„Das Problem heißt Rassismus“ – unter diesem Motto riefen 20 Jahre nach den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen Verbände und Vereine zu Gedenkveranstaltungen auf. Die größte war die Demonstration, zu der 6 000 Menschen kamen.
Immer mehr Menschen strömen auf den Bahnsteig der Rostocker S-Bahn am Hauptbahnhof. Das vorwiegend junge Publikum kommt zum Teil schon von der ersten Kundgebung auf dem Marktplatz oder ist gerade erst aus den verschiedensten Teilen der Republik mit Zug und Bus angereist. Eine neue Gedenktafel erinnert auf dem Markt an die Pogrome vor 20 Jahren. Es ist schon die zweite Tafel an dieser Stelle; die erste blieb nicht lange an der Wand. Sie wurde damals von den Mitgliedern der Gruppe „Söhne und Töchter der deportierten Juden“ ohne Genehmigung angebracht und deshalb wieder entfernt.
Die neue Tafel ist eine Kopie von vor 20 Jahren. Noch ist nicht klar, ob die Gedenktafel hängen bleiben darf. Heute sind Bahnsteig und vor allem die Waggons der Stadtbahn vollgestopft. Die Bahn kann den Fahrplan nicht einhalten, die Passanten reagieren verwundert auf den Ansturm. Manche sind sogar verärgert. So bleibt es zwei Stunden, denn die Demonstranten steigen hier bloß um. Sie wollen nach Rostock Lütten Klein.
Von dort soll die Demonstration nach Lichtenhagen starten. Das Ziel ist das Sonnenblumenhaus. Dieser Ort geriet vor 20 Jahren in die Schlagzeilen. In dem Außenbezirk der Hansestadt gab es damals neben der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber auch ein Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter. Beides lag direkt nebeneinander im Sonnenblumenhaus in der Mecklenburger Allee. Dann kochte das Fass über, im August 1992. In der Republik rumorte es, die große Politik in Bonn berateten über das Asylrecht. In Rostock redete damals niemand, aber einige Menschen handelten plötzlich.
Nun sind tausende nach Rostock gereist, um dieser Ausschreitungen oder eher: dieser Pogrome zu gedenken.
Die S-Bahn ist brechend voll. An den Zwischenhalten versuchen immer mehr Leute einzusteigen, doch am Ende müssen viele am Bahnsteig stehen bleiben. Ein Surfer mit seinem Brett wird wohl noch längere Zeit warten müssen, ehe er zum Strand kommt. Trotz der Enge ist eine friedliche Stimmung im Zug. Dann ist der Bahnhof Lütten Klein erreicht. Eine Passagierin aus dem Zug ist froh, als die Leute aussteigen. Was die Leute hier wollen, kann sie nicht nachvollziehen: „Manche Dinge muss man einfach ruhen lassen. Ich habe nur Angst, dass irgendetwas passiert und Sachen zerstört werden.“
Umstrittene Demonstration zum Gedenken
Auf dem Bahnhofsvorplatz stehen bereits massenweise Menschen und mit jedem Zug kommen mehr dazu. Die Demonstration scheint aber noch nicht loszugehen. Flugblätter und ganze Zeitungen werden verteilt. Es wird aufgerufen, auch zu anderen Orten zu kommen, an denen in den 90ern Übergriffe auf Ausländer stattgefunden haben. „Entlarvt die Anstifter der Brandstifter – Oktoberfest, Hoyerswerda, Lübeck, Rostock, Mölln, NSU“, prangt auf einem Transparent. Orte, deren Name plötzlich nicht mehr für sich selbst steht, sondern für Rechtsextremismus und Ausländerhass. Für viele war Rostock-Lichtenhagen der Höhepunkt der Ausländerfeindlichkeit in den 90er Jahren und vor allem ist es für viele noch heute ein Schandmal in der Geschichte der Stadt. Aber nicht alle wollen daran erinnert werden: Gerade unter den Bewohnern sind viele der Meinung: dass die Geschichte einfach ruhen sollte.
Nicht so für die über 6 000 Demonstranten. Sie stehen hier, um auf das Problem aufmerksam zu machen: „Das Problem heißt Rassismus“, lautet das Motto. Passend dazu liegen Transparente mit der Aufschrift „Rassismus tötet“ auf dem Boden. Es geht also nicht nur um eine Demonstration oder Gedenken, sondern im Mittelpunkt steht das eigentliche Problematik: der Rassismus. Dennoch hat die Veranstaltung zu Diskussionen in der Stadt geführt.
Die Politik erstellte ein buntes Programm, um der vier Tage zu gedenken. Die gesamte Woche über war etwas los in Rostock: von Filmabenden, über Diskussionen, bis hin zu Konzerten. Aber eine richtige Demonstration war nicht wirklich erwünscht. So rief am Ende zum größten Teil die linke Szene dazu auf – was allerdings zu Sorgenfalten bei Anwohnern und Sicherheitskräften führte. Der so genannte „schwarze Block“ war auch vertreten und der ein oder andere daraus wohl auch auf handgreifliche Auseinandersetzungen vorbereitet. Es blieb die Zeit über größtenteils ruhig und friedlich.
Der Demonstrationszug setzt sich in Bewegung und es geht über eine Autobahnbrücke in Richtung Stadtteil Rostock-Lichtenhagen. Lange dauert es, bis der letzte vom Bahnhofsvorplatz loslaufen kann. Von den Lautsprecherwagen schallt Musik und regelmäßig ertönen Redebeiträge gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Einige Redebeiträge sind eher belangloses Herumgerede und andere wiederum bringen die Lage auf den Punkt: Das Problem im Land wird klar benannt und es lautet Rassismus.
Zwischen Musik und Stimmengewirr tönen immer wieder verschiedenste Parolen aus den Kehlen der Tausenden von Demonstranten. „Rassismus raus aus den Köpfen!“, doch kaum ein Unbeteiligter hört es. Die große Straße führt vorbei an einem Einkaufszentrum mit Kino. Doch abgesehen von den Demonstranten und der Polizei wirkt heute alles wie ausgestorben. Die Rufe verhallen im Nichts. Erst nach etwa einer Stunde erreicht der Demonstrationszug wirklich bewohntes Gebiet und es geht durch die Straßen von Rostock-Lichtenhagen. Durch den Bezirk, wo das schreckliche Ereignis vor 20 Jahren stattgefunden hat.
Der Schrecken in Lichtenhagen
Am 22. August 1992 entlud sich die angestaute Aggression vieler Menschen in Rostock. Doch so plötzlich war es gar nicht. Zuerst gingen Warnungen an die entsprechenden Behörden und die Ostsee-Zeitung druckte unzensiert einen Aufruf zu den Gewalttaten, die sich vier Tage lang in Lichtenhagen abspielen sollten. In den ersten zwei Tagen fielen jene Menschen dem Hass zum Opfer, die vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber campieren mussten, weil die Stelle total überlaufen war. Etliche von ihnen schliefen auf der Wiese – teilweise unter den Balkonen des Gebäudes und manche ganz ohne jeglichen Schutz über dem Kopf. Jeden Tag aufs Neue wurden sie zurückgewiesen, da keine Plätze für eine Aufnahme vorhanden waren.
Trotz der Warnungen, die an die Behörden gerichtet worden waren, passierte nichts, bis am 22. August 1992 die ersten Angriffe stattfanden. Hunderte von Menschen strömten nach Lichtenhagen und beteiligten sich teilweise aktiv oder manche passiv an den Übergriffen. Aus der gesamten Republik reisten bekannte rechtsextreme Personen an. Gruppen mit derselben Gesinnung verteilten Flugblätter und so kamen immer mehr Bürger, die sich an den Pogromen beteiligten. Oder sie standen daneben und jubelten oder hielten die Polizei davon ab, an Ort und Stelle zu arbeiten. Die Polizei hatte neben der Behinderung durch die Bürger auch noch zu wenige Kräfte vor Ort, um einzugreifen, was ein Handeln ihrerseits immer mehr erschwerte.
Erst nach zwei Tagen schien sich die Lage etwas zu beruhigen, denn die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber wurde geräumt. Doch mit den Übergriffen war es noch nicht genug: an den darauf folgenden Tagen griffen die Bürger das Wohnheim für vietnamesische Vertragsarbeiter – nur einen Aufgang weiter – an und warfen Brandsätze durch die Fenster. Über 100 Menschen wurden in dem brennenden Haus eingeschlossen. Die beängstigenden Bilder des ZDF-Teams, das mit im Gebäude war, gingen um die Welt. Auch bei diesen Angriffen wurden die Polizei und die Feuerwehr an ihrer Arbeit gehindert. Für die eingeschlossenen war es Glück, dass sie in der Feuerfalle überlebten. Ein paar von den damals Betroffenen waren bei der diesjährigen Gedenkveranstaltungen dabei.
Krtik am Handeln der Politiker
Während der bunte Menschenzug 20 Jahre danach durch den Stadtteil zieht, wird es immer unverständlicher, wie das alles geschehen konnte. Vor allem aber bleibt die Frage stehen, wie bei solchen Taten einfach zugeschaut werden kann – damals wie heute. Die Einstellung mancher Bewohner ist an ihren Gesichtsaudrücken abzulesen, während tausende Demonstranten an ihren Häusern vorbeiziehen. „Lasst uns hier in Ruhe!“ oder „Zu diesem Thema möchte ich nichts sagen!“, hört man die Bewohner in verschiedene Kameras sagen. Das deutliche Desinteresse in dem Bezirk ist zu spüren. Hier scheint das Motto „Vergessen statt Gedenken“ vorzuherrschen. Doch die Demonstranten lassen sich nicht von ihren Gedanken abbringen, warum sie durch die Straßen ziehen. Trotz böser Blicke von den Balkonen geht es immer weiter bis auf die Wiese hinter dem Sonnenblumenhaus.
Dort ist bereits ein Zirkuszelt aufgebaut, in dem verschiedenste Veranstaltungen in der Woche stattfanden. Und auch eine Bühne steht bereit, wo einen Tag nach der Demonstration Bundespräsident Joachim Gauck eine Rede halten soll. Dies soll gleichzeitig der Abschluss der Gedenkwoche sein. Ein gepflanzter Baum soll zudem ein bleibendes Zeichen setzen. Genau genommen wurde es schon gesetzt, denn die Eiche steht bereits und wird von der Polizei bewacht. Aber warum muss dieser Baum überhaupt bewacht werden, wenn es doch ein Zeichen der Versöhnung und des Gedenkens sein soll?
Viele Menschen aus der linken Szene kritisieren, dass der ausgewählte Baum ausgerechnet eine „Deutsche Eiche“ sein muss. Hätte es nicht auch eine jede andere Baumsorte sein können, wo doch ausgerechnet Deutsche Bürger diese Übergriffe vor 20 Jahren begangen haben. Dabei lautet eine ihrer Parolen die sie den gesamten Tag schon rufen: „Nazis gehen über Leichen. Und was macht Deutschland? Es pflanzt Eichen.“
Die Demonstranten vermissen bei der Politik die eigentliche Beschäftigung mit dem Problem. Die Frage bleibt, ob es Wichtigeres gibt, als sich um eine Baumsorte zu streiten. Bei so etwas hat wohl jeder eine eigene Ansicht in dem vielen Hin und Her. Was allerdings Fakt ist: Der Baum stand nur noch wenige Tage vor dem Sonnenblumenhaus. Dann wurde er in einer Nachtaktion abgesägt.
Auf der Wiese findet eine Zwischenkundgebung statt, bevor die Demonstration auf der Mecklenburger Alle zum Ende kommt. Einige Redebeiträge mit Danksagungen an die vielen Teilnehmer folgen und es wird dazu aufgerufen, auch an den anderen Orten den Opfern zu gedenken und auf das Problem aufmerksam zu machen. Heute ist das zu Teilen gelungen – vielleicht weniger bei den Bürgern im Bezirk Rostock-Lichtenhagen, aber auf jeden Fall mit der medialen Aufmerksamkeit in der Republik. Langsam zieht es alle in Richtung Bahnhof und zu den Bussen. Die Demonstranten aus allen möglichen Regionen fahren wieder nach Hause. Aber das Motto bleibt: „Das Problem heißt Rassismus.“
Haben die Randalierer von damals gewonnen?
Auf den Tag genau 20 Jahre später stehen wir hier, unsicher, was wir empfinden sollen neben Abscheu gegenüber so viel Hass und Gewalt. Trauer, weil in einem demokratischen Land mit derart vielen Rechten für die einzelne Person immer noch das Gedankengut der damaligen Täter zu finden ist? Erleichterung, weil dieses Gedankengut langsam aber stetig auf dem Rückzug ist? Ungläubigkeit, auf Grund der zeitweiligen Kapitulation der Exekutive vor dem Pöbel? Oder doch Freude über die Lehren, die das ganze Land aus dieser Beinahe-Katastrophe gezogen hat?Für mich bleibt die Frage: Haben die Randalierer von damals gewonnen? Wenn eine Frau vergewaltigt wird, und der Täter behauptet, das Opfer hätte es durch aufreizende Kleidung etc. herausgefordert, nimmt ihn niemand für voll. Warum aber zieht diese Masche dann, wenn ein paar Hohlraumdübel sich ihren Frust von der Seele prügeln und zündeln?
Voller Grauen schaute die Welt im Herbst 1992 auf ein neues altes Deutschland. Überhaupt schauten alle zu: Die Anwohner, die Polizei, die Medienvertreter – alle schauten zu, aber niemand schritt ein. Teilweise halfen die Medien sogar bei der Koordination der Ausschreitungen. So druckte die Ostseezeitung kommentarlos Drohungen rechtsgerichteter Jugendlicher gegen Asylsuchende ab. Die Bild hetze monatelang gegen die „Asylanten“ und auch seriösere Medien schmückten sich nicht gerade mit Ruhm. Dies war definitiv keine Sternstunde der Presse. Als Konsequenz der Ausschreitungen von Lichtenhagen, Mölln und auch Greifswald, wurde im Mai 1993 das Grundrecht auf Asyl extrem beschnitten.
Sind wirklich die Asylsuchenden schuld gewesen an dieser Eskalation? Ich denke nicht. Das Problem war – und ist immer noch – ein gesellschaftliches Problem: So lange wir als Gesellschaft nicht sicher stellen können, dass es kein zweites Lichtenhagen gibt, so lange muss der Gesetzgeber den einzigen Faktor, den er in dieser gesellschaftlichen Gleichung wirklich kontrollieren kann, streng limitieren – nämlich die Anzahl der Asylbewerber.
Somit sind wir alle gefordert, wenn es darum geht, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit zu bekämpfen. In dem Moment, in dem das kleine Grüppchen Nationalisten keine Duldung mehr erfährt von der Masse, in dem Moment verpufft seine Kraft und das Übel könnte sich in Luft auflösen. Insofern haben die Randalierer nicht gewonnen, sie haben der Welt nur ihr hässliches Gesicht gezeigt, so dass sie heutzutage umso leichter erkannt werden.
Eine Reportage von Johannes Köpcke mit einem Kommentar von Erik Lohmann