Es ist über 2000 Jahre alt, hält sich hartnäckig wie kein zweites und ist auch in Deutschland fest verwurzelt: Das Vorurteil, dass die Jugend nichts taugt. Doch was ist dran an dem Ausspruch?
Es ist ein Prinzip der Philosophie. Man kann für eine Behauptung, oder auch ein Vorurteil, endlose Bestätigungen finden und sie wird niemals endgültig wahr. Doch man braucht nur ein einziges Gegenbeispiel, um zu beweisen, dass eine These falsch ist.
Vor dem Supermarkt riecht es nach Bier. Eine Flasche liegt gesprungen auf dem Parkplatz. Der Alkoholkonsum in Deutschland ist in allen Altersgruppen extrem hoch. Allein bei den zwölf bis 17-Jährigen beläuft er sich auf 50,4 Gramm pro Woche pro Kopf (alle Nicht-Trinker sind in der Statistik enthalten). Auf einem Kasten Billigbier sitzt ein Junge um die sechzehn und lacht lauthals, während er mit blankem Finger abwechselnd auf zwei Mädchen vor sich zeigt. Anbei stehen drei weitere Gestalten in weiten schwarzen Sachen, welche man aus der Entfernung kaum wahrnimmt. Auf die Frage, ob sie einem Bachelorstudenten für Journalismus bei der Arbeit helfen würden, antwortet der Junge auf dem Kasten: „Es gibt keinen Bachelorstudiengang Journalismus. Zumindest nicht hier in Greifswald.“ Seine Gefährten brechen in Gelächter aus.
Als sie verstummen, stellt sich der Kastenjunge mit seinem Namen vor. Marco* heißt er, ist seit zwölf Minuten siebzehn Jahre alt und feiert mit Freunden an der frischen Luft. Auf ein Stirnrunzeln hin wirft eines der Mädchen ein, dass Marco Partys hasse und lieber abseits der Clubs und der eigenen Wohnung sei. Das alles kann die Gruppe um Marco sympathisch machen, doch ein konkreter gesellschaftlicher Nutzen ist ihnen bis zu diesem Punkt nicht nachgewiesen. Keiner der sechs zeigte sich bis zu diesem Zeitpunkt sozial oder politisch engagiert, das ging aus einem Gespräch hervor. Abgetan wird diese Tatsache von Marco mit den Worten: „Oma liebt mich und das nicht nur, weil ich ihr beim Einkauf helfe.“ Es drängt sich die Frage auf, woran Wörter wie nutzbringend oder tauglich gemessen werden. Ein Kran ist nutzbringend wenn er große Lasten heben kann, aber ein Mensch? Angestachelt von diesem spontanen Gedankenexperiment, soll Marco den Bierkasten heben. Wenig überraschender Weise schafft er es. Macht ihn das nützlich? Kaum. Er erzählt, wie er sich seine Zukunft vorstellt: „Studieren, wenn‘s das Geld hergibt, Lehramt Deutsch und Geschichte soll es sein“, sagt er. Dann bittet er darum, seinen Geburtstag fragenfrei weiterfeiern zu dürfen. Einen Wunsch den man nicht abschlagen kann.
Der nächste untaugliche Jugendliche sitzt auf dem Sofa in der Mitte einer Drei-Zimmer-Wohnung und heißt Hannes*. Durch sein Fenster hindurch sieht man den Supermarkt, auf dessen Parkplatz noch die zerschellte Bierflasche der gestrigen Nacht liegt. Was den 19-jährigen Hannes von anderen Jugendlichen unterscheidet, ist, dass er seine Untauglichkeit in gedruckter Form in der Hand halten kann, denn er ist ausgemustert. Die Bundeswehrärzte stellten fest, dass er aufgrund diverser körperlicher Beeinträchtigungen nicht in der Lage sei, in einer Armee zu dienen. Hannes selbst stört das jedoch wenig: „Keinen Wehrdienst leisten zu müssen, ist eine wunderbare Sache. So kann ich bereits studieren, während meine ehemaligen Klassenkameraden in der Kaserne Liegestütze machen.“
Auch Jonas* sitzt, wie Hannes, in BWL-Vorlesungen, obwohl er in der Kaserne hocken müsste. Der ebenfalls ausgemusterte sieht seine Situation jedoch negativer: „Wann komme ich jetzt noch dazu mit einer Waffe schießen zu können?“, fragt er resigniert. Bis zu zehn Prozent der männlichen Bundesbürger unter 21 Jahren gelten als extrem aggressiv und sind statistisch wegen Vandalismus, Köperverletzung oder Ähnlichem erfasst. Jonas ist nicht unter ihnen, obwohl er mit seinen zwanzig Jahren nicht den friedfertigsten Eindruck macht. Schlägt man ihm vor, einem Schützenverein beizutreten, schmollt er nur weiter. „Das ist nicht das Gleiche. Bei der Bundeswehr bekommen sie ein ordentliches G36.“ Das G36 ist ein Sturmgewehr, welches unter das Kriegswaffengesetz fällt. Damit kann auch der Schützenverein nicht aufwarten. Doch egal ob man seine Untauglichkeit nun begrüßt oder ablehnt, aussagekräftig ist sie nicht. Für Frauen spielt die Wehrpflicht keine Rolle. Und selbst wenn sie es täte, so sagt ein Tauglichkeitszeugnis des Bundes über einen Menschen nichts aus. Auch hier ist also nichts weiter zu finden, als das Wort „tauglich“. Darum geht die Suche weiter.
Ein paar Kilometer entfernt von Hannes idyllischem Wohnzimmer findet eine Party statt. Eine knapp bekleidete Frau zirkelt zwischen einer Horde wackelnder Menschen hindurch und versucht dabei möglichst wenig von dem Bier in ihren Händen zu verschütten. Der DJ hat den Bass vollends überdreht, sodass der Brustkorb vibriert und jede Frage in einem Gewirr aus Klängen untergeht. Vor der Tür des Clubs ist jedoch weit mehr zu finden, als Zerstreuung und Reizüberflutung. Kleine Gruppen sind rauchend in Gespräche vertieft, Pärchen stehen eng zusammen, als wollten sie sich nur wärmen. Die Partybekleidung ist kaum für die Außentemperaturen ausgelegt. Auch Jenny*(22) und Christoph*(21) sind hier und erstaunlich redselig. Eine „Abkühlung vom Tanzen“ suchen sie, wie Jenny verrät und in den hochroten Gesichtern der Beiden zeichnet sich ein Lächeln ab. Ob Christoph nutzlos sei, lautet dann auch schon die erste Frage. Jenny verneint und unterlegt ihre knappe Antwort mit einem skeptischen Blick. Doch warum ist Christoph nicht nutzlos, warum taugt er etwas? Jenny legt ihm den Arm um die Hüfte: „Er ist immer für mich da.“
Es scheint nötig, nicht die Beschimpften, sondern die Schimpfenden zu fragen, wenn sie denn zu finden sind.
Dass sie zu finden sind, beweist Werner Rüttgers*, welcher bereit ist, seine durchaus gespaltene Meinung zur Jugend darzulegen. „Dass sie nichts taugt oder gar nutzlos ist, ist Humbug“, erklärt der Rentner während er vom Kaffee in seiner blumenverzierten Porzellantasse nippt. „Es sind immer nur Einige. Den Jungspunten, die die Telefonzelle demolieren zum Beispiel, den müssten die Hände abfallen oder den Sprayern.“ Seine Auflistung ist zwar noch ein ganzes Stück länger, doch alle Jugendlichen erfasst er mit ihr nicht, will er ja auch gar nicht. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, wie Werner Rüttgers seine Jugend verbrachte. Nach einiger Überlegung schüttelt er belustigt den Kopf: „Wir waren anders“, sagt er, „aber besser waren wir nicht“, und er beginnt zu erzählen. „Als Schuljunge hatten wir Tintenfässchen. Da habe ich den Zopf der Schülerin vor mir immer hineingetunkt“, sein Lachen könnte nicht schelmischer klingen.
„Aber wir haben auch ganz andere Sachen gemacht, sobald wir dann Studenten waren. 1938 standen wir zu sechst in Basel auf einer Treppe zur Kirche und sangen bei jeder Stufe die wir betraten ‚Allah ist groß und Mohammed ist sein Prophet‘, bis wir von der Polizei für einen Tag eingesperrt wurden.“ Werner genehmigt sich erneut einen Schluck Kaffee und starrt eine Weile lang nachdenklich auf den Tisch. „Vielleicht waren wir nicht so aggressiv, wie es die jungen Leute heute sind. Wir hatten mehr Respekt“, meint er schließlich. Werner ist Jahrgang 1915 und heute 94 Jahre alt. Seine Jugendzeit überschneidet sich mit Hitlers Machtergreifung und endet mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Heutige Jugendliche fragen sich inwieweit man vor so einem Hintergrund von „mehr Respekt“ sprechen kann. Doch was werden eben diese heutigen Jugendlichen sagen, wenn sich die Zeiten ändern und sie selbst so alt sind, wie Werner? Wie wird die Welt dann aussehen, in der sich jede Generation auf ihre eigene Weise zurechtfinden muss? Ist das vielleicht der Grund, warum viele sagen die Jugend tauge zu nichts? Werner meint: „Ja.“ Die Gesellschaft ändert sich und je älter ein Mensch wird, desto weniger empfänglich ist er für Neuerungen. So taugt die Jugend zu jeder Zeit gleich viel oder wenig, nur ihre Methoden und ihr Erscheinungsbild im Allgemeinen ändern sich. Noch einmal nippt Werner an seiner Kaffeetasse, ehe er sie auf den Tisch stellt. Wieder schaut er nachdenklich, diesmal jedoch nicht auf den Tisch, sondern auf die Lampe. „Dass die Jugend nichts taugt, ist Humbug“, sagt er mehr zu sich selbst und begibt sich in die Küche, um die Kaffeekanne zu holen.
Eine Reportage von Mathies Rau mit einer Grafik von Daniel Focke