Julia Lott, 26, hat ihr Praktisches Jahr für ihr Medizinstudium in Nepal verbracht. Was sie in diesen vier Monaten in der Chirurgie erlebt hat und wie anders es dort abläuft, hat sie dem moritz erzählt.
moritz Hast du ein Stipendium bekommen oder musstest du alles selber bezahlen?
Julia Lott Ich habe mich kurzfristig für das Praktisches Jahr in Nepal entschieden, und so kein Stipendium mehr erhalten. Aber dadurch, dass die Lebenserhaltungskosten sehr niedrig sind und der Flug auch recht günstig war, bin ich im Endeffekt mit plus minus Null aus diesen vier Monaten gegangen. moritz Wie war die Umstellung für dich? War es schwierig, sich einzufinden?
Julia Du kommst an und bist erst mal total beeindruckt von den Farben, von den Gerüchen und auch abgeschreckt von dem Lärm in Kathmandu. Aber die Leute in ihren bunten Gewändern sind sehr herzlich. Auf der anderen Seite sieht man Straßenköter an jeder Ecke. Es gibt in Nepal viele Gegensätze zwischen Schönheit und Armut. Kathmandu ist so versmoggt, aber mit ein bisschen Glück kann man einen Blick auf das Himalayagebirge erhaschen. Nachmittags musste ich leider oft mit einem Atemschutz herumlaufen. Nach zwei Monaten tat es so gut einen Trecking-Ausflug in die beeindruckenden Berge zu machen und frische Luft zu atmen. Als ich wieder zurück nach Greifswald kam, ist mir das erste Mal aufgefallen, wie sauber hier die Luft eigentlich ist.
moritz In Nepal gibt es ein Missionierungsverbot. Ist dir das in irgendeiner Art und Weise aufgefallen?
Julia Nein, so direkt habe ich nichts mitbekommen. Was mir ganz stark aufgefallen ist, ist, dass Hindus, Buddhisten und Moslems friedlich zusammen leben und es aktuell eher keine religiösen Konflikte gibt. Sondern sie respektieren sich gegenseitig. Die meisten Buddhisten kommen ursprünglich aus Tibet, weil sie von den Chinesen vertrieben wurden.
moritz Hast du bemerkt, dass die Maoisten zum Beispiel durch die Medien versucht haben Einfluss zu nehmen?
Julia Ich habe einen Streik miterlebt, einen sogenannten „Banda“. Die Maoisten haben das ganze Land lahm gelegt. Es durften zwei Wochen lang in ganz Nepal keine Autos fahren. Es gab irgendwann keine Lebensmittel mehr, die von außen kamen, der Flughafen lag lahm. Es ging sogar soweit, dass es im Krankenhaus Komplikationen gab, weil es nicht mehr genügend Sauerstoffflaschen gab. Dann kann man halt auch nicht mehr operieren. Das war eine sehr kritische Phase, zudem man nicht wusste, ob das Ganze in einen Bürgerkrieg umkippt oder nicht. Wenn plötzlich 500000 Maoisten Kathmandu belagern und verkünden, dass sie keine Verfassung mehr akzeptieren, ist das schon sehr kritisch. Dann herrscht eine ganz komische Stimmung in einer Stadt, in der es brodelt und du nicht weißt, was als nächstes passiert. Mittlerweile ist es wieder ruhiger geworden, aber gelöst ist das Problem nicht.
moritz Wie sieht denn medizinische Versorgung in Nepal aus?
Julia Es gibt in regelmäßigen Abständen sogenannte „Health Camps“. Diese werden auch von der Universität organisiert. Ein Team von Ärzten, Krankenschwerstern und Socialworker gehen für zwei Tage in Bergregionen und versorgen die dort lebenden Menschen. Wie effektiv diese „Health Camps“ wirklich sind, darüber lässt sich natürlich streiten, da man nur partiell helfen kann und die Patienten oftmals nicht wieder sieht. Hilfreicher sind Camps, die sich zum Beispiel auf Zahnmedizin oder Augenheilkunde spezialisieren. Vielen Leuten ist mit einer Bille schon sehr geholfen. Wenn Patienten Tabletten bekommen, wissen viele nicht einmal, wie sie die einnehmen sollen. Diese werden dann weiterverschenkt, mit dem Glauben: Wenn sie mir geholfen haben, helfen sie bestimmt auch meinem Nachbarn. Man kann mit schlecht durchorganisierten Camps teilweise mehr Schaden anrichten als helfen. Ein wichtiger Punkt ist Gesundheitserziehung und Prävention durch Impfprogramme. Das größte Problem in Nepal ist wirklich die Hygiene – leider auch in der Klinik.
moritz Wie kann man sich das vorstellen?
Julia Die Gesundheitsversorgung ist auf einem relativ hohen Niveau. Viele der Untersuchungsmöglichkeiten wie zum Beispiel MRT oder CT sind vorhanden. Die Kompetenz der Operateure, steht denen der Ärzte aus Deutschland in nichts nach. Aber es gibt kein Händedesinfektionsmittel auf der Station und benutzte Handschuhe werden teilweise resterilisiert. Auf der Intensivstation läuft man auf Socken. Ein großes Problem ist die fehlende Krankenversicherung. Ich bin häufig in die Situation gekommen mit dem Gedanken, dass du weißt, das helfende Medikament kostet ein paar Euro, aber in Nepal ist das viel Geld. Und man fragt sich, wem hilft man jetzt und wem nicht. Ich habe mir am Anfang ganz klar gesagt, auch wenn es schwer fiel, ich kann jetzt nicht anfangen, Medikamente für Patienten zu kaufen. Da findet man kein Ende.
moritz Wenn es in Nepal keine Krankenversicherungen gibt, müssen die Menschen dann alles selbst bezahlen?
Julia Ja. Wenn ich morgens in die Klinik kam, standen schon 300 Leute an einer Kasse, wo sie erst mal ein Ticket bekommen haben, dafür mussten sie einen Grundbetrag von drei Dollar bezahlen. Das hört sich jetzt wenig an, aber für die Nepalesen ist das unter anderem das Gehalt einer Woche. Sie müssen alle Untersuchungen im Voraus bezahlen. Selbst Operationen müssen selbst finanziert werden. Die Patienten kaufen sich vorher in der Apotheke einige der benötigten Materialien und bringen mit zur OP.
moritz Gab es in Nepal Dinge, die komplett neu für dich waren?
Julia Ja, zum Beispiel die Angehörigen pflegen die Patienten, bringen ihnen Essen vorbei und schlafen auch direkt bei den Patienten. Sie bringen ihre eigenen Matratzen mit und liegen teilweise unter den Betten. Einmal ist auch ein Affe bei uns eingebrochen, hat eine Woche lang auf unserer Station gelebt und keiner konnte ihn einfangen.
moritz Gab es Patienten, die dir besonders ans Herz gewachsen sind oder bei denen du die Situationen als besonders schlimm empfunden hast?
Julia Es gab eine schwangere Patientin auf der Verbrennungsstation. Die Fremdanamnese ergab, der Herd sei explodiert. Auffällig war der massive Geruch von Kerosin an den Haaren. Da kann man von ausgehen, dass eventuell jemand nachgeholfen hat. Ich wollte das auch der Polizei melden, die meinte aber: Sie könne sowieso nichts machen. Das war eine junge Frau, Ende zwanzig, schwanger und dann waren beide tot. Da fühlt man sich machtlos. Das hat mich schon sehr mitgenommen. Die Frauen sind noch sehr abhängig von den Männern. Aber es ändert sich langsam etwas, mittlerweile gibt es viele Frauen, die studieren.
moritz Hast du dich dort mit den Ärzten gut verstanden? Gab es überhaupt sprachliche Barrieren?
Julia Die ganze Lehre ist in Nepal auf Englisch, aber man muss sich erst mal an den leicht indischen Akzent gewöhnen. Die erste Woche habe ich so gut wie nichts verstanden. Ich muss sagen, dass ich noch nie so ein freundliches, aufgeschlossenes und hilfsbereites Volk gesehen habe. Was hast du aus diesen vier Monaten in Nepal mitgenommen?Auch wenn ich alleine dorthin gefahren bin, habe ich mich nie einsam gefühlt. Die Leute sind so herzlich. Es ist auch sehr interessant die Gesundheitsversorgung in einem so fremden Land kennenzulernen. Wie ich den Menschen mit einfachsten Mitteln helfen kann. Ich würde immer wieder nach Nepal fahren und kann es jedem nur empfehlen. Für Medizinstudenten ist es natürlichauch eine super Chance. Zum Beispiel habe ich dort Nilam kennen gelernt, der am Fuß des Mount Everest eine kleine Klinik aufgebaut hat. Die suchen junge Studenten, junge Ärzte, die Lust haben dort eine Zeit lang zu arbeiten. Was mich wirklich traurig gemacht hat, war jeden Tag einige der tausend klebstoffschnüffelnden Kinder am Straßenrand zu sehen. Mitzubekommen wie sie durch das Engagement von Straßenprojekten und Waisenheimen von der Straße geholt werden konnten, zu erfahren, dass einige teilweise später angefangen haben Physik zu studieren, das war das Schönste.
moritz Julia, vielen Dank für das Gespräch.
Ein Interview von Luise Röpke mit Photos von Julia Lott