Adventskalender Türchen 8: webmoritz.-Weihnachtsgeschichte Teil 1

Adventskalender Türchen 8: webmoritz.-Weihnachtsgeschichte Teil 1

Weihnachtsgeschichten haben mich mein ganzes Leben lang begleitet, sei es in Form von Büchern, Hörspielen oder Filmen. Dieses Jahr dachte ich mir dann: Ich kann mich doch auch mal dran versuchen, selber eine zu verfassen. Also habe ich die Mitglieder der moritz.medien gebeten, mir Stichwörter zu geben, auf deren Grundlage ich die Geschichte verfassen kann. Einmal die Stichwörter eingesammelt, ging es dann auch schon los. Doch während des Schreibens fiel mir auf, dass die Geschichte immer länger und länger wurde. Deshalb bekommt ihr an diesem Adventssonntag den ersten Teil der Geschichte und am dritten Advent geht es dann weiter.

Der Geruch von frisch gebackenem Sauerteigbrot erfüllt das Wohnzimmer der Familie Clausen. Sie sitzen wie jedes Jahr am vierten Adventssonntag zusammen vor dem Kamin und essen Oma Clausens Zimtschnecken. Während am Vormittag noch großes Getümmel im Haus herrschte, – Oma hat in der Küche gebacken, Mama Clausen hat die letzten Kugeln an den Weihnachtsbaum gehangen und Papa Clausen hat die heruntergefallenen Tannennadeln aufgesammelt – ist nun Gemütlichkeit und Ruhe eingezogen. Die dampfenden Teetassen in der Hand, warten alle gespannt auf Opa Clausens traditionelle Weihnachtsgeschichte. Jedes Jahr denkt er sich eine Neue aus, die er seiner geliebten Familie erzählt, um sie auf das kommende Weihnachtsfest einzustimmen und daran zu erinnern, um was es bei Weihnachten eigentlich geht. 
„Also, meine Lieben, dann wollen wir mal anfangen“, sagt er mit seiner tiefen Stimme. Und dann beginnt er zu erzählen…

Einst lebte ein Bäckermeister in einer kleinen Stadt. Er war einer der Besten im ganzen Land. Er buk und buk. Vor allem in der Vorweihnachtszeit blieb der Ofen nie aus. Tag und Nacht buk er die leckersten Leckereien: Pfeffernüsse, Vanillekipferl, Christstollen, Plätzen und auch Lebkuchen. Während seiner Öffnungszeiten füllte der Trubel seinen Laden. Kundinnen über Kunden kamen während der Adventszeit an seinen Tresen. Sei es der gestresste Familienvater, der nach der Arbeit noch ein paar Plätzchen für seine Kinder mitbrachte, sei es der junge Mann, der mit einem Lebkuchenherz das Herz einer jungen Dame gewinnen wollte oder die alte Frau, die ihren Mann mit einem frischen Christstollen überraschen wollte. Der Bäckermeister hörte allerlei ihrer Geschichten, obwohl er kein Interesse am Leben seiner Kundschaft hatte. Doch wenn er etwas verkaufen wollte, musste er nicht nur Interesse bei den Kund*innen wecken, sondern auch Interesse an ihnen vorgeben.  

Doch abends, nachdem die letzte Person den Laden verlassen hatte und die Tür hinter sich zuzog, hatte der Bäckermeister seine geliebte Ruhe zurück. Er hatte keine Familie mehr. Seine Eltern waren bereits verstorben, Geschwister hatte er nicht und ihm blieb einfach keine Zeit, um eine Beziehung oder Freundschaften zu pflegen. Der Erfolg seines Ladens und somit sein eigener Erfolg waren ihm viel wichtiger als andere Menschen. Sie würden ihn doch nur mit ihren Problemen und Ansprüchen von der Arbeit abhalten oder auch seinen Gewinn schmälern.
So verbrachte er die Zeit in seiner Backstube und buk und buk und buk. Er brauchte keine Personen, die im nahe stehen oder sich sogar in sein Leben einmischen würden. Es reichte ihm, Bäcker zu sein. Mehr brauchte er nicht. 

Drei Tage vor dem Nikolausfest war er gerade dabei ein neues Lebkuchenpaar zu verzieren, als das kleine Glöckchen an seiner Ladentür klingelte. Merkwürdig, dachte er. Hatte er doch den Laden schon vor Stunden geschlossen. Vorsichtig schaute er um die Ecke in seinen Verkaufsraum. Da war niemand. 
Verwirrt ging er zurück in seine Backstube. Er nahm seine Werkzeuge, die er zum Verzieren des Lebkuchenmannes brauchte und wollte gerade weitermachen, als ihm auffiel, dass die Lebkuchenfrau nicht mehr dort lag, wo er sie platziert hatte. Aber wie kann das sein? Sie war doch gerade noch da!
Ein Rascheln ließ ihn aufhorchen. Dort hinter dem Vorhang, in der kleinen Nische in der er seine Zutaten aufbewahrte, da war etwas. Was kann das nur sein? Eine Maus, eine Ratte… „Eine Diebin!“, schrie er auf.
Hinter dem Vorhang hockte ein Mädchen. Ein schmutziges Mädchen. Ihre Haare hingen strähnig von ihrem Kopf hinab, ihre Kleidung war dreckig, sie trug keine Schuhe und in der Hand hielt sie: seine Lebkuchenfrau, beziehungsweise das, was noch von ihr übrig war. Das war nunmehr nur noch ein Bein und ein Arm. Krümel hingen an dem Mund des Mädchens. „Das wirst du mir bezahlen müssen!“, schimpfte der Bäckermeister. Er war sehr wütend. Schätzte dieses Mädchen doch gar nicht die Arbeit, die darin steckte und die guten Zutaten? Nein, sie hat es sich einfach in ihren Mund gestopft, als wäre die Lebkuchenfrau billiges Essen!
„Ich habe aber kein Geld, Herr“, antwortete das Mädchen mit piepsiger Stimme. 
Der Bäckermeister schüttelte den Kopf. „Dann musst du es mir anders bezahlen, komme morgen Abend wieder, dann kannst du meine Schüsseln und Löffel waschen. Und nun geh.“ Er zeigte auf die Tür. Langsam stand das Mädchen auf und lief mit kleinen Schritten in Richtung der Tür. Ein kalter Windhauch zog in den Laden. Auf den Straßen lag bereits Schnee. Der Bäckermeister stieß das kleine Mädchen vor die Tür, ungeachtet dessen, dass sie gar keinen Schutz vor der eisigen Kälte hatte. Er ließ die Tür wieder in das Schloss fallen und drehte den Schlüssel um, damit nicht noch mehr Bälger in seinen Laden kämen. 
Vor sich hin brummelnd und murmelnd ging er zu Bette, kuschelte sich in seine warme Decke und fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Am nächsten Abend, nach einem langen, ertragreichen Verkaufstag, stand das Mädchen vor der Tür der Backstube. Vor sich hin brummend ließ der Bäckermeister sie hinein und führte sie zum Abwaschbecken. 
„Hier“, sagte er. „Du musst die Schüsseln, Löffel und Zangen abwaschen. Schön sauber bis alles glänzt. Und wenn du damit fertig bist, dann wischst du die Auslage sauber. Die übrigen Kekse und Kuchen kannst du in den Mülleimer in der Ecke werfen.“ Noch bevor das Mädchen antworten konnte, stapfte er zurück in seine Backstube und begann zu backen. 
Das Mädchen wusch die Schüsseln, Löffel und Zangen bis sie sich darin spiegeln konnte. Das warme Abwaschwasser fühlte sich gut an auf ihrer durchgefrorenen Haut. Und bevor sie sich an die Auslagen machte, nutzte sie die Möglichkeit und wusch ihr Gesicht und ihre Arme. Der Dreck der letzten Tage saß fest auf ihrer Haut. Danach ging sie in den Verkaufsraum. Viele, viele Kekse und Kuchen lagen noch in den Schaukästen. Ein leises Grummeln in ihrem Magen machte sich bemerkbar. 
„Mein Herr, das alles soll ich wegwerfen?“, fragte das Mädchen verwundert. 
Der Bäcker kam aus seiner Backstube. „Natürlich! Das kann ich morgen alles nicht mehr verkaufen, warum sollte ich es also behalten?“ 
„Mein Herr, könnten doch so viele Menschen noch davon essen, die sich sonst nicht leisten können, diese Gebäcke zu essen“, erwiderte das Mädchen. 
„Wer kein Geld für meine Backwaren hat, der hat es auch nicht verdient, sie zu essen. Nur weil die Menschen zu faul sind zu arbeiten und Geld zu verdienen, muss ich sie nicht dafür belohnen.“ Der Bäcker schnaubte abwertend. 
Das Mädchen erwiderte nichts. Die Worte des Bäckers trafen sie hart. So standen die beiden schweigend voreinander. Das einzige Geräusch, welches den Raum erfüllte, war das Knurren des Magens des kleinen Mädchens. 
Der Bäcker seufzte: „Wenn du morgen wieder kommst und wieder das Geschirr wäschst, dann kannst du dir etwas von den Gebäcken nehmen. Dieses Magenknurren ist ja nicht zum Aushalten.“ Damit ging der Bäcker zurück in seine Backstube. 
Das Mädchen nahm sich einen der großen Kekse und dann steckte sie sich noch ein paar der anderen Sachen in die Taschen, so viel sie tragen konnte. Nicht für sich selbst, sondern für ihre Freunde. Den Rest, auch wenn es ihr das Herz brach, warf sie in den Mülleimer.
Nachdem sie alles sauber gewischt hatte, verabschiedete sie sich beim Bäcker, der sie mit einem gehetzten „Ja, ja“ aus der Bäckerei scheuchte. 
Was das Mädchen nicht wusste, war, dass der Bäcker ihr diesmal nachsah, als sie zitternd in den Winterabend ging. Es war ihm aufgefallen, dass sie sich das Gesicht gewaschen hatte. Und ihre Wangen waren auch rötlich geworden, nachdem sie aufgewärmt war. Sie sah nicht mehr aus wie das kranke, schmutzige Mädchen am ersten Tag. Und auch ihre Arbeit hatte sie gut gemacht.
Als er sie nicht mehr sehen konnte, ging er ins Bett. Er schlief tief und fest, doch diesmal nicht traumlos: 

Er war in einem alten Schuppen, durch dessen Löcher in den Wänden der kalte Wind pfiff. Auf dem mit Stroh ausgelegten Boden saßen viele Menschen. Ihre Kleidung war zerrissen und alt. Sie alle sahen genauso bleich und schmutzig aus wie das kleine Mädchen. Viele von ihnen husteten, Babys schrien und einige von ihnen atmeten schwer.
Plötzlich huschte das kleine Mädchen an ihm vorbei. Sie sah so aus, wie sie seine Bäckerei verlassen hatte. Aus ihren Taschen zog sie Gebäckstücke und verteilte sie an die Menschen, welche sie wiederum zerbrachen und an andere weitergaben. 
„Mein Kind, woher bringst du uns diese Gaben?“, fragte eine alte Frau. 
„Von dem Bäckermeister aus der Stadt“, antwortete sie. „Er hat mir die Gebäcke gegeben und ich werde dafür sein Geschirr waschen.“ 
„Aber warum teilst du sie denn mit uns? Sie sind doch deine.“
„Ich hatte schon genug heute. Ihr braucht es doch dringender als ich. Noch bin ich nicht krank, noch kann ich arbeiten und euch helfen, die die’s nicht mehr können“, erwiderte das Mädchen mit ruhiger Stimme. „Und der Bäckermeister war so frei, mir dieses freundliche Angebot zu machen.“ 
Der Bäcker fühlte etwas Warmes in seiner Brust. So hatte lange niemand mehr über ihn geredet. 
„Freundlich?“, schnaubte ein anderer Mann. Der Bäckermeister kannte ihn. Er war einst ein Kollege von ihm in einer anderen Bäckerei. „Wir haben mal zusammengearbeitet. Er hat immer versucht, besser zu sein als alle anderen. Immer musste er herausstechen oder uns andere schlecht machen. Und dann, als er seinen eigenen Laden eröffnet hat, hat er uns komplett vergessen. Sein Geschäft wuchs, während unseres nicht mehr genügend Geld einnahm und viele von uns ihre Arbeit verloren haben. Wir flehten ihn an, uns bei sich aufzunehmen oder zumindest einige von uns, damit wir nicht in Armut verfallen, aber er wies uns alle ab. Wie du siehst, ging mir und meinen Liebsten bald das Geld aus. Egal, wie sehr wir es versuchten, alle wollten nur noch bei ihm die Gebäcke kaufen. Mittlerweile gibt es nur noch seine Bäckerei. Und da viele von uns schon zu alt waren, als dass uns andere Gewerbe eingestellt und angelernt hätten, sind wir nun hier…“ Der Mann legte einen Arm um die Frau neben sich. Vermutlich seine Ehefrau. Neben den beiden hockten zwei Kinder in alten Lumpen, die an den Keksen knabberten.
Der Bäckermeister schauderte. Er wusste nicht, dass es außer seiner, keine weiteren Bäckereien mehr gab. Hatte er sich doch nie wirklich dafür interessiert, was die anderen machten. Er wusste immer, dass er der Beste der Bäcker war und wollte deshalb nie, dass andere mit ihm arbeiteten. Was wäre, wenn ihr Einfluss die Gebäcke weniger gut schmecken ließe? Er würde Kundschaft und Einnahmen verlieren. Aber dass diese Menschen seinetwegen so litten, wollte er doch auch nicht…
„Du darfst nicht immer nur an dich selbst denken, sondern auch mal an andere“, sagte das kleine Mädchen plötzlich zu ihm. „Hilfe annehmen und anderen Leuten helfen kann nicht nur dein, sondern auch ihr Leben beeinflussen.“ 
Dann verschwamm der Traum und der Bäcker erwachte. 

Nächste Woche geht es weiter….

Beitragsbild: Vanessa Finsel


Zur Person der Autorin

CaMeTa-Staffellauf: Enkeltrick – funktioniert das immer noch?

CaMeTa-Staffellauf: Enkeltrick – funktioniert das immer noch?

Der Enkeltrick ist heutzutage vor allem eines: notorisch. Notorisch für seine Primitivität. Das denkt zumindest meine Generation, welche aus genau diesem Grund den Gefahren und Folgen dieser Betrugsmasche wenig Verständnis entgegenzubringen hat. Dabei könnten die Opfer uns kaum näher stehen. Aber stimmt das? Stellen der Enkeltrick und seine modernen Variationen wirklich noch eine ernsthafte Gefahr für Opa und Oma dar?

Doch zuallererst: Was ist der CaMeTa-Staffellauf?

Dieser Artikel ist Teil einer kollaborativen Reihe unter dem Titel „CaMeTa-Staffellauf“. Hintergrund sind die namensgebenden Campusmedientage, zu welchen das Akrützel der Uni Jena letzten September eingeladen hat. Dort haben wir uns mit anderen Campusmedien aus ganz Deutschland vernetzen können und tolle neue Erfahrungen gesammelt. Daraus ist unter anderem auch diese Reihe geboren – eine kollaborative Serie von Artikeln auf den jeweiligen Plattformen unserer Campusmedien unter einem gemeinsamen Thema. Und jeden zweiten Tag wird der metaphorische Staffelstab an eine neue Redaktion gereicht.

Was ist der Enkeltrick?

Der Enkeltrick ist eine Sonderform des Trickbetrugs, also der rechtswidrigen Beschaffung oder Beschädigung des Vermögens einer*s anderen durch das Vortäuschen falscher Tatsachen. Hier treffen wir zum ersten Mal das Wort „Täuschung“ an – denn das ist das grundsätzliche Vorgehen der Täter*innen. Die Opfer sollen auf allen möglichen Wegen getäuscht, in Unsicherheit gebracht und im Kontext einer vorgetäuschten Notlage um ihr Vermögen gebracht werden.
Das Strafgesetzbuch verfügt über keinen eigenen Paragraphen zum Enkeltrick. Stattdessen wird die Straftat unter einem gemeinsamen Paragraphen zusammengefasst.

§ 263 StGB – Betrug

(1) Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines anderen dadurch beschädigt, daß er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstellung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Der Versuch ist strafbar.

In besonders schweren Fällen kann das Strafmaß sogar auf sechs Monate bis zu zehn Jahre ausgeweitet werden. Besonders schwere Fälle zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass es bei sich den Taten nicht um Einzelfälle handelt, eine Person in wirtschaftliche Not gebracht wird oder man gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande agiert. Der letzte Punkt soll für uns im Folgenden von besonderer Bedeutung sein.

Die Täter*innen

Gewerbsmäßiger Bandenbetrug. Das ist der strafrechtliche Ausdruck für den Enkeltrick. Diese Bezeichnung rührt zum einen daher, dass die Täter*innen immer organisiert und im großen Stil agieren. Zum anderen handelt es sich bei den Täter*innen immer um bandenmäßig organisierte Großfamilien im Ausland.
Doch dazu später mehr.
Wie bereits eben erwähnt, ist das Vorgehen immer das gleiche und in hohem Maße koordiniert. Mit alten Telefon-CDs (quasi Telefonbücher im CD-ROM-Format) werden die Telefonnummern von Menschen mit alt klingenden Namen durchsucht und diese dann systematisch abtelefoniert. Dazu werden ganz einfach alte „Wegwerfhandys“ und Prepaid SIM-Karten verwendet. Aus Sicherheit wandern diese jeweils nach maximal einem Tag in den Müll. Die Ausweispflicht, welche in Deutschland bei Aktivierung einer Telefonkarte gilt, wird einfach mit Karten aus dem Ausland umgangen.

Bei jeder Tat sind mindestens 3 Akteur*innen involviert:

Anrufer*in
Das sind, wie der Namen vermuten lässt, diejenigen, die den eigentlichen Anruf tätigen. Sie sitzen meist in Polen und sprechen akzentfrei und fließend deutsch. Die Rolle der*des Anrufer*in ist eine sehr zentrale für das Vorgehen und wird nur von wenigen Bandenmitgliedern beherrscht. Die Polizei schätzt die Zahl auf gerade mal 12 oder 13 Anrufer*innen, welche in der Regel gleich zwei oder drei Abholerteams parallel zur Verfügung haben.

Logistiker*in
Diese Rolle ist für die nötige Hintergrundrecherche notwendig. Während der Anruf getätigt wird, werden online direkt Infos eingeholt in Bezug auf Adresse, die nächstgelegene Bank (sollte das Opfer kein Bargeld zuhause haben) oder gar die Anbindung an den ÖPNV. Dann wird das Abholerteam instruiert und zur Adresse geschickt.

Abholer*innenteam
Dieses besteht meist aus drei Personen, die jeweils ihre eigene Rolle erfüllen. Die*Der Fahrer*in bringt die Kompliz*innen zum Opfer. Die*Der Observant*in beobachtet den Tatort und stellt fest, ob Polizei auf dem Weg ist oder sogar bereits informiert wurde und sich ebenfalls vorbereitet. Die*Der Abholer*in sammelt das Geld an der Haustür ein. Sie vermeiden dabei Augenkontakt und versuchen die Interaktion so kurz wie möglich zu halten (je länger die Interaktion, desto mehr Spuren und Indizien haben die Opfer, um sich später an die Polizei zu wenden).
Anschließend wird das Geld per Online-Geldtransfer oder Kurier an die Hintermänner ins Ausland gebracht und hinter den Kulissen verteilt. Die übliche Aufteilung: 50 Prozent für Anrufer*innen, 25 Prozent für Logistiker*innen und 25 Prozent für das Abholerteam.

Wer sind jetzt diese Großfamilien? Um den Enkeltrickbetrug hat sich über die letzten knapp 25 Jahre eine Enkeltrickmafia gebildet, die der italienischen gar nicht so unähnlich ist. Dabei handelt es sich um einen größtenteils in Polen ansässigen Zusammenschluss aus Roma-Clans, der entsprechend streng hierarchisch strukturiert ist.
Das Geschäft bleibt hier Familiensache. Außenstehenden wird nicht vertraut. Innerhalb der Familien haben sich Repressalien etabliert, um zu verhindern, dass die eigenen Verwandten abtrünnig werden. Sprich: Wer bei der Polizei auspackt, wird aus dem Clan ausgeschlossen oder erhält ein Kopfgeld.

Die Opfer

Die Bezeichnung Enkeltrick macht kein Geheimnis aus der Zielgruppe der Großfamilien. Es sind immer ältere Menschen mit alt klingenden Vornamen, die ohnehin wenig angerufen werden und grundsätzlich eher einsamer sind. Auch der eigentliche Trick ist selbsterklärend. Die Täter*innen geben sich als Enkel/Nichten/Neffen oder andere Teile der Verwandtschaft aus – immer in einer äußerst dringlichen Notlage. Der einzige Ausweg: ein hoher Geldbetrag, den nur die Großeltern als letzte Option bereitstellen können. Der Kreativität sind bezüglich der Notlage keine Grenzen gesetzt, sie wird lediglich durch den Faktor der Plausibilität limitiert. Klassische Beispiele sind ein Autounfall mit dem Mietwagen, ein Verkehrsunfall mit Verletzten oder der dringende Kauf der Traumimmobilie.

Warum sind ausschließlich ältere Menschen Opfer vom Enkeltrick?
Sind ältere Menschen wirklich so einfältig und leichtgläubig? Unbefriedigenderweise heißt die Antwort hier Ja und Nein. Zum Unglück vieler Senior*innen unserer Bundesrepublik bringt gerade ihre Bevölkerungsgruppe besonders viele Eigenschaften bzw. Voraussetzungen mit, die den Enkeltrick so erfolgreich machen.

Auf der einen Seite finden wir die bereits erwähnte Notsituation wieder, in der sich die angeblichen Verwandten befinden und die ein schnelles Handeln erfordert. Dazu kommt die Tatsache, dass ältere Menschen eher dazu tendieren, ihr Bargeld oder wertvollen Schmuck zuhause zu verwahren. Auf der anderen Seite sind sie anfälliger für Täuschungsversuche. Das hat eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2013 herausgefunden. Diese unterstellt älteren Menschen vor allem eine höhere Anfälligkeit, Opfer von Betrug zu werden. Gründe dafür sind ein schlechteres soziales Wohlbefinden und unbefriedigte soziale Bedürfnisse. Unterstützt wird das ganze durch den demografischen Wandel, den wir in Deutschland und Europa erleben. Das Durchschnittsälter steigt immer weiter an und damit gehen den Betrüger*innen auch die Opfer nicht aus.

Jeder hat Angst vor Einbrüchen, Raub oder Überfällen. Niemand hat Angst vor dem Enkeltrick, weil jeder überzeugt ist, dass es ihm nicht passieren kann.

Joachim Ludwig – Polizeihauptkommissar, Polizeipräsidium Köln

Doch zum finanziellen Schaden – dieser kann für die Opfer mehrere tausend Euro betragen und in nicht wenigen Fällen die gesamten Ersparnissen aufbrauchen – kommt auch ein psychischer Schaden hinzu. Dieser ist nicht zu unterschätzen und hat weitreichendere Folgen als der wirtschaftliche. Opfer haben oft Angst ans Telefon oder die Tür zu gehen, was als Katalysator für die Vereinsamung wirkt und im schlimmsten Fall bis zum Suizid führen kann.
Weiterhin machen sich Opfer oft selbst für die Tat verantwortlich, schämen sich oder fürchten Ärger mit ihren Kindern und Enkeln. Die Polizei schätzt, dass circa die Hälfte aller Opfer sich nicht traut die Tat anzuzeigen.

Die Justiz

Wenn die Vorgehensweise der Betrüger*innen so primitiv und gleichzeitig so durchschaubar ist, warum ist die Justiz nicht dazu in der Lage, dem Enkeltrick ein Ende zu setzen?

Joachim Ludwig ist Polizeihauptkommissar in Köln und ermittelt seit 20 Jahren gegen Telefonbetrüger*innen. Die Kolleg*innen nennen ihn auch Mr. Enkeltrick. Er sieht einige Probleme in der Arbeit der Polizei, aber auch im Rechtssystem, welche die Ermittlungen in Sachen Enkeltrick erheblich erschweren.

Eines der größten Probleme ist die Abschaffung der sechsmonatigen Vorratsdatenspeicherung. Dadurch fehlen den Ermittlungen wichtige Daten und Infos in Bezug auf die Anrufer*innen. Auch Anbieter wie die Telekom dürfen keine Telefonnummern oder Etwaiges speichern.
Als zweiten großen Punkt kritisiert Ludwig den Föderalismus, der auch in der polizeilichen Arbeit ein Problem darstellt. Während die Täter*innen in ganz Deutschland agieren, investigieren die jeweiligen Dienststellen nur in ihrem eigenen Bundesland – sobald Ländergrenzen überschritten werden, hört die Zuständigkeit der entsprechenden Dienststelle auf. Noch schlimmer wird es erst auf internationaler Ebene. Hier sind Kooperationen mit ausländischen Dienststellen die absolute Ausnahme und kommen so gut wie nie zustande.

Die Geschichte des Enkeltricks

Ende Mai 2014 allerdings kam es zu einer solchen seltenen Kooperation zwischen deutschen und polnischen Beamt*innen. In Warschau, Posen, aber auch in deutschen Städten kam es zeitgleich zu 49 Festnahmen verschiedener Drahtzieher*innen und Handlanger*innen der Enkeltrickmafia. Darunter auch Arkadiusz L. und sein Bruder Adam P.
Arkadiusz L. (Spitzname „Hoss“) gilt als Erfinder des Enkeltricks und ist „Pate“ einer Roma-Großfamilie. Der Legende nach begann alles Ende der 90er Jahre. Damals hat Hoss noch als Teppichverkäufer in einem Callcenter gearbeitet. Als er einen älteren Herren am Telefon hatte, glaubte dieser die Stimme seine Enkels Rudolph zu hören und sprach ihn auf seine akuten Geldprobleme an. Arkadiusz L. spielte ganz einfach mit und so ist der erste erfolgreiche Enkeltrick über die Bühne gegangen.
Hoss verschwendete keine Zeit damit sein Wissen an die Verwandten weiterzugeben und hat so den Telefonbetrug im großen Stil aufgezogen.

Bei seiner Festnahme im Mai 2014 konnten die polnischen Behörden ihm allerdings nur acht Straftaten nachweisen. Seinem Bruder Adam nur sieben, sodass beide nach fünf Monaten gegen Kaution aus der Untersuchungshaft freikamen. Hoss wurde im Jahr 2017 erneut festgenommen, doch kam er auch hier nach kurzer Zeit gegen Kaution wieder frei. Ende 2019: das gleiche Spiel. Deutsche und polnische Behörden sind fassungslos. Zwischenzeitlich wurde im Frühjahr 2018 einer der Hintermänner und Sohn von Hoss – Marcin Kolompar, genannt „Lolli“ – festgenommen und vor dem Landgericht Hamburg zu zwölfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Und auch Arkadiuzs L. selbst sitzt aktuell wieder in einem polnischen Gefängnis ein. Fragt sich nur für wie lange.

Eine Sache steht auf jeden Fall fest: Der Enkeltrickbetrug braucht seinen Erfinder nicht. Kaum waren Hoss und Konsorten hinter Gittern, glühten wieder die Telefonleitungen älterer Menschen in Deutschland, Österreich, Schweiz und Luxemburg. Direkt sind neue Hintermänner nachgerückt, die den Familienbetrieb am Laufen halten.

Wie kann ich mich und meine Nächsten schützen?

Laut Joachim Ludwig kann jede*r dem Enkeltrick zum Opfer fallen, unabhängig vom Bildungsstand oder dem Wissen über die Möglichkeit solcher Taten. Entscheidend ist nur der falsche Moment. Die Täter*innen greifen die Opfer hochgradig auf emotionaler Ebene an, sodass diese entsprechend unüberlegte, emotionsgetriebene Handlungen vornehmen.

Auch sind ältere Menschen gar nicht so anfällig für den Enkeltrick als dieser Artikel es vielleicht bisher impliziert hat. In der Regel gehen einer vollendeten Enkeltricktat hunderte von missglückten voraus. Fälle, in denen Angerufene die Polizei informiert haben oder aufmerksamen Bankangestellten die Ungereimtheiten auffielen sind zwar nicht die Regel, aber auch keine Seltenheit. Solche Informationen sind eine der größten Hilfen für die Behörden.

Tipps der Polizei, um sich vor Enkeltrickbetrüger*innen zu schützen, umfassen unter anderem das Aufhängen eines Zettels neben dem Telefon – dieser soll bei jedem Anruf an Betrüger*innen erinnern. Eine weitere gute Strategie ist das Zurechtlegen von Fangfragen, sollten Zweifel aufkommen, wer gerade anruft. Generell muss die Bevölkerung umdenken und mehr aufeinander achten. Während unseren Eltern oder Großeltern bequem per Telefon die Taschen gelehrt werden, dürfen wir nicht weiter die Augen zu machen.

Auf die Frage hin, warum sie denn tun, was sie tun, antworten die meisten Betrüger*innen: „Ihr seid doch selbst Schuld, wenn ihr auf eure Alten nicht aufpasst.“ Und vielleicht ist da sogar was dran.

Bild von rupert B. auf Pixabay