Nach den Landtagswahlen im vergangenen September lag der Fokus der deutschen Presse zumindest eine zeitlang auf Vorpommern. Zwischen den beiden großen Bundesstraßen 96 und 105 wurden vier von zwölf Wahlkreisen von der AfD gewonnen, sowohl mit der Erst- als auch mit der Zweistimme. Aber leben in Vorpommern wirklich nur Rassisten? Eine Spurensuche.

Peenemünde ist ein kleines Dorf auf der Insel Usedom. Bekannt ist es vor allem in der Vergangenheit geworden: Hier arbeitete Werner von Braun, hier wurde die V2 im Nazireich entwickelt und hier liegt immer noch ein stählernes Mahnmahl aus den militärischen Zeiten des Kalten Krieges. 53,3 Prozent aller Wähler entschieden sich hier für die Alternative für Deutschland (AfD), gemeinsam mit der Nationalsozialistischen Partei Deutschlands (NPD) stand die Partei hier bei knapp 60 Prozent. Vor dem Historisch-Technischen Museum in Peenemünde steht ein älterer Herr im grauen Oktober, er kann das Ergebnis irgendwie verstehen, wundert sich sogar, dass es nicht höher für die AfD ausgefallen ist. Ob die Wähler alles Nazis sind? ‘Auf keinen Fall’. Er ist Tourist, kommt eigentlich aus Parchim und kann den Unmut verstehen. Einen Denkzettel für die Großen in Schwerin hätte es schon lange geben müssen. Ein hinzugetretener Herr erklärt: ‘Die haben uns doch zusammengespart. Und überall diese Windkraftwerke, als ob dadurch was besser werden würde’. Ortswechsel. In Kamminke wurde die NPD mit 23,9 Prozent gewählt, der zweithöchste Wert der Partei auf der Insel. Die Gemeinde grenzt direkt an das Nachbarland Polen. Das anschauliche Straßendorf ist auf den ersten Blick nicht das, was viele als ‘immer noch im Osten zurückgeblieben’ bezeichnen würden.

Viele der Reetdachhäuser sind renoviert, die Straßen in einem guten Zustand und am Stettiner Haff gibt es mehrere Bootsanleger. Schwerin ist genauso weit entfernt wie Berlin, nicht nur auf Google Maps, auch in den Köpfen. Greifswald und Neubrandenburg, die beiden nächsten Städte, in denen man was zum Anziehen kaufen kann, sind mit dem Auto über eineinhalb Stunden entfernt. Mindestens 20 Minuten fährt man von Kamminke bis zum nächsten Lebensmitteldiscounter, 30 bis zum Vollversorger Edeka. Restaurants gibt es jedoch allein in Kamminke vier. ‘Alles für den Touristen, an uns denkt doch schon lange niemand mehr’. Über eine Million kamen allein 2015 nach Usedom, 30 Millionen waren es in ganz Mecklenburg-Vorpommern – Tendenz steigend. Bei den Gastronomen, Hoteliers und Tourismusverbänden herrscht Goldgräberstimmung. Mit den Ärzten ist es genauso. ‘Die sitzen doch alle an den Promenaden in den Kaiser- und Ostseebädern, bloß nicht in das Hinterland’. Die Gespräche sind keine Einzelfälle. Die Menschen haben eine Stimmung gewählt, ein Gefühl, nicht verstanden zu werden. Viele Vorpommern fühlen sich wie das ungeliebte Stiefkind, das Aschenputtel des Bundeslandes. Reformen kommen langsam und schleppend. Die Kürzungen und Umstrukturierungen kommen jedoch schnell und über die Köpfe der Menschen hinweg. Ob nun Kreisgebietsreform, Gerichtsreform oder diese Sache mit dem Wolgaster Kreiskrankenhaus.

Denn was die Menschen zwischen Greifswald, Neubrandenburg und Polen bewegt, wird nicht auf den Wahlzetteln, sondern in den Fußgängerzonen klar – wenn jemand wirklich fragt.

‘Unsere Krankenhäuser in Anklam und Wolgast werden doch gerade von den Schwerinern zusammengespart’,

heißt es dort mehr als einmal. Die Schweriner, das sind die Regierung und die Politiker. Einer von ihnen ist Patrick Dahlemann. 2014 redete er auf einer Wahlveranstaltung der NPD auf deren Bühne – gegen die Nationalsozialisten. Das erzeugte deutschlandweit ein großes Medienecho. Heute sitzt er im Schweriner Landtag. Er gewann das Direktmandat für die Sozialdemokratische Partei Deutschland (SPD) im Wahlkreis Vorpommern-Greifswald IV, umringt von AfD-Kandidaten, die mit ihren Wahlergebnissen Vorpommern auf den Auswertungsgrafiken in blau hüllten. Jetzt ist Dahlemann Parlamentarischer Staatssekretär für Vorpommern. Und ein solcher wird dringend gebraucht.

Fast zwei Drittel der 100 stärksten Unternehmen haben laut einer Erhebung der Nord LB ihren Sitz in Mecklenburg, Vorpommern wirkt abgehängt. Neben dem ökonomischen Ansatz ist Patrick Dahlemann aber besonders ein neues Wir-Gefühl wichtig. ‘In Vorpommern geht es voran, die Arbeitslosigkeit wurde in den vergangenen 10 Jahren halbiert. Davon profitieren jedoch nicht alle’. Er kennt das aus seinem Wahlbezirk, wenn die Menschen sich abgehängt fühlen, grenzen sie sich selbst ab und ein Wahlergebnis wie im September kommt zustande. Die nächste Stimmungsprobe für Mecklenburg-Vorpommern erfolgt jedoch bereits in weniger als einem Jahr, wenn im September 2017 der Bundestag neu gewählt wird.

Den kompletten Bericht lest ihr im moritz.magazin 126.

Beitragsbild: Magnus Schult