Der Friedhof von Orlina Duża – Kontraste und Symbole in der Einsamkeit

Der Friedhof von Orlina Duża – Kontraste und Symbole in der Einsamkeit

Ich stehe vor dem evangelischen Friedhof von Orlina Duża und damit südwestlich von Konin, was wiederum zwischen Poznań und Łódź liegt. Den vorliegenden Grabsteinen zu urteilen, liegt sein Anlegen schon gut 150 Jahre zurück. So gruselig dieser Ort – wie vermutlich auch alle anderen Friedhöfe – in der kalten Jahreszeit erscheint, umso merkwürdiger wirkt er im Mai. Das kann man nicht von jedem der zahlreichen Friedhöfe in Wielkopolska sagen, auf welchem deutsche Siedler*innen bestattet wurden.


Die evangelischen Friedhöfe liegen in vielen Fällen relativ weit von der ihnen zugeordneten Siedlung entfernt. Im ländlichen Raum ergeben sich dadurch bei einem Besuch ziemliche intensive Atmosphären. Einsam und alleine, umgeben von Natur, auf die Grabsteine blickend und wissend, was sich davor im Boden befindet, spüren Betrachtende etwas in sich aufkommen. Es ist die allseits bekannte Romantik der Vergänglichkeit. Seien wir doch mal ehrlich! Die Mystik von Friedhöfen kommt doch erst ab Ende Oktober so richtig zur Geltung. Die bunten Blätter und die letzten warmen Strahlen der Sonne bringen diese Orte der Trauer für eine kurze Dauer zum Glänzen. Dann lässt der graue November seine Regentropfen wie Tränen auf die kalten, kargen Grabsteine fallen. Durch den gespenstischen Nebel fliegen krächzende schwarze Raben. Doch spätestens mit dem Eintritt in die Adventszeit, wenn Allerheiligen und der evangelische Totensonntag wieder Geschichte sind, rückt die Vergänglichkeit zurück in den Hintergrund. Die Sinnlichkeit der Weihnachtstage naht.


Im Fall von Orlina Duża ist es aber anders. Das ganze Jahr über kann man als Hobby- oder Profi-Fotograf*in unterschiedliche Stimmungen und ausdrucksstarke Motive einfangen. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Wir erleben im Frühsommer einen starken Kontrast aus dem Grün der sprießenden Pflanzen und dem Grau der Grabsteine. Eine kraftvolle glänzende Farbe trifft auf das trübe Grau. In einem ähnlichen Verhältnis stehen auch im Oktober die kraftvollen Rot- und Gelbtöne der Herbstblätter den Steinen gegenüber. Man muss dazusagen, dass hier im Frühsommer die giftigen Maiglöckchen in großer Zahl wachsen. Mit ihren unschuldig aussehenden weißen Blüten lockten sie schon viele Unwissende in den Tod – Mensch und Tier. Wie passend für diesen Ort, oder nicht? Was für ein Spiel der Symbolik! Schon die großen Dichter der deutschen Romantik – Eichendorf und von Fallersleben – widmeten diesen Pflanzen ihre Werke. Beide Dichter waren noch ganz knapp Zeitgenossen der hier liegenden Verstorbenen, denn das erste Grab wurde laut Eintragung im Register 1863 angelegt. Im Winter erleben wir hier die typische sentimentale Stimmung, die allein schon durch die vielen Kreuze erzeugt wird. Aber auch die Grabsteine selbst zeigen neben ihren teilweise arg eigentümlichen Inschriften, die es sich mal lohnen würde zu analysieren, Symbole – Sterne, Rosenblüten und Blumen. Die Interpretationen liegen zwischen Sterblichkeit und Ewigkeit.

Ein Blick auf die Karte zeigt, wo sich Orlina Duża verbirgt:

Was hier allerdings ganz sicher gezeigt wird, ist ein Einblick in das Leben der deutschen Siedler*innen des 19. und 20. Jahrhunderts – auch Hauländer genannt. Um den Friedhof herum gibt es für Interessierte weitere Überreste dieser Kultur. Ganz selten stehen noch Holzhütten, häufiger sind Gebäude oder Ruinen, die oftmals noch die klassischen Schindeln aus Rasenerz enthalten – das markanteste Merkmal des Baustils der Hauländer.

Das Thema der Hauländer, was eigentlich inhaltlich viel Potential für unterschiedliche Forschungsbereiche bietet, wird in Polen mal mehr und mal weniger stiefmütterlich behandelt. So steht es zudem um den Zustand der zahlreichen aufgegeben Friedhöfe. Dadurch, dass es sich bei den Verstorbenen in fast allen Fällen um mehr oder weniger einfache Siedler*innen handelt, ist es nicht so einfach, nähere Informationen zu erhalten. Im polnischen Denkmalregister steht sogar, dass sich unter den Bestatteten keine Personen der Geschichte befinden. Kirchenbücher und die verwahrten Akten der Ansiedlungskommission sollten aber bei der Erforschung mit die ersten Anlaufstellen sein. Und! Kenntnisse in der Kurrentschrift sind hier mehr als nur ein Vorteil. Falls die Geschichte diese Übungen noch anbietet, lohnt sich eine Teilnahme sehr.

Hier ein paar Einblicke in Orlina Duża:

Beitragsbilder: Michael Fritsche

Es lebe der Neue Friedhof!

Es lebe der Neue Friedhof!

Friedhöfe verbindet man vor allem mit einer Sache – mit dem Tod. Doch wenn man einmal genauer hinsieht, bemerkt man, wie viel Leben in so einem Ort steckt. Genau das habe ich bei einer Führung auf dem Neuen Friedhof getan.

Wobei von neu heute eigentlich auch nicht mehr die Rede sein kann. Der Friedhof in der Fettenvorstadt wurde 1864 eröffnet, da auf dem Alten Friedhof nicht mehr genug Platz war. Und Platz brauchte man damals – so viel, dass der Friedhof mehrmals erweitert werden musste, bis die heutige Größe von 23,1 Hektar erreicht war. Die Vorhaben, noch die in Richtung Wackerow angrenzenden Ryckwiesen zu integrieren, wurden dann nicht mehr umgesetzt. Zum Glück, meint Jens Niebuhr, der für den Friedhof zuständige Gärtnermeister. Er hat so schon genug zu tun. Und Platz ist heute ohnehin im Überfluss vorhanden. Nicht, dass weniger Menschen sterben würden, es ist nur so, dass sich die Vorlieben geändert haben: Statt einzelnen Gräbern werden oft Urnenplätze in Gemeinschaftsanlagen gewählt, die sind einfacher zu pflegen. Für den Friedhof ein echtes Problem: Hier steht das einzige Krematorium Vorpommerns. Kein Wunder also, dass dort gerade zur Weihnachtszeit Hochbetrieb herrscht, wenn besonders viele alte Menschen sterben.

Viele Bäume und Sträucher sind inzwischen mit Hinweistafeln gekennzeichnet.

Nun sollte in diesem Text ja eigentlich mehr vom Leben als vom Tod die Rede sein. Auch davon ist hier reichlich vorhanden, wie in fast jedem Park – denn das ist ein Friedhof ja im Grunde genommen. Dieser ist sogar ein ganz besonderer: Das Gelände ist wie die Gebäude denkmalgeschützt. Das bedeutet für Niebuhr, dass er sich in vielem daran orientieren muss, wie der Friedhof früher einmal aussah. Hier war eine Säuleneichenallee? Dann muss da wieder eine hin! Diese Buchsbäume standen schon auf den alten Fotos vorm Krematorium? Dann müssen sie auch dort bleiben! Einen gewissen Gestaltungsspielraum hat er aber doch, und so kommt es, dass es eine erstaunliche Vielfalt an Bäumen und Sträuchern zu entdecken gibt. Pflanzen wie Urweltmammutbaum und Strauchkastanie, teils eine Art Reisemitbringsel, teils vom Arboretum gestiftet. Ähnlich wie dort sind viele davon mit Namenstafeln versehen – ein Projekt Niebuhrs, daraus soll einmal ein Lehrpfad werden. Es sei ihm wichtig, den Menschen ein Auge für die Natur des Friedhofs zu öffnen, meint er. Daher wird auch im Schaukasten monatlich ein Baum vorgestellt, daneben sind Vogelzeichnungen einer Mitarbeiterin zu sehen.

Und tatsächlich, wenn man einmal darauf achtet, dann hört man Vögel zwitschern, sieht man Libellen fliegen und Pilze wachsen. Warum sich nicht mit ihnen auf einem Friedhof beschäftigen? Das Angebot ist schließlich da. Bis zu einem gewissen Punkt zumindest. Denn längst nicht alle besonderen Bäume haben ein Schild bekommen. Aus gutem Grund: Es soll bloß niemand auf die Idee kommen, es könne sich hier um etwas Besonderes handeln. Dann kann es nämlich passieren, dass die Pflanzen ganz schnell verschwunden sind. Einen Strauch musste Niebuhr drei Mal pflanzen – beim dritten Mal bekam er eine Bodenverankerung. Den kann so leicht keine*r mehr ausgraben. Irgendwie bestürzend zu hören, dass solche Maßnahmen nötig sind. Die Fichten im hinteren Teil des Friedhofs werden teilweise absichtlich asymmetrisch geschnitten – nicht etwa von Friedhofsschänder*innen, sondern vom Gartenteam. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass Menschen sie als Christbäume mitnehmen.

Wenn Niebuhr solche Geschichten erzählt, wirkt er verärgert bis resigniert. Man macht schon einiges mit, wenn man sich um so einen Friedhof kümmert. Viele Geschichten sind aber auch einfach nur unterhaltsam. Einmal hat er in einem Behälter für verrottbare Abfälle einen Schuhkarton gefunden. Darin: Ein toter Hamster. Niebuhr lacht. „Wenigstens wurde hier richtig getrennt“.

Zwei Dinge haben all diese Erzählungen gemeinsam: Es sind Geschichten für die Lebenden. Und sie sorgen dafür, dass es hier garantiert nicht langweilig wird.

Beitragsbilder: Nora Stoll