Das Ostseebad Prora liegt an der östlichen Küste Rügens. Einst ein „Kraft durch Freude“-Projekt im Dritten Reich, ist es nun eine Jugendherberge. Die 68 Jahre alte Geschichte der Megabauten erzählt vom Größenwahn, Zerfall und Wiederaufbau.
„Ich finde es gut, dass endlich etwas aus dem alten Gebäude gemacht wird“, sagt eine ältere Dame, die gerade mit ihrem Ehemann auf der Terrasse der Jugendherberge sitzt. „Die Herberge ist ja auch wirklich sehr modern und schön eingerichtet“, bestätigt ihr Mann. Wir sitzen vor der neu eröffneten Einrichtung des Deutschen Jugendherbergswerks (DJH) in Prora und genießen die letzten warmen Sonnenstrahlen des Oktobers mit einer Tasse Kaffee.
Da nur ein Tisch mit Bänken aufgebaut ist, setzen wir uns zu dem älteren Ehepaar und kommen sofort ins Gespräch. „Man muss auch über die Geschichte hinwegsehen. Was soll auch sonst aus den Häusern werden? Die verfallen doch nur nach und nach.“ Doch auf die Information, dass auf einschlägigen rechten Internetportalen die Eröffnung der Jugendherberge als sehr positiv gewertet wird und man hofft, dass Prora „mit 70 Jahren Verspätung doch noch den verdienten Ruf als preiswertes Feriendomizil erster Güte“ erlangt, reagieren die beiden sichtlich schockiert. Stellt sich die Frage, ob das Gebäude jemals aus dem Schatten seiner Geschichte treten wird.
„Es geht auch darum, etwas zu nutzen, was ohnehin schon da ist. Das ist, glaube ich, der einzige Grund, mit dem man so etwas rechtfertigen kann. Es kommt dann darauf an, ob die Geschichte und der Hintergrund erklärt werden, und das scheint hier der Fall zu sein. Deshalb finde ich es nicht anstößig“, betont Professor Thomas Stamm-Kuhlmann, Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit.
Urlaubsziel, Kaserne, Jugendherberge – das Seebad direkt in Prora hat eine ereignisreiche Vergangenheit. Es wurde 1936 als Urlaubsstätte für das Volk durch die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) errichtet und sollte 20 000 Menschen einen Platz zur Erholung bieten. Mit einer Gesamtlänge von 4,5 Kilometern ist der Gebäudekomplex der Größte seiner Art. Waren ursprünglich fünf solcher Urlaubsdomizile an der gesamten Ostseeküste geplant, so wurde allein Prora – und das auch nur zum Teil – realisiert. Geplant waren insgesamt acht Gebäude mit jeweils 550 Meter Länge und sechs Etagen mit 10 000 Gästezimmern.
Die Insel Rügen, auf der Prora liegt, ist mit 974 Quadratkilometern die größte Insel Deutschlands und wohl auch eine der schönsten. Neben langen Sandstränden und Buchenwäldern sind vor allem die Kreidefelsen ein beliebtes Reiseziel. Bereits vor mehr als 1 000 Jahren war die Insel besiedelt. Im 19. Jahrhundert wurde sie dann zu einer beliebten Erholungsstätte. Heute hat Rügen eine Einwohnerdichte von 69 Einwohnern je Quadratkilometer und lebt insbesondere von den Einnahmen aus der Tourismusbranche. Der Ort Prora liegt östlich von Binz in der Mitte eines imaginären Dreiecks, gebildet von Ralswiek, Sassnitz und Sellin. Mit dem Ortsnamen wird häufig nur die nationalsozialistische Vergangenheit des Bauwerkes assoziiert. Das Gebäude wurde 1936 vom Kölner Architekten Clemens Klotz geplant.
Entlang der
Küste errichtet, hatte jedes Zimmer einen Blick aufs Meer. Obwohl das Seebad als Urlaubsstätte präsentiert wurde, verfolgte Hitler hauptsächlich andere Ziele: ideologische Massenkultur und allgegenwärtige Propaganda. Das Volk sollte zu einer „Volksgemeinschaft“ werden. So verwundert es nicht, dass in allen Gästezimmern Lautsprecher geplant und viele Gemeinschaftsräume auf jeder Etage vorgesehen waren. „Man wollte unterbinden, dass die Leute zu individuell werden, wenn sie dort ihren Urlaub verbringen“, meint Professor Kilian Heck, Lehrstuhlinhaber der Kunstgeschichte des Caspar-David-Friedrich-Institutes.
Jeder Arbeitnehmer bekam unter Hitlers Führung zwei Wochen Urlaub im Jahr zugeteilt. Diese sollten primär in Prora beziehungsweise in den vier anderen geplanten Urlaubsstandorten verbracht werden. So war es den Nationalsozialisten möglich, die Bevölkerung selbst in ihrer Freizeit zu überwachen und zu kontrollieren. Obwohl dieser Fakt doch sehr interessant ist, fand „diese Entwicklung in den dreißiger Jahren als Trend der Industriegesellschaft einfach statt. Auch in Frankreich wurde zu dieser Zeit von der Volksfrontregierung der gesetzliche Urlaub eingeführt. Man muss sich einfach fragen, was daran typisch nationalsozialistisch ist“, erklärt Stamm-Kuhlmann.
Besucht man das Ostseebad Prora heute, erwartet einen in Block V eine moderne, sanierte Jugendherberge direkt am Meer. Mit ihrem weißen Äußeren, das vom Denkmalschutz vorgeschrieben wurde, sticht sie zwischen den grauen Fassaden und den Ruinen deutlich hervor. Doch die restlichen grauen Häuser sollen nicht so bleiben: Die Haas – Unternehmensgruppe aus Niederbayern hat sich vorgenommen, ein „Stück Geschichte anders, besser, zu vollenden als es begonnen wurde“. Die Investorengruppe unter Johann Christian Haas will laut ihrer Internetseite aus den Ruinen „das größte Urlaubsparadies der Ostsee“ entstehen lassen. Auf 1 000 Meter sollen Hotels Appartements, Eigentumswohnungen und Shopping-Areas gebaut werden und so den „Koloss von Rügen aus der Vergangenheit herausholen“. Vor vier Jahren begannen die Planungen und die Investorengruppe ist sich sicher, dass durch die „außerordentliche Qualität der Bausubstanz“ der Ausbau reibungslos verlaufen wird.
Obwohl Herbergsleiter Dennis Brosseit immer wieder betont, dass er versuche die Historie des Gebäudekomplexes auszublenden, wird im Inneren der Herberge erstaunlich penibel auf Internationalität und Weltoffenheit geachtet. „Man muss die jugendlichen Subkulturen verstehen“, meint Stamm-Kuhlmann, „das ist die Aufgabe, die man dort hat als Herbergsvater.“ Auch Seminarräume sind mit Begriffen wie „Mut“, „Offenheit“ oder „Toleranz“ in unterschiedlichen Sprachen benannt. Auf jeder Etage strahlen uns lachende Kinder unterschiedlichster Nationalitäten an und auf den Zimmern gibt es keine zwei gleichfarbigen Stühle. Der Bau der Jugendherberge wurde mit insgesamt 16,3 Millionen Euro durch neun Fördermittelgeber finanziert. Sowohl der Bund als auch das Land Mecklenburg-Vorpommern, die Europäische Union und das DJH selbst haben die Jugendherberge mit ihren 150 Metern Länge aufgebaut.
Architektonisch sind die Gebäudekomplexe – anders als bei den übrigen NS-Bauten – eher einfach, funktional gehalten und heben sich dadurch von Bauwerken wie dem Berliner Olympiastadion oder der Kongresshalle auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg deutlich ab. Auch Professor Heck findet es „interessant, weil wir normalerweise nationalsozialistische Bauten mit gigantomanischen Inszenierungen von Architektur wahrnehmen.“ Ähnlich wie andere wahnwitzige Pläne der Nationalsozialisten wurde auch dieses Projekt nie fertig gestellt und die Bauarbeiten eingestellt als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach.
Geht man nur 50 Schritte weiter an der Jugendherberge vorbei, starrt man in eingeschlagene Fenster, die an eine Vielzahl blinder Augenpaare erinnern. Es wirkt beängstigend. An der grauen Fassade und auch an den Wänden der leerstehenden Zimmer sind zahlreiche Graffiti zu erkennen und man wird das Gefühl nicht los durch diese wenigen Schritte in eine Parallelwelt geraten zu sein. Von der Urlaubsempfindung zur spürbaren Geschichte eines Ortes.
Zwischen 1948 und 1953 wurden die Bauten von der Roten Armee zur Internierung von Grundbesitzern und zur Unterbringung von Vertriebenen aus den Ostgebieten genutzt, die den südlichen Rohbau sprengte und abtrug. Zudem versuchte sie einmal die beiden nördlichen Blöcke zu sprengen, dies jedoch ohne Erfolg und so blieben die Bauten schwer beschädigt stehen. Unterlagen von einer weiteren Sprengung gibt es nicht. „Es wäre auch im Sinne des Landschaftsschutzes gewesen, hätte man dort wieder einen freien Zugang zum Strand geschaffen“, sagt Stamm-Kuhlmann.
In der DDR wurde der Gebäudekomplex zu einer der größten Kasernen ihrer Zeit umfunktioniert. Infolgedessen wurde die Anlage durch die Kasernierte Volkspolizei, den militärischen Vorläufer der Nationalen Volksarmee (NVA), ausgebaut. Um 1980 erhielt der Gebäudekomplex seinen grauen Einheitsputz und man setzte zur Seeseite hin hunderte Fenster ein. Eine besondere Rolle spielte Block V, denn hier waren die Waffenverweigerer der DDR untergebracht, die Bausoldaten. Diese wurden von den DDR-Führern streng geheim gehalten, da der Kriegsdienst als Friedensdienst galt. Verweigerer im Friedensstaat DDR gab es offiziell nicht.
Ein paar Meter weiter südlich der neuen Jugendherberge entdeckt man in einem heruntergekommenen Gebäudekomplex den Eingang zum Prora-Zentrum, das ganz im Gegensatz zur modernen Jugendherberge steht.
Dort kann man sich über die Geschichte und Nutzung in den vergangenen Jahrzehnten informieren. Große Schautafeln leiten die Besucher durch die kleine Ausstellung. Wie uns das Prora-Zentrum mitteilt, bieten sie auch historische Rundgänge und öffentliche Vorträge an. Derzeit zeigen sie eine Ausstellung zur NS-Zeit, die von Schülern erstellt wurde. So betreuten sie unter anderem auch das Ostseegymnasium in Greifswald. In einem benachbarten Raum sitzt ein einsamer Herr, der für den Bücherverkauf zuständig ist. Bei unserem Besuch ist er damit beschäftigt die fehlerhaft bedruckten Broschüren mit den richtigen Telefonnummern zu versehen. Bewaffnet mit einem schwarzen Edding streicht er per Hand auf jedem einzelnen Prospekt die zwölf Ziffern durch und überklebt sie mit selbst ausgeschnittenen Ersatzschnipseln.
Nachdem wir relativ schnell wieder im Freien sind, erforschen wir das Gelände weiter. Offene Zäune, verwilderte Natur, herumliegender Müll und Überreste romantischer Abende, wie abgebrannte Kerzen, finden wir in einer der offen liegenden Ruinen. Ein leerstehender Beachclub, der in Mitten des verlassenen Gebäudekomplexes sehr skurril wirkt, verwundert uns und wirft die Frage auf: Wer hat hier wohl jemals gefeiert? Lange gehalten haben kann der Club sich nicht, denn von einer legendären Diskothek in den Ruinen von Prora hat noch keiner von uns gehört. Entlang der nicht enden wollenden, identischen Häuserruinen erwarten wir irgendwo noch ein Highlight, doch letztendlich ändern sich nur die Graffiti. Schließlich haben wir die letzten Fenster hinter uns gelassen und gleich hinter den Bauten befindet sich der traumhafte Strand.
Die Projektleiter des Inselbogen Sport & Meer-Teams aus Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen versuchen alles, um möglichst viele Urlauber und Bewohner nach Prora zu locken. Das Team um Thomas Siepe hat einen Traum von 350 Appartements mit einer Fläche von circa 34 bis 97 Quadratkilometern und 174 Gästezimmer in einem Sporthotel. Neben einem Bowlingcenter soll es unter anderem ein 25 Meter Schwimmbecken und einen Fledermauspark geben. Doch bisher sind noch keine abschließenden Vereinbarungen zwischen Bund und Land getroffen. „Ich finde es sehr gut, weil es vor Ort vielen Jugendlichen die Möglichkeiten bietet, in einer Natur, die räumlich sehr attraktiv ist, preiswert Ferien machen zu können. Je mehr sinnvolle Nutzung sie da hin bekommen umso besser“, beurteilt Heck die Pläne der Investoren und den Bau der Jugendherberge abschließend.
Als wir die Gebäude umrundet und den Parkplatz wieder erreicht haben, ist es schon fast dunkel. Die Ruinen ziehen lange Schatten über das Gelände. Die Jugendherberge mit ihrer weißen Fassade bleibt hinter uns zurück und auch die Terrasse ist schon leer geräumt. Ein wenig sind wir froh darüber, dass wir die Insel wieder verlassen können. Denn wer möchte schon neben einer Ruine schlafen, in der noch der Geist einer Zeit schwebt, an die man eigentlich nicht mehr denken will?
Ein Bericht von Vivien Dörnbrack und Luise Röpke mit Fotos: von Tobias Oswald und Luise Röpke