab es bisher jedoch kaum eine Würdigung der Ereignisse. Am Historischen Institut haben die Dozenten PD Dr. Frank Möller und Dirk Mellies vom Lehrstuhl für neueste Geschichte zusammen mit knapp 20 Studenten in den letzten Monaten eine Publikation mit Zeitzeugen der Wendejahre erarbeitet.

Der frisch erschienene Band „Greifswald 1989“ stellt die Erinnerungen von 21 Zeitzeugen an die Wendeereignisse und die Folgezeit zusammen. Den Befragten ist gemein, dass sie zur Wendezeit in Greifswald lebten oder mit Greifswald in Verbindung standen und eine gewisse – zumindest lokale – Prominenz genießen. Unter ihnen sind zum Beispiel der SPD-Politiker Hinrich Kuessner, zu Wendezeiten Vorsteher der Odebrecht-Stiftung, Dietmar Enderlein, Gründer und Chef des Medigreif-Konzerns und damals Komandeur der Militärmedizinischen Sektion der Uni, Reinhard Arenskrieger, heute Bausenator der Stadt und 1990 von der Partnerstadt Osnabrück als „Aufbauhelfer“ entsandt, oder Reinhard Amler, damals wie heute Leiter der Lokalredaktion der Ostsee-Zeitung.

„Nicht die Vergangenheit, sondern das Gedächtnis der Vergangenheit erfasst.“

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Buchcover

Die Zeitzeugen wurden im Sommer von jeweils ein bis zwei Studenten interviewt, die aus den Interviews anschließend einen Fließtext von etwa zehn Buchseiten Länge entwarfen. Die Herausgeber Möller und Mellies redigierten die Texte seit Anfang des Semesters und schrieben das ausführliche und informative Vorwort, das das Vorgehen der Arbeitsgruppe genau beschreibt. Zudem betonen sie dort, dass es das Werk mit den Interviews nicht einfach „Quellen der Vergangenheit zu erzeugen“ könne. Vielmehr „standen für uns auch nicht die Rekonstruktion der Wende in Greifswald, sondern die persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Bewertungen im Mittelunkt […]. Nicht die Vergangenheit sondern das Gedächtnis der Vergangenheit wird hier erfasst.“

Mit der Arbeit der Studenten sind die Dozenten insgesamt sehr zufrieden. Frank Möller: „Wir müssen ihnen ein großes Kompliment machen. Die Projektarbeit hat sehr gut funktioniert.“ Alle seien jedoch überrascht gewesen, wie viele Stunden Arbeit für die Transkription eines aufgezeichneten Interviews nötig gewesen seien. Auch seien einige wenige Interviewte vor der Veröffentlichung wieder abgesprungen. Insgesamt sei es aber nicht so gewesen, dass die Zeitzeugen nachträglich viel gestrichen oder korrigiert hätten.

„Werde die Dinge, so wie ich sie gerne hätte, darstellen.“

Dass die Erinnerungen mitunter ganz schön subjektiv sind, versteht sich angesichts dieses Ansatzes von selbst. Manche Interviewte legen Wert darauf, diese Subjektivität  vor ihren Ausführungen noch einmal zu betonen. So etwa Dietmar Enderlein, der nach seinem kometenhaften (Wieder-)aufstieg nach der Wende immer wieder viel Kritik ertragen musste (siehe z.B. hier),  schreibt:

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Prof. Dietmar Enderlein (Archivbild)

„Wenn du irgendwas hinter dich gebracht hast, denkst du in fünf Jahren nur noch an das Gute und dann reproduzierst du das aus der Wunschvorstellung. Dann kannst du dich äußern und plötzlich kommt etwas ganz anderes raus, als das was irgendwo mal in der Realität gewesen ist. Auch ich werde die Dinge, so wie ich sie gerne hätte und wie sie aus meiner Sicht zu sehen sind, darstellen.“

Enderlein, der sich selbst für ein „begehrtes Ausfrageobjekt“ hält und freimütig bekennt, dass er „von Angst und Gier“ getrieben wird, erzählt ausführlich über die Zeit vor und während der Wende und seinen Umgang als Soldat mit den Ereignissen. Die Aufzeichnungen liefern einen spannenden Einblick in die Gedankenwelt des Ex-Komandeurs und heutigen Unternehmers.

Enderlein, stets ein Freund klarer Worte, geizt nicht mit individuellen Herangehensweisen an zentrale Fragen. Etwa diese hier: „Wie haben Sie die Staatssicherheit erlebt? – Da stell ich euch mal ‘ne Frage. Warum konzentrieren sich alle auf die Staatssicherheit? Weil die zum Buhmann der Nation erklärt wurde. Warum konzentriert ihr euch nicht auf den Bundesnachrichtendienst und warum nicht auf die CIA? […] Wie ich die Staatssicherheit erlebt habe? Na ich hatte hier eine Abteilung und da waren vier Offiziere der Staatssicherheit, die waren mir unterstellt. Punkt.“

„Der Weg zur Wiedervereinigung war mir von der Sache her Wurst.“

Ebenfalls etwas eigenwillig ist seine Sicht auf den Mauerfall: „Die Maueröffnung war für sich in diesem ganzen System gar nicht so bedeutungsvoll. […] Wenige Tage vorher sind die Kleinblöden, die da schreiend über die Mauer gerannt sind, noch auf der Demonstration zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober mit FDJ-Bluse und Transparent durch Berlin marschiert. Der Weg zur Wiedervereinigung war mir von der Sache her Wurst. Aber als Soldat, da kriegst du einen Befehl und dann machst du. Ich war nicht dazu da, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu beurteilen und zu sagen „das mache ich jetzt aber nicht, ich schieß‘ in die andere Richtung.“

Weiter rechnet Enderlein mit den Wendehälsen ab, die nach der Wende plötzlich anders tickten als zuvor (er selbst tat das in seinen Augen nicht) und spart auch nicht mit Kritik an den Altvorderen des Runden Tisches und anderer Institutionen der Wende. Reinhard Glöckner etwa, dem ersten frei gewählten Greifswalder Bürgermeister nach der Wende, der auch schon vorher Abgeordneter des Stadtparlaments war, hält er vor: „ „Wenn Sie wirklich dieser absolute Gegner des DDR-Regimes waren, dann müste ja in jedem Beschluss des Parlaments […] eine Gegenstimme sein, mindestens eine. War aber nicht, hat er immer mitgestimmt.“ Auch eine vernünftige DDR habe er sich vorstellen können, sagt Enderlein, wenn ihm aber einer die Frage stelle „Willst du die DDR wiederhaben?“, dann: „merke ich schon an der Fragestellung: Du bist ein Idiot, fertig.“

„Ansonsten würde ich „Hurra“ schreien.“

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Friedensgebet im Dom 1989

Nicht alle Erinnerungen lesen sich so spektakulär wie die Enderleins, aber die meisten Befragten offenbaren spannende Gedanken und Erlebnisse. Frank Pergande, heute FAZ-Korrespondent für M-V und in den 90ern Herausgeber des „Greifswalder Tageblatts“, weiß zu berichten, dass es Mitte der 80er Jahre auch schon bürgerlichen Widerstand gegen den Stadtabriss nördlich der Langen Straße gab. Auch die etwas weniger prominenten Zeitzeugen sind interessant zu lesen: Der Franzose Jean-Pierre Pané-Farreé, heute Koch im Café Caspar und 1977 „aus Liebe zu meiner Frau“ nach Greifswald gekommen, ist dankbar für die Wende und freut sich darüber, dass nach 1989 „die Zeremonie der Bürokratie“ vorbei war. Hans-Joachim Hübler, vor der Wende Bauleiter im KKW Lubmin und heute ALGII-Empfänger klagt über den Verlust der materiellen Sicherheit. Er könne sich nicht mehr leisten, seine Kinder besuchen zu fahren: „Das ist die Einschränkung meiner Freiheit. Ansonsten würde ich „Hurra“ schreien heute.”

Alle 21 Zeitzeugen offenbaren ihren eigenen, individuellen Blick auf die Ereignisse; die Zusammenstellung ist lebendig und längst nicht nur für Greifswalder und Historiker ungemein lesenswert. Angereichert wird das Buch mit zahlreichen Fotografien aus den Wendejahren. Für die bessere Lesbarkeit wäre mitunter eine etwas stärkere Anpassung der Aufzeichnungen an die Schriftsprache wünschenswert gewesen – doch auf diese Weise bleibt immerhin viel der sprachlichen Authentizität erhalten. Die hier und da etwas eigentümliche Orthographie und Interpunktion ist vermutlich dem Zeitdruck geschuldet, unter dem die Herausgeber standen, um ihr Werk noch in diesem Jahr herauszubringen.

Buchpräsentation am Mittwoch

Am kommenden Mittwoch um 18 Uhr wird der Band zusammen mit der Stadt, die das Projekt mit einem Druckzuschuss förderte, den Herausgebern, einigen beteiligten Studenten und einigen Befragten im Rathaus präsentiert.

Kaufen kann man das Buch seit der letzten Woche im Uni-Laden für 19,90 Euro (292 Seiten, Marburg 2009, Tectum Verlag). Auch regulär über den Buchhandel ist es erhältlich. Die Exemplare an die örtlichen Bibliotheken sind unterwegs, werden aber erfahrungsgemäß bis zur Verfügbarkeit noch einige Wochen benötigen. Laut OPAC ist es aber zumindest in der alten Uni-Bibliothek bereits im Präsenzbestand vorhanden.

Bilder: Tectum-Verlag (Buchcover), Sandro Teuber (Enderlein), Dorothea Puttkamer (Friedensgebet)

„Wir waren der komplette Gegenentwurf“ – Greifswald 1989

Der webMoritz veröffentlicht diesen gekürzten Artikel zum heutigen Jahrestag des Mauerfalls vorab. Der vollständige Artikel ist in der neuen Ausgabe des moritz-Magazins zu lesen, die in den nächsten Tagen erscheint.

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von Christine Fratzke

2009 ist das Jahr der Jubiläen. Im Herbst wird zwanzig Jahre Mauerfall zelebriert. Es sind die Bilder von der Mauer am Brandenburger Tor. Von Montagdemonstrationen. Von fahrenden Trabis, die Richtung Westen drängen. Es sind die bekannten Bilder aus Berlin, Leipzig. Doch lohnt es sich, Wende-Ereignisse auch vor der eigenen Greifswalder Haustür zu suchen. Man wird nämlich fündig.

Domeinweihung – Mit hohem Besuch

Nach Ereignissen zur Wendezeit in Greifswald hat Dirk Mellies, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut gesucht: „Der Norden ist in der Wendezeit sehr spät dran mit Protestbewegungen. Aber Greifswald ist witzigerweise eine der ersten Städte im Norden, wo sich etwas regte.“ Bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1989 kochte die Unzufriedenheit der Greifswalder auf. Die Kommunalwahlen im Mai waren gefälscht.

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Friedensgebet im Dom

Am 11. Juni gab es Besuch von oben, anlässlich der Einweihung des renovierten Doms. SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender Erich Honecker kam zu Besuch – und ging dabei die Strecke vom Rathaus bis zum Dom. „Das Ganze war ein Witz. Während die Altstadt zunehmend verfiel, wurden die Fassaden auf dem Weg dahin notdürftig gestrichen“, erläutert Mellies. Auch für den damaligen Theologiestudenten Hagen Kühne, unscheinbar gekleidet, sympathisch, hat viel zu erzählen, war das Ereignis eine Farce. Der heute 44-jährige Pastor stellt dar, dass das Bauprojekt zwar notwendig war, aber die Inszenierung der Eröffnung stieß ihm auf. „Die Vertreter der DDR-Kirche waren nicht einmal eingeladen“, sagt er kopfschüttelnd.

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Revolutionärer Herbst

Es wurde Herbst. In Leipzig fand am 4. September die erste Montagsdemonstration statt. Wenige Tage später wurden das „Neue Forum“ und „Demokratie-Jetzt“ in Berlin gegründet. Ungarn öffnete seine Westgrenze – tausende DDR-Bürger flohen. Im Herbst 1989 beschloss Theologiestudent Hagen Kühne, sich zu regen. Er musste an einem ZV-Lager, Zivilverteidigung, teilnehmen. „Dort erlebte ich alle möglichen Repressionen. Da dachte ich mir: Das kann ich nicht mehr. Das System muss weg“, sagt Kühne heute. Dabei ging es ihm nicht darum, die DDR zu reformieren. Der Ansatz des Kommunismus und das damit einhergehende Menschenbild sei falsch. „Ich wollte die Wiedervereinigung von Anfang an“, betont der Pastor. Deswegen engagierte er sich nicht beim „Neuen Forum“, sondern, wie Angela Merkel, beim Demokratischen Aufbruch. Am 7. Oktober feierte die DDR den 40. Jahrestag ihrer Gründung.

[…]

Demonstrationen – auch in Greifswald

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Menschenkette an der Fleischerstraße

Im Oktober wurde die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die SDP, in Greifswald gegründet. In der privaten Wohnung des Studentenpfarrers Arndt Noack – mit vierzig Teilnehmern. Zwei Tage später folgte ein einschneidender Tag, der 18. Oktober. Es ist der Tag, an dem Honecker als Staatsratsvorsitzender von allen seinen Ämtern zurücktritt – Egon Krenz wurde sein Nachfolger. Es ist aber auch der Tag, an dem in Greifswald das erste Friedensgebet im Dom und die erste spontane Demonstration stattfanden.

Im Dom kamen mehrere hundert Teilnehmer zusammen. Das scheint angesichts der 70.000 Teilnehmer an der Montagsdemonstration in Leipzig ein paar Tage zuvor nicht sonderlich viel zu sein. Bis zum Jahresende gab es zehn Friedensgebete im Dom, mit anschließenden Demonstrationszügen. Bereits am 25. Oktober nahmen 2.500 am Gebet teil, am 1. November waren es etwa 7.000 bis 8.000. „Die Friedensgebete waren wie normale Gebete im Gottesdienst. Über 1.000 Kerzen wurden aufgestellt. Es wurden Zeugnisse der Betroffenheit dargestellt, über gesellschaftliche Verhältnisse wurde geklagt“, beschreibt Hagen Kühne. „Und auf einmal war alles ganz politisch.“ Das schlägt sich auch in den im Dom besprochenen Themen nieder: Es wurden beispielsweise Forderungen nach einem zivilen Wehrersatzdienst an Stelle des Wehrdiensts in der NVA, Dialog in der DDR, Freien Wahlen, Volksentscheiden, laut.

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Demonstration in Greifswald

Parallel zu den Friedensgebeten im Dom fanden regelmäßig Mensagespräche statt, das erste am 19. Oktober. Etwa 1.000 Teilnehmer zählte der „Runde Tisch“, darunter der SED-Oberbürgermeister Udo Wellner mit seinem Stellvertreter Dr. Achim Jonas. Auch Studenten nahmen an den Gesprächen teil. Es wurde über die aktuelle Situation in der DDR diskutiert. „Das war typisch für Greifswald“; resümiert Dirk Mellies, „dass die Opposition und die Führung der Stadt sehr früh in Kontakt kamen. Das Ganze geschah friedlich und recht konfliktfrei.“

[…]

Das ausgehende Jahr 1989

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Besetzung der Kreisdienststelle

Bis zum Ende des Jahres 1989 gab es noch weitere Friedensgebete und Demonstrationen. Während das Politbüro, inklusive Egon Krenz am 3. Dezember zurücktrat, verlief durch die DDR eine Lichterkette. An dieser beteiligten sich tausende Greifswalder und Stralsunder Bürger. Ein weiteres wichtiges Ereignis, wie Historiker Dirk Mellies betont, war der 4. Dezember. Es kam zur Besetzung der Kreisdienststeller des Amtes für Nationale Sicherheit in der Domstraße – Aktenschränke wurden versiegelt und gesichert.

„Greifswald war eine der ersten Städte, die die Akten sicherten“, sagt Mellies. Nicht alle hielten die Wiedervereinigung für eine optimale Lösung, Beispielsweise demonstrierte der SSB, der Sozialistische Studentenbund, Mitte Dezember gegen die Wiedervereinigung.

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Das neue moritz-Magazin (80) erscheint in diesen Tagen.

Hagen Kühne ist Zeuge der Wende in Greifswald geworden. „Es ist unglaublich. Alles änderte sich relativ schnell. In eine Richtung, die man sich erträumt hat“, erläutert der Pastor, der heute in der Nähe von Bernau bei Berlin arbeitet, nachdenklich. Bisher gab es allerdings weder Abschlussarbeiten noch Veröffentlichungen zu dem Thema. Dirk Mellies und Dr. Frank Möller, ebenfalls vom Historischen Institut, bringen im Dezember ein Buch heraus, das 25 Zeitzeugen der Greifswalder Wendezeit näher darstellt. Etwa 18 Studenten haben mitgeholfen, ihre Geschichte zu verschriftlichen. Denn wer sucht, der findet. Auch in Greifswald.

Weitere Themen im neuen moritz-Magazin:

  • Was steckt hinter dem Wechsel der Psychologie in die mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät?
  • Rückblick auf die Erstsemesterwoche
  • Das Riemser Virenforschungszentrum
  • Das CD-Release “klein stadt GROSS”
  • Reisebericht aus Syrien

Bilder: Historische Bilder (Copyright bei den Urherbern, nicht CC-lizenziert): Menschenkette: Thomas Lange, alle anderen: Puttkamer.