Buchrezension: Kirmes im Kopf von Angelina Boerger

Buchrezension: Kirmes im Kopf von Angelina Boerger

Angelina Boerger ist freie Journalistin. Sie arbeitet unter anderem für das Format Mädelsabende von funk. Sie hatte schon lange das Gefühl, dass irgendetwas in ihrem Gehirn anders funktioniert als bei anderen Menschen. Mit Ende zwanzig erhielt sie dann die – für sie sehr befreiende – Diagnose: ADHS.

In ihrem Buch „Kirmes im Kopf – Wie ich als Erwachsene herausfand, dass ich AD(H)S habe“ beschreibt Angelina Boerger den Weg zu ihrer Diagnose und vor allem die Probleme, die es auch in unserer Gesellschaft noch gibt. Es geht um Stigmata, den aktuellen Forschungsstand, Schwierigkeiten bei der Diagnosefindung (besonders bei Erwachsenen) und auch Komorbiditäten. Kurz: Man erhält einen kompletten Überblick über das Thema ADHS. Boerger hat dabei den Anspruch, mit ihrem Buch sowohl betroffenen ADHS-Gehirnen als auch Interessierten einen guten Überblick zu geben.

Sie beleuchtet die oben genannten Aspekte dabei nicht nur oberflächlich, sondern teilweise wirklich tiefgründig und bringt Anekdoten aus ihrem eigenen Leben ein. Eine Stelle, die wohl immer in meinem Kopf bleiben wird, ist die Beschreibung von einer Unterhaltung zwischen Personen mit ADHS:

„Interessant zu beobachten ist aber die Kommunikation zwischen zwei Menschen mit ADHS, die ähnliche Kommunikationsmuster haben: Hier wirkt es manchmal so, als befände man sich in einem olympischen Pingpongturnier. Die Gedanken sprudeln, Sätze springen hin und her, die Themen wechseln in Sekundenschnelle und trotzdem liegt die Konzentration oft bei 110 Prozent, denn es fällt ihnen unglaublich leicht, den Worten des anderen zu folgen und gleichzeitig die eigenen Gedanken zu formen.“

Angelina Boerger über die Kommunikation von ADHS-Gehirnen (S. 103)

 

Spannend zu betrachten sind auch die Kosten, die ADHS verursacht – von Medikamenten und Therapie zu Kosten, die die Gesellschaft trägt. Welche Angststörungen mit ADHS verbunden sein können, war mir zumindest auch so gar nicht klar. Boerger zeigt, wie wichtig es ist, dass Diagnosen mit Hilfe einheitlicher Diagnosekriterien gestellt werden. Außerdem auch, welche Probleme es mit dem DSM-5 und dem noch verwendeten ICD-10 gibt. Diese umschreiben Systeme zum Codieren von Krankheiten. Das ICD-11 wurde bereits freigegeben, befindet sich in Deutschland jedoch noch in der Prüfung. Bis dieses aktualisierte System verwendet werden wird, vergehen wahrscheinlich noch Jahre.

Boerger geht auf die (noch) lückenhafte Forschung ein und hofft sogar, dass ihr Buch früher oder später einmal veraltet ist. Für sie wäre dies der Beweis, dass die Forschung vorankommt. Als Leser*in kann man diesen Anspruch sehr nachempfinden.

Das Buch regt zum Nachdenken an. An einem Punkt im achten Kapitel stellte ich mir die Frage, wie fatal es eigentlich für betroffene Kinder sein kann, wenn die Erziehungsberechtigten sich gegen eine Diagnostik sowie eine Therapie aussprechen. Zumal dies nicht nur bedeutet, dass das Kind keinen Zugang zu entsprechender Hilfe erhält, sondern auch sein Leben lang stigmatisiert werden wird.

Persönlicher Eindruck

Ich habe wenig an dem Buch auszusetzen. Wirklich jetzt. Ganz im Gegenteil: Ich möchte es loben. Bevor ich Boergers Buch gelesen habe, hatte ich ein wenig über ADHS gelesen gehabt. Dennoch war ich neugierig, wollte mehr erfahren und mein Wissen ausbauen. Nicht zuletzt, weil ich mich oft gefragt habe, ob ich nicht auch Symptome zeige. Besonders in Kapitel sechs habe ich mich an einigen Stellen selbst erkannt.

Angelina Boerger schafft es mit ihrem Buch, die Thematik ADHS gut verständlich und dennoch wissenschaftlich belegt an den*die Leser*in zu bringen. Der Wechsel zwischen ihrer eigenen Geschichte und den Ergebnissen ihrer Recherche ist sehr angenehm zu lesen und zu verfolgen.

Was ich besonders hervorheben möchte: Kirmes im Kopf ist das erste Buch, das ich lese, welches durchgängig gegendert ist. Vielleicht liegt es an meinem Gehirn, welches diese Texte mittlerweile vollkommen gewohnt ist. Vielleicht ist es aber auch einfach ein Fakt, dass dieses Buch wirklich angenehm zu lesen ist. Auch wenn es zu komplizierteren Formulierungen kommt, wurde das sehr gut gelöst. Ein Beispiel hierfür befindet sich auf Seite 160, wo es heißt: „Jede*r sollte sich trauen dürfen, bei seinem*ihrem Arzt oder seiner*ihrer Ärztin bestimmte Behandlungsmethoden anzusprechen oder Medikamente im Rahmen einer ärztlichen Behandlung auszuprobieren (…)“. Damit ist die dreimal hintereinander gegenderte Textstelle wirklich logisch und einfach umgesetzt und der Text weiterhin lesbar gehalten.

Wichtig sind vor allem auch die letzten Seiten des Buches: Boerger gibt hier (Folge-)Empfehlungen für Instagram-Kanäle, die sich mit dem Thema ADHS, aber auch mit mentaler Gesundheit auseinandersetzen – sortiert nach den verschiedenen Themen. Außerdem folgen ihre verwendeten Quellen. Wer also noch mehr wissen will, bekommt Studien und (wissenschaftliche) Artikel direkt mitgeliefert.

Ich könnte diese Rezension noch ausweiten, weil es wirklich viele interessante Punkte und Inhalte gibt. Viele davon waren mir zuvor nicht klar. Wenn euch das Thema ADHS interessiert, dann lest dieses Buch. Ich habe es definitiv nicht zum letzten Mal in die Hand genommen.

 

„Das ist die einzige Antwort, die ich Menschen geben kann, wenn sie mich fragen, was eine Diagnose im Erwachsenenalter überhaupt bringt. Sie hilft mir dabei zu verstehen, wer ich wirklich bin, meine Maske abzulegen und endlich ICH zu sein.“

Angelina Boerger über ihre ADHS-Diagnose (auf S. 105)

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Lesbarkeit

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Nicht mehr weglegen wollen

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Layout

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Weiterempfehlung

Wir möchten uns an dieser Stelle beim KiWi-Verlag bedanken, der uns ein kostenloses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Das Buch gibt es überall, wo es Bücher gibt, für 18 € (Taschenbuch), 16,99 € (eBook) oder 5,99 € (Hörbuch).

Beitragsbild: Laura Schirrmeister

Wie barrierefrei ist die Uni?

Wie barrierefrei ist die Uni?

Zum großen Hörsaal am Ernst-Lohmeyer-Platz gibt es einen Fahrstuhl. In das Institut für Geographie schafft man es mit Gehbehinderung nicht einmal ins Foyer. Zwar kann man sich für Prüfungen krankschreiben, doch ein zweites Mal für die gleiche Prüfung sollte man das lieber nicht tun. Unsere Uni ist eben nicht überall barrierefrei. Wie fühlt es sich an, mit chronischer Erkrankung hier zu studieren? Wir haben mit einer Betroffenen gesprochen.

Obwohl Sarah* fleißig lernt, wird sie ihr Psychologiestudium nicht in Regelstudienzeit schaffen. Das liegt an ihrer chronischen Erkrankung. Sie hat ADHS und eine Posttraumatische Belastungsstörung. Damit fällt es ihr schwer, sich in Vorlesungen 90 Minuten lang zu konzentrieren. Auch fühlt sie sich oft überreizt, besonders wenn sich um sie herum viele Geräusche überlappen. Doch nicht nur das macht ihr zu schaffen. Auch die Verwaltung der Universität ist nicht barrierefrei.

Doch ganz von vorn. 2019 kommt Sarah nach Greifswald, um hier eine Naturwissenschaft zu studieren. Ob die Universität barrierefrei ist, ist für sie damals nicht entscheidend für die Wahl ihres Studienplatzes. Ihr ist bereits klar, dass ein Studium mit ihrer Krankheit besonders herausfordernd sein wird. Das Ankommen in der neuen Stadt klappt gut. „Ich habe direkt einen befristeten Therapieplatz gefunden. Das hat mir sehr geholfen“, sagt sie heute. Doch der Druck im Studium wird letztlich zu groß.

„Jeden Tag Vorlesungen ohne entsprechende Pausen sind eine zu große Belastung. Die Pausen zwischen den Vorlesungen sind keine Erholung. Ich habe gerade genug Zeit, um zwischen den Gebäuden zu wechseln.“

Sarah

Nach einem Studienabbruch und einem Freiwilligen Sozialen Jahr fängt sie schließlich ihr Psychologiestudium an. Erstmals spricht sie jetzt auch mit ihren Komiliton*innen über die Krankheit. Die Reaktionen sind verständnisvoll und positiv. Gegenüber den Dozierenden möchte sie das Thema trotzdem nicht ansprechen. Einzig ihrer Studienberaterin erzählt Sarah davon: „Wir haben in Bezug auf die Studienverlaufsplanung über die Krankheit geredet. Sie hat verständnisvoll reagiert, aber schon damals wurde klar, dass ich es nicht in Regelstudienzeit schaffen werde.“

Damals wird Sarah auch vorgeschlagen, einen sogenannten Nachteilsausgleich zu beantragen. Ein solcher Ausgleich ermöglicht es Studierenden mit Behinderung oder chronischer Erkrankung zum Beispiel, schriftliche Prüfungen durch gleichwertige Prüfungsleistungen zu ersetzen. Für Sarah ist diese Möglichkeit nicht umsetzbar. Der hohe bürokratische Aufwand würde sie zu viel Energie kosten. Die Beratungsangebote des Studierendenwerks nutzt sie dagegen regelmäßig. Auch mit dem BAföG gebe es keine Probleme, sagt sie: „Mit den Mitarbeitenden lässt sich gut reden und es werden Lösungen gefunden.“

Sarahs größtes Problem ist aktuell die Krankschreibung in der Prüfungszeit. Hat man sich für eine Prüfung krankschreiben lassen und möchte das jetzt auch für die Wiederholungsprüfung tun, muss man zum Amtsarzt. Das kostet jedes Mal 26€. Doch häufiges Fehlen auf Grund von Krankheit ist nun mal typisch für eine chronische Erkrankung. Eine Abmeldung von Prüfungen ohne Angabe von Gründen ist bis zu zehn Tage vorher möglich. Sarah muss also zehn Tage vorher entscheiden, ob sie sich fit genug für eine Prüfung fühlt.

Wenn sie sich doch krankschreiben lässt, entscheidet nicht ihre Ärztin, ob Sarah gesundheitlich in der Lage ist, an der Prüfung teilzunehmen. Auf der Website der Universität Greifswald heißt es dazu: „Die Beantwortung der Rechtsfrage, ob die nachgewiesene gesundheitliche Beeinträchtigung den Abbruch der Prüfung oder den Rücktritt von der Prüfung rechtfertigen kann, ist nicht Aufgabe des Arztes; dies ist vielmehr letztlich und in eigener Verantwortung von der Prüfungsbehörde zu entscheiden.“ Eine Krankschreibung auf Grund von Examensangst oder Prüfungsstress sei außerdem nicht zulässig.

„Meine Ärztin muss darauf achten, bei meinen Symptomen nicht Worte wie „Angst“ oder „Stress“ zu verwenden, da mir das, trotz meiner psychischen Erkrankung, als Prüfungsangst ausgelegt werden könnte.“

Sarah

Für die Zukunft wünscht sich Sarah eine bessere Vernetzung. Sie selbst kenne niemanden anderes mit einer chronischen Erkrankung oder Behinderung. Besonders im ersten Semester hätte es ihr geholfen, sich mit Anderen in derselben Situation auszutauschen. Auch hofft sie darauf, dass Wege gefunden werden, sich mit einer chronischen Erkrankung unkompliziert und kurzfristig von einer Prüfung abzumelden. Als ich sie nach dem Interview frage, was sie heute noch vorhat, gesteht sie mir: „Ich muss mich noch von einer Prüfung abmelden, bald endet die Frist.“

Hast auch Du positive und/oder negative Erfahrungen mit Barrierefreiheit an der Universität Greifswald gemacht und möchtest darüber sprechen? Gern können wir ein (anonymes) Interview führen. Melde Dich bitte per Mail (web@moritz-medien.de) bei uns.

*Name von der Redaktion geändert

Beitragsbild: Lilly Biedermann