von webmoritz. | 24.12.2022
Auf ihrem Weg nach vorn merkt Marie, dass außer ihr niemand mehr im Bus ist. Außer ihr und… dem blonden Mädchen. Zusammengekauert sitzt es auf einer der Bänke, schaut aus dem Fenster und schluchzt vor sich hin.
„Ähm…hey“, flüstert Marie, „geht es dir gut?“ Das Mädchen zuckt zusammen und schaut auf: „Ich dachte es wäre niemand mehr im Bus. Ich dachte… mir geht es gut.“ Das Mädchen wischt sich die Tränen ab und schaut sie abweisend an. Doch jetzt will Marie nicht lockerlassen. Immerhin hat sie auch sonst nichts anderes zu tun. „Kann ich mich setzen?“, fragt sie. „Meinetwegen“, kommt es patzig von der Sitzbank zurück. Marie setzt sich und schaut sich im Bus um. Noch immer ist niemand wieder reingekommen. Stockend fängt sie an zu fragen: „Also. Ich weiß ja nicht, aber wenn du Hilfe…“
„Es ist ja soooo schrecklich“, platzt es aus dem Mädchen heraus. Jetzt weint sie auch wieder ein bisschen. „Ich hatte eine Aufgabe und jetzt mit der Panne wird das wohl nichts. Und irgendwie dachte ich, du gehörst zu uns. Wegen der vielen Geschenke und so.“ „Zu euch?“, fragt Marie verwundert. Das Mädchen wischt sich ein zweites Mal die Tränen ab und atmet tief ein: „Also: Ich bin ein Weihnachtself und ich dachte du auch. Also es gibt ganz viele Weihnachtselfen auf der Welt. Wir verteilen Liebe und kleine Wunder zu den Feiertagen und natürlich die Geschenke. Unsere Anweisungen bekommen wir per magischer Post von der Zentrale. Wer das genau ist, weiß ich jetzt auch nicht. Vielleicht das Christkind oder der Weihnachtsmann oder sonst wer. Ich bin für ein Kinderkrankenhaus in Berlin eingeteilt und sollte auf dem Weg den Leuten in den Autos ein paar Wunder mitgeben. Aber das ist ja nun völlig nach hinten losgegangen.“
Marie dreht sich der Kopf. Vielleicht hätte sie auf den Schuss im Tee verzichten sollen. Langsam kann sie einen Satz formen: „Warum sollte ich zu euch gehören?“ „Achso. Du hattest so viele Geschenke dabei und dann dachte ich. Na ja, es gibt viele Weihnachtselfen. Manche machen es hauptberuflich, so wie ich. Viele Eltern sind auch Weihnachtselfen und dann nur für ihre Kinder zuständig. Oder die älteren Geschwister werden Weihnachtselfen. Schließlich braucht es viele Hände für eine magische Zeit. Aber nur die hauptberuflichen Elfen können zaubern.“ Das Mädchen kichert. Doch dann endet das Lachen und sie schürzt die Lippen: „Du darfst das niemandem verraten. Das musst du mir versprechen.“ Marie nickt: „Versprochen.“
Eine Weile sitzen beide schweigend da. Das Mädchen spielt fahrig mit ihren Haaren, Marie sortiert ihre Gedanken. Erst formt sich eine Erkenntnis und dann eine Frage in ihrem Kopf: „Hast du die Panne verursacht?“ Immer nervöser wandern die Finger des Mädchens durch ihre Haare: „Also naja…nicht direkt. Also vielleicht schon ein bisschen. Also vielleicht hat mir die Zentrale gesagt, dass ich erstmal bei den kleinen Wundern bleiben soll. Aber im Auto nebenan war ein Vater. Seine Tochter hat ihn für Heiligabend ausgeladen. Ich übe noch an meinen Versöhnungszaubern, aber der Streit geht schon lang und die Wunden auf beiden Seiten sind tief. Auf jeden Fall ging irgendwas schief und auf einmal hat es aus dem Bus geraucht.“ Wieder kullern ihr Tränen über die Wangen. „Aber einen Bus-Reparatur-Zauber hast du nicht im Repertoire?“, fragt Marie vorsichtig. Die Weihnachtselfe schüttelt den Kopf. Wieder Schweigen im Bus. Marie startet einen zweiten Anlauf: „Wollen wir kurz raus und uns die Beine vertreten? Draußen kann man besser denken.“ Das Mädchen nickt und gemeinsam gehen die beiden zur Tür.
Draußen schneidet Marie die kalte Luft ins Gesicht. Die Elfe scheint die Kälte nicht zu merken. Sie schaut gedankenverloren auf die Fahrbahn, auf der die Autos wie Lichtblitze in der eisigen Dunkelheit vorbeirauschen. Langsam spazieren sie zum Busende. Dort stehen die anderen Fahrgäste und halten mit zitternden Händen ihre Handytaschenlappen an die Heckklappe. Einige wärmen sich in einem Kreis. Mit Ankunft der Elfe wird es plötzlich heller. Marie vernimmt die schüchterne Frage: „Wollen wir etwas singen?“ Kurz bekommt sie Angst, dass sich jemand an Wham! versucht. Doch vorsichtig klingen die ersten Töne von „Maria durch ein Dornwald ging“. Alle im Kreis singen mit. Die Musik am Rande der kalten Autobahn, die Lichter der Handys und der Scheinwerfer. Marie wird warm.
Als der letzte Ton verstummt, knallt auf einmal die Heckklappe. Stefan hat die Panne behoben und geht stolz voran zurück in den Bus. Die Fahrgäste trotten ihm hinterher. Das Rascheln von Mänteln füllt den Wagenraum. Marie setzt sich zurück an ihren Platz. Neben ihr das blonde Mädchen. „Glück gehabt“, flüstert sie ihr zu. Die Elfe nickt stumm. Die Wärme in Maries Herz macht sie schläfrig. Der Bus brummt sanft, als die Zündung startet. Marie schaut aus dem Fenster und denkt nach: Vielleicht hat das Mädchen ja geflunkert und sich die ganze Geschichte aus Langeweile ausgedacht? Doch Zweifel haben in dieser Nacht keinen Platz. Mit dem Gedanken an Wunder und endlich auf dem Weg nach Berlin schläft Marie selig ein.
Betragsbild: Laura Schirrmeister
von webmoritz. | 10.12.2022
Um noch einmal sicherzugehen, schaut Marie auf die Tafel und sieht, dass ihr Bus in genau 5 Minuten ankommt. Genau richtig für Marie, denn sie ist nicht gerade die geduldigste Person. Während sie also am Bahnhof wartet, holt sie ihre kleine Thermosflasche heraus, um ein bisschen Tee zu schlürfen. „Gut, dass ich daran gedacht hab!“, denkt sich Marie erleichtert. Die letzten Tage war es in Greifswald ziemlich kalt. Ohne Thermoleggings geht nichts mehr. Am besten noch zwei Paar Socken und dicke Handschuhe, dann ist man sicher bei diesem eisigen Wetter. Marie erinnert sich nicht mehr genau, welchen Tee sie sich gemacht hat, aber schon beim ersten Schluck schmeckt sie es heraus und spuckt ihn sofort aus ihrem Mund. „Baaah, nicht Pfefferminztee!“ denkt sich Marie und verzieht angeekelt das Gesicht. Na toll. Sie schaut kurz zu den anderen Menschen, die genau wie sie auf den Bus warten. Diese blicken Marie nur schräg an. Verlegen blickt sie schnell wieder weg. Ob sie es wohl schaffen würde, sich wenigstens einen Coffee to go bei der kleinen Dönerbude zu holen?
Genau eine Millisekunde später kommt bereits der Bus. Marie vergaß schnell den Gedanken und läuft schnell los. Noch schnell die FFP2-Maske aufsetzen uuund… zack! Fertig! Startklar! Der Busfahrer steigt aus und begrüßt alle, die mitfahren wollen. „Jetzt aber schnell, bevor ihr mir noch einfriert“ meint er mit einem Lächeln und hilft dabei, das Gepäck einzuladen. Als er Maries Trekkingrucksack hochheben will, muss er sich ziemlich anstrengen. „Ugggh Kleine, was hastn da eingepackt? Steine?“ fragt er schmunzelnd. Als von allen Reisenden das Gepäck verstaut ist, kann es auch schon losgehen. Marie und die anderen steigen nacheinander in den Bus. Die relativ unauffälligen Leute setzen sich entweder ganz nach vorn oder in die Mitte. Die „ganz Coolen“ gehen jedoch nach hinten, also natürlich auch Marie. Bis auf ein weiteres Mädchen, schätzungsweise 16 Jahre alt und die Kopfhörer hinter ihren langen dunkelblonden Haaren versteckt, ist niemand in der letzten Sitzreihe. Haaach, wie entspannt. Genau so, wie es sich Marie gewünscht hat.
Sie macht es sich schnell gemütlich. Bevor sie ihre Kopfhörer anschließt und ein Lied aussucht, macht der Busfahrer eine kurze Ansage. „Liebe Fahrgäste, mein Name ist Stefan und ich begleite Sie heute auf Ihrer Reise von Greifswald nach Berlin. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Reise. Bitte beachten Sie die aktuellen Schutzma-“. Ab da hört Marie schon nicht mehr zu, denn ihr aktuelles Lieblingslied von System Of A Down – ‚Lonely Day‘ startet. Marie ist jetzt in ihrer eigenen, kleinen Welt. Und schon setzt sich der Bus in Bewegung. Während das Lied auf voller Lautstärke durch ihre Kopfhörer dröhnt, denkt sie an die kommenden Weihnachtstage. Sie freut sich auf ihre Familie. Auf Oma und Opa. Mamas leckeres Essen. Ihre Geschwister Sabrina, Jeremy und Jan. Auf ihre zwei Katzen Garry und Mathilda. Die weihnachtliche Atmosphäre. Und einfach endlich mal ein bisschen abschalten können. Langsam schließt sie ihre Augen…
Irgendwann, nach ungefähr einer halben Stunde, wacht sie auf. Die Musik läuft noch immer. Verschlafen zieht Marie die Kopfhörer aus ihren Ohren, reibt sich die Müdigkeit aus ihren Augen und streckt sich. Als sie um sich herum schaut und ihre Augen bei dem jungen Mädchen 3 Sitze weiter stehenbleiben, zuckt Marie innerlich zusammen. Das Mädchen starrt sie mit finsteren Augen an. Verstört schaut Marie weg. Was wohl ihr Problem ist? Unauffällig riecht sie an ihrer Jacke – „Hm.. Also stinken tu’ ich nicht.“ Genau in dem Moment macht der Bus einen plötzlichen Ruck und bleibt stehen. Was ist denn jetzt passiert? Marie blickt nach draußen und bemerkt erst in diesem Moment, wie stockdunkel es schon draußen ist. Typisch Winter. Die Passagiere vorne tuscheln miteinander, aber Marie kann aus der Distanz nicht viel mitbekommen. Ein kurzer Blick auf das Handy verrät: 17:42 Uhr. Kein Signal. Na toll. Der Busfahrer Stefan teilt über eine Ansage mit, dass es eine Panne gibt. Wir sollen uns jedoch beruhigen, denn er wird schnell eine Lösung finden…
Beitragsbild: Laura Schirrmeister
von webmoritz. | 03.12.2022
Marie steht in ihrem Zimmer. Der Trekkingrucksack liegt offen vor ihr, rundherum auf kleinen Häufchen liegen ihre Kleidung, zwei Bücher, ein Laptop. Es ist endlich Weihnachtszeit. Endlich ein paar Tage durchatmen. Sich von den letzten Vorlesungen und Seminaren erholen. Endlich im Hotel Mama für ein paar Tage durchfüttern lassen.
Doch bevor Marie in ihren Gedanken an die besinnliche Zeit abschweift, stolpert sie mit einem Kaffee in der Hand über ihre Schuhe. Da trifft sie der harte Boden der Tatsachen (und ein wenig Kaffee auf die Hose): Sie muss dringend ihre Sachen packen. Ihr Bus fährt in knapp 60 Minuten und es ist noch nichts in ihrem Rucksack gelandet.
Sie stellt die Kaffeetasse auf dem Schreibtisch ab, holt das Handy aus der Hosentasche und öffnet eine Weihnachtsplaylist. Mariah Carey ertönt und singt „All I want for Christmas is yoooooouuuuuuu“. Marie wird klar, dass es eigentlich nur noch schlimmer werden kann, aber irgendwie gehört diese furchtbare Musik dann doch zu Weihnachten und damit eben auch zum ultimativen Christmas-Feeling. Sie fängt an, mitzusingen und kommt langsam in den Pack-Groove. Sie tänzelt um die Pack-Häufchen herum, sippt kurz am Kaffee, stolpert hier und da einmal über auf dem Boden liegende Gegenstände, fängt sich wieder auf beiden Beinen und wirft genüsslich ihre Sachen in den Trekkingrucksack. Mariah Carey hat endlich ihr Geträller beendet. Doch Marie ahnte bereits, dass irgendwann der furchtbarste Weihnachtssong aller Zeiten läuft: Wham! singen gerade „Last Christmas“ und Marie kann sehr plötzlich nachvollziehen, warum sich Vincent van Gogh ein Ohr abschnitt. Ihr Blick fällt auf die Bastelschere auf dem Schreibtisch. Sie fragt sich kurz, ob diese wohl scharf genug ist, um das Werk ähnlich erfolgreich zu beenden wie van Gogh. Marie schüttelt den Kopf und fokussiert sich wieder auf die Unordnung um ihren Trekkingrucksack.
Sie gibt auf. Marie stopft einfach ihre Sachen in den Rucksack und stellt diesen auf. Der Rucksack ist irgendwie ganz schön schwer geworden und noch ist nicht alles drin. „Naja, immerhin nur bis zum Busbahnhof“, sagt sich Marie. Sie geht in die Küche, holt noch einen Beutel, um die Geschenke für den Transport zu verstauen. Sie packt ihren Laptop und die Bücher in ihre Tasche, ebenso ein kleine Thermosflasche mit Tee (und vielleicht auch einem kleinen Shot, damit die Busfahrt etwas erträglicher wird). Vollbepackt wie ein kleiner Esel mit einem viel zu schweren Trekkingrucksack auf den Schultern, einem großen Einkaufbeutel voller Geschenke und einer Tasche mit ihrem wichtigsten Hab und Gut geht es für Marie zum Bahnhof. Sie ist spät dran und nimmt, trotz der Widrigkeiten und des Gepäcks, ihre Beine in die Hand. Verschwitzt erreicht sie langsam den Busbahnhof. Sie blickt hoch und sieht, dass ihr Bus bisher noch nicht da ist. Marie atmet durch, nimmt das Tempo raus und geht langsam die letzten hundert Meter zum Bussteig.
Beitragsbild: Laura Schirrmeister