Eigentlich würde ich jetzt im Zug Richtung Heimat sitzen. Stattdessen sitze ich im Auto Richtung Corona-Testzentrum. Die letzten Septembertage sind noch mal richtig schön geworden, der Himmel ist strahlend blau. Ich kann gar nicht glauben, dass ich die nächsten zwei Wochen nicht mehr an die frische Luft darf. Nach einer halben Stunde Warten mit Menschen, die wahrscheinlich genauso im Ungewissen schweben wie ich, wird mir das berüchtigte Stäbchen in Rachen und Nase geschoben. So schlimm ist es gar nicht, eher fremd. So wie der ganze Tag heute. Wie eigentlich das ganze Jahr.
Drei Stunden zuvor werde ich mit der Nachricht: „Mein Coronatest war positiv. Ihr solltet auf jeden Fall nicht rausgehen“ aus dem Schlaf gerissen. Einige Minuten später ruft das Gesundheitsamt an. Ich müsse in Quarantäne, weil ich Kontakt zu einer Corona positiv getesteten Person hatte. Das heißt: Zwei Wochen lang in der Wohnung bleiben, selbst bei einem Negativ-Test. Nicht mal den Müll runterbringen dürfen. Einkäufe vor die Tür stellen lassen, jeden Tag ein Anruf vom Gesundheitsamt.
Erst kommt die Verwirrung: Mein Koffer steht doch schon gepackt bereit, in einer Stunde sollte eigentlich mein Zug nach Hause gehen – und jetzt muss ich in Quarantäne? Darauf folgt das Gedankenkarussel: Ich habe mich in den letzten Tagen nicht gerade vorbildlich verhalten. Natürlich habe ich mich an alle offiziellen Regeln gehalten, die die Pandemie erfordert, aber mir wird klar, dass das vielleicht nicht genug war. Die Freundin, die Corona hat, habe ich in der letzten Woche häufig gesehen. Wir waren lange Zeit im selben Zimmer und saßen nebeneinander im Auto. Zwar mit geöffnetem Fenster, aber reicht das? Wir haben uns sogar umarmt. Seit wann hat sie wohl Corona? Wann könnte sie mich angesteckt haben? Und: Wenn ich auch positiv bin, wen könnte ich alles angesteckt haben? Ich mache eine Liste von Menschen, mit denen ich in letzter Zeit länger als 15 Minuten Angesicht zu Angesicht war. Am Freitag war ich in einem Restaurant. Am Samstag auf einem Spieleabend. Gestern war ich in der Mensa. Abends war ich im Kino. Die Liste ist lang – unangenehm lang. Ich informiere die Leute, die ich, falls ich positiv bin, infiziert haben könnte. Einige haben Kontakt zu Risikogruppen. Niemand wirft mir etwas vor, aber ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen. Eigentlich habe ich ja nichts falsch gemacht, denn ich habe doch mein Bestes gegeben, das Virus einzudämmen. Oder?
Am Nachmittag bekomme ich mein Testergebnis: negativ. Ich bin zwar erleichtert, aber fühle mich immer noch schlecht. Nicht, weil mir die Quarantäne schon nach ein paar Stunden zu schaffen macht, sondern weil ich ein schlechtes Gewissen habe, da ich fahrlässig geworden bin. Ich wollte jetzt eigentlich in der Heimat sein, dabei ist Berlin doch gerade ein Hotspot. Ich wollte in den Urlaub fahren. Zwar innerhalb von Deutschland, aber trotzdem in eine Stadt im Süden. Ich wollte ein Wochenende mit Freunden verbringen, die aus ganz Deutschland kommen. Ich wollte nächste Woche auf eine Party gehen. Hab ich denn durch den Anfang der Pandemie nichts gelernt? Vielleicht werde ich, als junger und gesunder Mensch, keine Folgen der Erkrankung davon tragen, aber ich bin doch mitverantwortlich für meine Mitmenschen und dafür, dass das Virus sich nicht weiter ausbreitet. Ich habe nicht mehr gemacht als erlaubt war, aber trotzdem weniger als nötig.
Ich spreche mit einer Freundin. Ich erkläre ihr, dass ich nicht zu dem Treffen mit Freunden aus ganz Deutschland kommen werde, auch wenn die Quarantäne dann schon längst vorbei ist. „Aber wenn du auch nach den zwei Wochen so eingeschränkt leben willst, dann bringt das nichts für einen Monat. Dann musst du noch ein ganzes Jahr so leben, um konsequent zu sein, ne?“, erklärt sie mir. Sie sagt: „Darauf hätte ich kein‘ Bock. Ich verhalte mich auch nicht richtig, aber das macht hier in Berlin eh niemand. Ich will doch leben!“
Ja, ich hab auch keinen Bock. Überhaupt nicht. Keinen Bock auf Quarantäne. Keinen Bock, auf Partys zu verzichten. Keinen Bock, ständig eine Maske zu tragen. Aber gerade, weil ich darauf keinen Bock habe, muss ich das machen, damit wir nicht zu lange auf diese Freiheiten verzichten müssen. Denn ich hab keinen Bock auf überfüllte Krankenhäuser und steigende Todeszahlen. Die nächsten Monate habe ich ja deshalb nicht „kein Leben“. Die nächsten Monate werden eben anders, so wie es das ganze Jahr schon war. Dann geh ich eben nicht feiern und verzichte auf Treffen in großen Gruppen. Dann setze ich eben ein Mal mehr die Maske auf und lass mich dafür belächeln. Dann bestehe ich eben darauf, Räume öfter zu lüften. Das sage ich jetzt. Am Anfang meiner Quarantäne. Ich hoffe so sehr, dass ich das in einem Monat auch noch denke. Ich habe schon einmal zu schnell vergessen, welche Auswirkungen das Verhalten von einzelnen Personen haben kann. Muss es denn immer zu weit gehen, bis ich mich erinnere?
Wie auch die Radioaktivität ist das, was die ganze Welt aktuell beschäftigt, nicht erkennbar, doch scheinbar permanent um uns herum. Ich möchte nicht werten oder beurteilen. Mir steht das auch nicht zu. Als Vertreter der Presse ist es in erster Linie das Anliegen, eine einfache Lagebeschreibung abzugeben. Ganz konkret ist meine Aufgabe eine blanke Darstellung der Situation von meinem aktuellen Standort in Polen. Auch liegt mir dabei ein Abschreiben von anderen Medien fern. Ich möchte lediglich einmal aufzeigen, wie sich das Leben schlagartig verändert hat. Wo fange ich an? Wo höre ich auf? Ich gehe einfach zum 12. März zurück.
An diesem Tag wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Eine Erhöhung des Status sollte in den kommenden Wochen folgen. Schon in den Tagen zuvor schlossen sich die Türen von Theatern, Museen, Schulen und weiteren öffentlichen Einrichtungen. Die Regierung empfahl den Betrieben, Firmen und Konzernen alles dafür zu tun, dass ihre Leute nicht gezwungen werden, den täglichen Weg zur Arbeit antreten zu müssen. Daran wurde sich auch gehalten. An jenem Freitag, der 12. März war ein Donnerstag, waren schon kaum noch Leute an den Straßenbahn- und Bushaltestellen, wo sonst morgens Massen aussteigen, zu sehen. Ältere Leute und Erziehungsberechtigte brauchten ohnehin nicht mehr vor die Tür.
Was mich angeht: In der Zeit vor dem Homeoffice und der beginnenden Panik stieg ich auch um, als ich den Weg mit der Straßenbahn gegen den Spaziergang zur Arbeit eintauschte. Das war der positive Nebeneffekt in der ganzen Situation. Viele Bilder, die mir sonst verborgen gewesen wären, wurden nun sichtbar. Drei Punkte fielen mir besonders auf: Ganz unscheinbar gibt es sogar noch ein paar Reste deutscher Sprache an einer Hauswand, die einst zu einem Geschäft gehörte. Die Fans von Lech Poznań tobten sich mit Spraydosen in manchen Straßen doch ziemlich gut aus. Und in die Reihe der kuriosen Wandverzierungen ordnete sich ein Hundeabbild über einer Toreinfahrt ein. Apropos Einfahrt: Wollte ich das Land verlassen, müsste ich mich bei Rückkehr für zwei Wochen in Quarantäne begeben. Das Osterfest in der Heimat entfällt für mich auch in diesem Jahr.
Und dann
kam das Homeoffice! Der tägliche Weg bei Wind und Wetter entfiel, es blieb mehr
vom Tag und am Wochenende konnte man sowieso noch vor die Tür. So kam es zu
einer kuriosen Situation. Während zur Hauptverkehrszeit kaum noch Autos auf der
Straße waren – schaut euch mal das Bild an (!) – tummelten sich in den Wäldern Menschenmassen.
Und ich übertreibe da nicht einmal. Der Weg in mein geliebtes Reservat glich
einer Autobahn. Es war klar, dass das nicht lange so anhalten würde.
Aufgrund der steigenden Werte wurde seitens der Regierung dann so gut wie alles gestrichen. Die Arbeit der Polizei wurde durch eine Quarantäne-App erleichtert. Anfangs war die Polizei nur beschäftigt, die Einhaltung von Quarantäne-Auflagen zu überprüfen, sodass es sogar den Aufruf an die Langfingergemeinschaft gab, kriminelle Aktivitäten doch vorübergehend ruhen zu lassen. Nebenbei fährt die Polizei mit Lautsprecherautos durch die Städte und fordert die Leute auf, das Haus nicht zu verlassen. Die Präsidentschaftswahl steht an, da möchte man zeigen, dass hier in Gefahrensituationen nichts anbrennen kann. Das Volk steht geschlossen hinter diesen Entscheidungen. Auch hier in der Hochburg der Opposition loben die Leute, jedenfalls diejenigen, mit denen ich hier Kontakt habe, die Festlegungen. Was heißt das nun für mich konkret? An Spaziergänge und Abenteuer in den Wäldern ist aktuell nicht zu denken. Ich darf noch einkaufen, zur Apotheke und zum Arzt.
Die Supermärkte haben sich auf die Situation eingestellt. Die Angestellten sitzen hinter einer Glaswand, auf dem Boden sind Markierungen und Leute dürfen nur begrenzt hineingelassen werden, dafür wurden aber die Öffnungszeiten verlängert. In manche Läden dürfen sogar nur einzelne Personen. An Medikamente zu kommen, ist weiterhin kein Problem. Rezepte werden hier von der Praxis aus über das Handy ausgestellt – verschlüsselt durch einen Code, mit dem die Apothekenfrau (bisher habe ich hier noch keine Männer in einer Apotheke gesehen) mir dann das passende Präparat aushändigt. Dringende Arztbesuche entfallen jetzt natürlich. Mein Zahnarztbesuch muss dann leider etwas warten. Was ich mit meinem Haar mache, steht noch in den Sternen. Friseurgeschäfte wie andere kosmetische Einrichtungen wurden zum Stillstand gezwungen.
Und sonst? Langeweile kommt nicht auf. Es ist gut, dass ich einen Balkon habe. So kann ich dann doch noch die Sonnenstrahlen – insbesondere am Abend – genießen und Leute beobachten, die ihre Hunde ausführen und jene, die in einem Abstand von 2 Metern laufen müssen oder müssten. Dabei kommt es durchaus schon zu kuriosen Szenen. Ich kam von der Mülltonne und eine Frau eilt mich sehend flinken Fußes ins Haus. Wer nun denkt, sie hätte mir die Türe aufgehalten, der irrt. Im Haus drückt sie aber dann die Tasten des Fahrstuhls … Ich dagegen wähle die Treppen – ein kleiner Tropfen auf den heißen Stein in meinem täglichen Sportprogramm. Ansonsten habe ich mir mal wieder ein Buch vorgenommen. Sonst komme ich kaum dazu. Auch andere Lektüre fiel mir beim Aufräumen auf. Soziale Kontakte halte ich über mein Handy, das mich durch die Info des Anbieters in der Ecke jeden Tag daran erinnert, im Haus zu bleiben. Auch das Backen von Brot steht bei mir wieder auf dem Plan. Kulinarisch hat die ganze Phase, die dann hoffentlich auch mal wieder endet, ein paar positive Nebeneffekte. Es schmeckt einfach lecker.
Ganz so gut geht es aber nicht allen. Die ersten in meinem Bekanntenkreis klagen bereits über Entlassungen und Probleme beim Zahlen der Mieten. Die Solidarität ist aber groß. Mit enormen Leistungen unterstützen die Fußballfans und Pfadfinderverbände wie gewohnt Krankenhäuser und alte Menschen.
Es bleibt spannend. Denn Ostern als das wichtigste Fest der Polen kommt bald.
Beitragsbilder: Michael Fritsche Banner: Julia Schlichtkrull
Die Lage hierzulande und auf der ganzen Welt ist ernster, als wir noch vor ein paar Wochen gedacht hätten. Die Witze über Hamsterkäufe und Klopapier werden weniger, die Anzahl der Coronainfizierten auf der ganzen Welt immer mehr. Die Schulen sind geschlossen, die Uni für uns Studierende nahezu stillgelegt. Die Kanzlerin und Wissenschaftler*innen empfehlen aufgrund des Virus unseren direkten sozialen Kontakt weitestgehend einzuschränken und das Zuhause nur noch für notwendige Erledigungen zu verlassen.
Um Leben von Verwandten, Freund*innen, Nachbar*innen und Bekannten zu retten und die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, müssen wir einfach nur „chillen“. Ein sehr wahrer und passender Satz kursiert dazu seit einigen Tagen im Internet: Unsere Großeltern mussten in den Krieg ziehen und von uns wird bloß verlangt, auf der Couch zu bleiben – wir schaffen das.
Doch jetzt, wo das Entschleunigen zur Pflicht und das Wetter immer schöner wird, merken wir erst, wie schwer es ist nichts zu tun, einfach zuhause zu sein und keine großartigen Verpflichtungen zu haben. Das, wonach wir uns doch die ganze Prüfungsphase lang gesehnt haben, scheint nun für viele eine große Herausforderung zu sein. Neben den Menschen, die unnötig in Hysterie verfallen und aus unbegründeter Panik Hamsterkäufe machen, ist auch das gegenteilige Extrembeispiel festzustellen: Noch immer kann man im Park Menschentrauben sehen oder beobachten, wie im Bekanntenkreis Partys veranstaltet werden, „weil ja jetzt alle Zeit haben“. Die Gefahr, die ein kurzer Plausch im Café mit sich bringen kann, scheint noch nicht allen bewusst zu sein.
Dabei kann man unsere Pflicht, einfach zuhause zu bleiben, doch als Chance sehen: Wir können zur Ruhe kommen und endlich all die Dinge tun, die wir nie gemacht haben, weil wir angeblich keine Zeit hatten. Endlich mal das Buch lesen, das man eigentlich schon letztes Jahr gelesen haben wollte oder anfangen eine Sprache zu lernen. Endlich mal den Keller ausmisten, die WG-Küche strukturieren oder das Zimmer neu streichen. Der Abstand vom Alltag gibt uns aber auch Zeit nachzudenken, neue Ziele zu setzen und zu merken, was man eigentlich wirklich schätzt oder an welcher Stelle man eine im Heimlichen schon so lang herbeigesehnte Veränderung angehen muss.
So schlimm die Zeiten gerade scheinen und wie dramatisch die Umstände in Krankenhäusern sind und sein werden – wir als Einzelne können einen riesigen Beitrag leisten, um die Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Und dafür müssen wir einfach nur unsere Hände waschen und zuhause „chillen“.
Wir von den moritz.medien appellieren an euch, einfach mal zuhause zu bleiben. Ihr könnt auf unsere Unterstützung zählen: In den nächsten Wochen werden wir euch auf dem Laufenden halten, mit Rezepten und Denkanstößen versorgen, sowie mit Ideen, wie ihr euch zuhause beschäftigen könnt #moritzalleinzuhaus.
Beitragsbild: unsplash Banner: Julia Schlichtkrull
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