Ein Stein, um zu erinnern

Ein Stein, um zu erinnern

Jürgen Wenke trägt eine Regenbogenmütze und hat einen Regenbogenfächer dabei, extra für die Fotos. Es ist ja auch ein schönes Bild, dieser Regenbogen. Die Schnittstelle zwischen Regen und Sonne, der Übergang von etwas Trübem und Tristem zu etwas Hellem, Hoffnungsvollem. Für manche ist der Regenbogen auch ein Zeichen der Standhaftigkeit, des Kampfes für Sichtbarkeit und Akzeptanz. Eine Erinnerung an all jene, die diesen Weg schon vor uns gegangen sind.

Es regnet ein wenig an diesem Morgen, aber das Wasser hilft auch beim Putzen des Stolpersteins. Ein einfacher Küchenspülschwamm, etwas Scheuermilch, klares Leitungswasser aus der Trinkflasche zum Abspülen. Das ist die mechanische Weise, erklärt mir Jürgen, während er die Oberfläche des Steins wieder zum Glänzen schrubbt. Es gibt auch noch eine chemische Methode, bei der man eine Lösung aus Salz und Essig einwirken lässt, doch das greift auch das Messing an, sodass es sich rötlich verfärbt. Jürgen hat Erfahrung im Umgang mit den Stolpersteinen. Etwa 60 davon hat er bereits in Auftrag gegeben, und stolz berichtet er mir auch schon von denen, die für das nächste Jahr geplant sind. Für die Anfertigung und in der Regel auch für die Verlegung ist der Künstler Gunter Demnig zuständig, während Jürgens Aufgabe vor allem in der Recherche zu den jeweiligen Opfern liegt. Von anonymen Listen mit hunderten von Namen, über Geburts- und Sterbeurkunden und Verfolgungsakten bis hin zur Kontaktaufnahme mit noch lebenden Angehörigen, bis ein mehr oder weniger detailliertes Bild der Betroffenen entsteht, eine Lebens- und Leidensgeschichte, die Jürgen auch auf seiner Homepage teilt. “Das geht einem schon sehr nahe”, sagt er, nickt dabei und das sonst so präsente Lächeln auf seinem Gesicht verschwindet für einen Moment.

17 Jahre ist es nun her, dass Jürgen seine Recherchen aufgenommen hat. Damals, auf einem Weg durch die Straßen seiner Heimatstadt Bochums, wurde ihm bewusst, dass sich unter all den verlegten Steinen kein einziger für diejenigen finden lässt, die unter dem Paragraphen 175 verurteilt wurden: Homosexuelle. Also begann er, nachzuforschen, und stieß schließlich auf die Arbeit eines Historikers zu einem Doppelstigmatisierten, Wilhelm Hünnebeck, in den Worten der Nazis “Halbjude”, aber verfolgt nach §175. Jürgen war unzufrieden mit der unzulänglichen Recherche, die vor ihm betrieben wurde, und machte sich selbst an die Arbeit. Wilhelm Hünnebeck war sein erster Stolperstein, während Hünnebeck selbst bereits 10 Jahre zuvor ein Stein gewidmet wurde. Allerdings ohne den tatsächlichen Grund für die Verfolgung, seine Homosexualität.

Über die Zeit häuften sich die Namen und Lebensläufe an. Über seine begonnene Recherche gelangte Jürgen an die Listen der KZs Auschwitz und Buchenwald, jeweils mit 136 und 550 Namen der bekannten Opfer, die den rosa Winkel tragen mussten. “Dann fand ich die Liste aus Dachau, dann die aus Sachsenhausen. Und es geht so weiter. Wenn ich jetzt forsche, stellt sich nicht mehr die Frage Wie mache ich weiter?, sondern nur Wie beschränke ich mich?” Um nur zehn Prozent der Namen abzuarbeiten, müsste er wohl 200 Jahre alt werden, scherzt er. Aber man müsse irgendwann realisieren, dass es nicht darum gehen kann, die Geschichten aller Opfer aufzuarbeiten, sondern Stellvertreter*innen zu finden. Stellvertreter*innen für die Verfolgung, für die Leidensgeschichte. Auch Jürgens eigenes Archiv Zuhause wächst immer weiter. “Ich könnte dir da wahrscheinlich zweieinhalbtausend Namen nennen, von Leuten, die in diesen Lagern waren.” Dieses Archiv ist auch ein guter Startpunkt, wenn jemand direkt auf ihn zukommt, um einen Stolperstein zu verlegen, um zum Beispiel dem Wunsch nachzukommen, sich für einen Stein in der eigenen Heimat einzusetzen.

Wir stellen uns an den Säulen des Theatereingangs unter, während der Regen die letzten Schaumblasen von Kurt Brüssows Namen und seiner Verfolgungsgeschichte fortwäscht. “Mehr ginge nicht drauf an Schrift”, sagt Jürgen. Bei den meisten Steinen ist noch die Anmerkung “Hier wohnte” über dem Namen eingraviert, doch in Brüssows Fall wurde der Stein nicht an seinem letzten freiwillig gewählten Wohnort verlegt, sondern an seinem Schaffensort, dem Greifswalder Theater. Auf den Schauspieler, der 1940 inhaftiert und 1943 zwangskastriert wurde, ist Jürgen über eine Anfrage gestoßen. Der Mann, der ihn anfragte, stammte zwar von Rügen, doch dort für die vielen kleinen Dörfer jemanden zu finden, ist schwierig. Also weitete Jürgen die Suche aus, auf Stralsund, Wismar und Greifswald, und stieß schließlich auf Kurt Brüssow. Ein “Volltreffer”, nennt er den Fund, denn von Brüssow ist eine vollständige Akte von 30 bis 40 Seiten erhalten. Außerdem stößt er nach einer aufwendigen Reise durch verschiedene Einwohnermeldeämter schließlich sogar auf eine noch lebende Stiefenkeltochter, die fassungslos ist, als sie die Geschichte ihres Großvaters liest. Es folgen mehrere persönliche Treffen, lange Gespräche, der Austausch von Fotos und Erzählungen. “So kam eins zum anderen.” Jürgen berichtet so lebendig von seinen Nachforschungen und den Treffen, als hätten sie erst gestern stattgefunden. “Zum Schluss war das eben eine Geschichte, die den ganzen Teil des Lebens umfasst, soweit man das sagen kann. Den Mann selbst kann ich natürlich leider nicht mehr interviewen, dafür kam ich dann sozusagen zu spät.” Trotzdem, als er ein Bild Kurt Brüssows aus seiner Tasche holt, um es für ein Foto neben den Stein zu legen, sieht er es an, als hätte er den Schauspieler selbst gekannt.

Der nächste Stolperstein wird morgen in Wismar verlegt. Fritz Stein war Kulturbautechniker, als er nach einer Haftstrafe in das KZ Auschwitz verlegt wurde. Anders als Kurt Brüssow überlebte er die Gefangenschaft nicht, sondern starb bereits mit 38 Jahren an den erlittenen Torturen. Auf Fritz Stein stieß Jürgen durch das Buch “Erinnern in Auschwitz. Auch an sexuelle Minderheiten“. Dem “kleinen Mann mit der Brille”, wie Jürgen ihn nennt, waren nur vier Zeilen und ein Foto gewidmet, aber es war sein Geburtsort, der für Jürgen aus der Masse herausstach. Ein kleines Dorf, in dem er vor einiger Zeit bereits einen Stolperstein verlegte, und in dem aufgrund seiner geschlossenen, dörflichen Struktur noch immer Angehörige und sogar die Kinder der damaligen Denunziant*innen leben. Fritz Stein wählte jedoch Wismar zuletzt als Wohnort aus, also geht die Reise dorthin. Jürgen freut sich auf die Verlegung, denn er wird dabei auch den Neffen und die Großnichte Fritz Steins kennenlernen, mit denen er zuvor nur übers Telefon Kontakt hatte. Wie bei den meisten Opfern, zu denen er recherchiert hat, wussten die Angehörigen nichts vom wahren Grund der Verurteilung Fritz Steins. In der Familie wurde stattdessen behauptet, dass Stein ein Verhältnis mit einer Jüdin gehabt hätte. “Das war leichter offensichtlich als zu sagen ‘Er war schwul'”, erklärt Jürgen mit einem Schulterzucken. “Damit war er immerhin ein Straftäter.” Bei der Verlegung möchte auch Steins Großnichte einige Worte an die Anwesenden richten, worauf sich Jürgen besonders freut. Obwohl er bereits einige Angehörige hat kennenlernen dürfen, ist das das erste Mal, erzählt er, dass jemand selbst etwas sagen möchte. Die meisten sind dafür viel zu überwältigt.

Wir stehen noch immer an den Säulen des Theatereingangs, schauen immer wieder zu dem Plakat der Burschenschaft auf der anderen Seite hinüber, scherzen über deren konservatives Weltbild, über Fußball und die katholische Kirche. Das Lachen ist befreiend, auch wenn es mit einem Wermutstropfen einhergeht, denn die Wahrheit tut weh. All das Verstecken, die Ausgrenzung und Verfolgung queerer Menschen, mit denen sich Jürgen in seiner Arbeit beschäftigt hat, sind eben nicht nur Relikte der Vergangenheit. Und gerade deshalb ist das Erinnern daran und an die Menschen, die auf diesem Leidensweg gegangen sind, auch heute noch so wichtig.

Als wir uns schließlich verabschieden, hat der Regen aufgehört, und zwischen einer dichten Wolkendecke lugt sogar die Sonne hervor. Einen Regenbogen gibt es nicht. Zumindest nicht am Himmel.

Das Wichtigste auf einen Blick:
Was? Verlegung eines Stolpersteins zur Würdigung von Fritz Stein
Wann? Mittwoch, dem 09.11.2022, um 11 Uhr
Wo? Wismar, Spiegelberg 54, vor dem dortigen Wohnhaus

Beitragsbilder: Julian Schlichtkrull

Was bleibt, wenn der Vorhang fällt? Späte Anerkennung für den Greifswalder Schauspieler Kurt Brüssow

Was bleibt, wenn der Vorhang fällt? Späte Anerkennung für den Greifswalder Schauspieler Kurt Brüssow

Etwas verloren sitzt der kleine Messingklotz zwischen den Pflastersteinen. Die goldene Farbe glänzt aus dem matten Grau hervor, das gleiche Grau wie das des trüben Dezemberhimmels. Wer mit dem Fahrrad die Robert-Blum-Straße entlang kommt, fährt wohl leicht an dem Stein vorbei und auch als Fußgänger stolpert man eher über den noch leicht staubigen Fleck drum herum, der durch das Aufbrechen des Bodens entstanden sein muss. Aber es ist eine Anerkennung, so ein Stolper­stein. Er erzählt von einem Menschen, der gelebt und gelitten hat, nur aufgrund dessen, was er ist. Kurt Brüssows “Verbrechen” ist unter seinem Namen, seinem Geburtsdatum und Beruf angegeben: verurteilt nach §175.

So unauffällig wie der Stolperstein war für die breite Allgemeinheit wohl auch Kurt Brüssows Leben. Als Jürgen Wenke im Zuge seiner Nachforschungen zu dem Greifswalder Schauspieler 2020 auch auf Brüssows Enkelkinder trifft, sind selbst diese überrascht von dem Leben, das ihr Großvater geführt hat. Überrascht, überwältigt, aber auch stolz. Stolz, eine so starke Persönlichkeit in der Familienlinie zu haben.

Stärke spricht auch aus allen Lebensabschnitten, die Wenke in seiner Recherche über Kurt Brüssow zu Tage fördern konnte. Kurt Brüssow wurde am 9. Dezember 1910 in Stettin geboren. Er erlernte zuerst das Konditorhandwerk, bevor er sich ab 1931 am Theater Greifswald seiner wahren Leiden­schaft widmete und Schauspiel studierte. Bis 1937 arbeitete er hier als Schauspieler, Sänger und Statistenführer. Dann, am 27. Juni 1937, die erste Verhaftung. Das Urteil: “widernatürliche Unzucht”. Kurt Brüssow ist für 6 Monate im Gefängnis und gilt ab jetzt als vorbestraft. Auch seine Anstellung am Theater verliert er, und da er zudem aus der Reichstheaterkammer ausgeschlossen wird, ist ihm auch die Option verweigert, eine weitere Anstellung als Schauspieler zu finden.

Der Ausschluss aus dem Berufsleben hat bereits 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozia­list*innen jüdische Menschen getroffen, die im öffentlichen Dienst angestellt waren. Den Anti-Schwulen-Paragraphen 175 gibt es bereits seit der Kaiserzeit, 1935 wird er aber noch weiter verschärft: Strafbar sind nicht nur sexuelle Kontakte, sondern auch Küsse und sogar “wollüstige Blicke”. Die Strafe wird von Gefängnis auf bis zu 10 Jahre Zuchthaus erweitert. Treffpunkte von Homosexuellen werden durch Gestapo und Polizei bespitzelt, Razzien werden durchgeführt, Listen von namentlich bekannten Homosexuellen angelegt, Zeitschriften verboten, Vereine zerschlagen. Auch in der Presse wird öffentlich gegen Homosexuelle gehetzt, um die Vor­urteile, die in der deutschen Bevölkerung ohnehin vorherrschen, weiter zu befeuern und Schwule zu “Volksfeinden” zu erklären. Das Sonderdezernat Homosexualität der Gestapo, das 1934 geschaf­fen wird, bekommt 1936 Unterstützung durch die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexua­lität und Abtreibung. Das Ziel: die Zucht “arischer” Menschen. Wer zu dieser Zucht nicht beitragen kann oder will, hat keinen Platz in der Gesellschaft.

Kurt Brüssow wird der Verbrecher-Klasse “homosexuell” zugeordnet. Als er wieder aus dem Ge­fängnis entlassen wird, fängt er bei einer Versicherungsgesellschaft an, doch die Arbeit ist nicht von Dauer. Bereits 1938 wird er wieder verhaftet, diesmal wegen “fortgesetzten Verbrechens” zu anderthalb Jahren Zuchthaus. Während dieser Zeit werden Brüssow und Kontakte von ihm so lange befragt, bis sie weitere Namen preisgeben. Dass Brüssow noch öfter “straffällig” geworden ist, veranlasst das Landesgericht Stettin 1939 zu einer erneuten Strafe: In seinem “kriminellen Lebenslauf” werden die Straftaten festgehalten, denen er sich schuldig gemacht hat, darunter homosexuelle Kontakte seit seiner Jugend. Er ist für die nationalsozialistische Regierung ein zu großer Dorn im Auge. 1939 wird Brüssow zu weiteren zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, doch er wird anschließend nicht entlassen. Stattdessen bringt man ihn ins Konzentrationslager Auschwitz. Der Polizeibericht vom 11. April 1941 hält fest:

“Aus seinem ganzen Verhalten ist zu schließen, dass er auch nach Strafentlassung nicht von seiner anormalen Neigung lassen wird. Es ist daher angebracht, Brüssow bei Entlassung aus der Strafhaft wieder festzunehmen und in polizeiliche Vorbeugungshaft zu bringen.”

Heinrich Himmler, SS-Reichsführer und Chef der deutschen Polizei, hatte im Jahr zuvor erklärt, dass er homosexuelle “Mehrfachtäter” nach dem Absitzen ihrer Strafe nicht mehr entlassen würde. Statt­dessen werden sie unmittelbar in ein KZ deportiert, finden anstelle von Freiheit höchstens den Tod. Kurt Brüssow überlebt – als einer der wenigen. Die meisten kommen durch Erschießung, durch Fol­ter oder durch langsame Auszehrung um, und wenn sie die Unterernährung überstehen, bringen es die schlechten hygienischen Bedingungen oder die schwere Sklavenarbeit zu Ende. Die Opfer des Nationalsozialismus sind nicht nur Homosexuelle und Jüd*innen. Es sind politische Gegner*innen und Kritiker*innen, Intellektuelle, Künstler*innen oder Wehrdienstverweigerer, Sinti und Roma und Behinderte. Das Prinzip ist simpel und gerade deshalb vielleicht so effektiv: “Teile und herrsche”, das betont Wenke in seiner biografischen Abhandlung über Kurt Brüssow immer wieder. Teile eine Gesellschaft in Gruppen mit unterschiedlichen Privilegien, unterschiedlichem Wert. Sorge so dafür, dass sie sich gegenseitig misstrauen, dass Uneinigkeit und Hass herrscht. Deine Macht ist gesichert.

Kurt Brüssow erhält die Häftlingsnummer 16642. Er bekommt zuerst den rosa Winkel, der ihn als Homosexuellen brandmarkt, später den roten Winkel der politischen Häftlinge, womit er zumin­dest darauf hoffen kann, bei den anderen im Ansehen zu steigen. Am 31. Januar 1942, nachdem Brüssow sich bereits drei Mal geweigert hat, freiwillig zuzustimmen, wird er zwangskastriert. Nicht sterilisiert, kastriert. Die Entfernung der Hoden geht nicht nur mit psychischen Schäden einher, vor allem auch die hormonellen Funktionen des Körpers leiden darunter. Brüssow ist von nun an auf eine hormonelle Behandlung angewiesen. Die freiwillige Kastration ist für viele Homosexuelle im KZ der letzte Hoffnungsschimmer auf Freiheit. Vom Arzt wird auf Brüssows Akte vermerkt, er habe sich gegen die Operation geweigert, da er glaube, bereits durch den Aufenthalt im KZ “geheilt” zu sein. Vielleicht rettet ihm dieser Kommentar, gemeinsam mit den Bemühungen seiner Eltern, am Ende das Leben.

Im Februar 1944 wird Kurt Brüssow ins KZ Flossenbürg gebracht, im März 1944 entlassen und in Stettin unter Polizeiaufsicht gestellt. Die Reichstheaterkammer nimmt ihn zunächst nicht wieder auf, doch mit dem Ende der NS-Diktatur 1945 kehrt Brüssow nach Greifswald und damit auch ans Theater zurück. Hier heiratet er 1946, seine verwitwete Frau Margarete Gutjahr bringt zwei Kinder mit in die Ehe. Gemeinsam ziehen sie nach Putbus, wo Brüssow versucht, als neuer Leiter das Theater wieder aufzubauen, doch auch hier bleiben sie nur bis 1947, bevor sie aus der sowjetischen in die amerikanische Zone nach München ziehen. Hier wird Brüssow zuerst im Bayerischen Staatsministerium für Sonderaufgaben als Ermittler angestellt, wo er sich mit NS-Täter*innen befasst, dann steigt er zum öffentlichen Kläger auf und macht sich nach der Auflösung der Spruchkammern mit einem eigenen Kurierunternehmen selbstständig.

In seinen Bewerbungen, sowohl an den Theatern in Greifswald und Putbus als auch später in Mün­chen, erwähnt Brüssow in seinem Lebenslauf zwar seine Gefängnis-, Zuchthaus- und KZ-Aufenthalte, nennt als Grund aber immer nur “staatsfeindliches Verhalten”. Denn bis auf die Abschaffung der Konzentrationslager hat sich kaum etwas getan im Nachkriegsdeutschland. Der von der nationalsozialistischen Regierung erweiterte §175a wird sogar bis 1969 unverändert in der BRD fortgeführt. Bis zu diesem Tag hätte Brüssow auch hier verfolgt und bestraft werden können, wegen der ihm ange­borenen Art zu lieben, und hätte kaum eine Anstellung gefunden.

Auch die Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus wird ihm verweigert. Durch seine unerbittlichen Bemühungen und die Unterstützung durch seine Frau wird ihm zwar in der sowje­tischen Zone schließlich der Status des OdF (Opfer des Faschismus) gewährt (als “aus Mecklenburg der einzige, der wegen Vergehen nach §175 bestraft ist und als O.d.F. anerkannt wurde”), in Mün­chen laufen all seine Versuche aber ins Leere. Für vier lange Jahre kämpft Brüssow um Gerechtig­keit. In einem Schreiben von 1949 erklärt er, es ginge ihm nicht “um die Ehre und nicht um materialistische Vorteile […] Aus meinem Ehrgefühl heraus kann ich nicht einfach meine Nicht-Anerkennung hinnehmen”. Die Sympathien zur KPD, auf die Brüssow beharrt, genügen nicht, um als politischer Gegner anerkannt zu werden, denn die Behörden bestehen allein auf seine Verurtei­lung nach §175, an der sie nichts Falsches zu erkennen scheinen. Brüssow war und bleibt Straftäter und somit steht ihm keine Anerkennung des erfahrenen Unrechts zu. Während sozialdemokratische und kommunistische Inhaftierte, Jüd*innen und Zeugen Jehovas auf eine “Entschädigung” hoffen können, bleibt diese Schwulen, “Asozialen”, Sinti und Roma, Behinderten und Kleinkriminellen verwehrt. Als deutlich wird, dass seine Bemühungen scheitern, schreibt Brüssow in einem Brief an die staatliche Ausführungsbehörde für Unfallversicherung:

“Meine Herren, es ist traurig, dass man als Heimatvertriebener und langjähriger KZ-Insasse den Gedanken hat, wärst du doch bloß im Lager umgekommen. So hättest du doch noch einen guten Zweck erfüllt, indem die Asche deiner Leiche als Felddünger Verwendung gefunden hätte.”

1969 wird der Paragraph 175 zwar nicht aufgehoben, aber abgeschwächt. Einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern stehen zwar juristisch nicht mehr unter Strafe, doch es folgen auch weiterhin Berufsverbote und Stigmatisierungen. Von der Anerkennung Homosexueller als vollwertiger Teil der Gesellschaft und der Würdigung ihrer Leiden im Nationalsozialismus bekommt Brüssow nichts mehr mit. Er stirbt am 14. März 1988, dem 13. Geburtstag seiner Enkeltochter. Sechs Jahre später wird §175 endlich aus dem Strafgesetzbuch der BRD gestrichen. Die Urteile nach §175 werden erst 2002 aufgehoben, 57 Jahre nach dem Ende der NS-Zeit. Es wurde “die biologische Lösung abge­wartet”, schreibt Wenke mit zynischem Unterton in seiner Brüssow-Biografie, “fast alle Männer, die in der NS-Zeit als Homosexuelle verfolgt und zu Unrecht verurteilt worden sind und überlebt ha­ben, erfahren von der Einstellungsveränderung und der Aufhebung nicht mehr. Sie sind verstorben.”

Auch heute sind wir noch weit entfernt von einer gleichberechtigten Stellung in unserer Gesell­schaft. Juristisch dürfen wir heiraten und adoptieren, werden von Teilen der Bevölkerung aber dafür belächelt oder verurteilt. Politiker*innen wie der Greifswalder Sascha Ott bezeichnen uns als “mikroskopische Randgruppe”, nennen die Toleranz, die uns und anderen Minderheiten zurecht entgegengebracht wird, so groß, dass es “bald bis zur Selbstverleumdung reicht”, und verbieten uns ein einfaches Stück Stoff zu zeigen, um nicht nur uns, sondern auch Menschen wie Kurt Brüssow gebührend zu ehren. Auch Jürgen Wenke stößt 2005 auf diese Ungerechtigkeit. Als er durch seine Heimatstadt Bochum geht, findet er zum damaligen Zeitpunkt etwa 70 Stolpersteine für die Opfer des Nationalsozialismus, keiner davon ehrt einen homosexuel­len Verurteilten. Er beschließt, dass er sich über diesen Zustand entweder beschweren oder etwas tun könne, um ihn zu ändern: “Ich habe mich für ‘was tun’ entschieden.”

Kurt Brüssows Stolperstein ist der 46., den Wenke für schwule Männer hat verlegen lassen. Am 9. Dezember, Brüssows 110. Geburtstag, wurde der Stein vor dem Theater verlegt, in dem Brüssow den Beruf ausgeübt hat, der ihn in seinem Leben wohl am meisten bewegen konnte. Gefördert wurde die Verlegung von der Stadt Greifswald, dem Theater und der evangelischen Studierendengemein­de, die auch die Kosten für den vom Künstler Gunter Demnig erstellten Stolperstein übernommen hat. Die Website Stolpersteine Homosexuelle, auf der Wenke die Biografien der gewürdigten schwulen Männer festhält, betreibt er gemeinsam mit Mediengestalter Dirk Konert. Die Website und die Stolpersteine sind nicht nur eine Möglichkeit, um sich der Vergangenheit bewusst zu werden. Denn Erinnerungskultur wirft ihre Schatten immer auch auf die Gegenwartskultur. Sie ist wichtig, um heute aktiv zu werden,

“[g]egen das Vergessen [und] für die Erinnerung niemals wieder barbarische Willkür zu tolerieren, die die Welt schon einmal in Trümmern zurückgelassen und unzählige Leben zerstört hat.”

Dirk Konert

Ein Artikel kann auf etwas aufmerksam machen, aber er ist immer nur eine verkürzte Darstellung des Erzählten und neigt in seinem selektierten Charakter schnell dazu, die Person auf ihre Opfer­rolle zu reduzieren. Wer also mehr über Kurt Brüssow erfahren möchte, kann dies durch Jürgen Wenkes Biografie “Was bleibt, wenn der Vorhang fällt?” tun, hier auch einsehbar als PDF.

Ebenso lesenswert ist das Buch aus diesem Jahr: Erinnern in Auschwitz: Auch an sexuelle Minderheiten (Querverlag Berlin), von Joanna Ostrowska, Joanna Talewicz-Kwiatkowska und Lutz van Dijk.

Auf der Website von Jürgen Wenke findet ihr außerdem Tipps, wie auch ihr etwas zu dem Projekt beitragen könnt (inklusive einer Putzanleitung für Stolpersteine).

Beitragsbilder: Julia Schlichtkrull
und das Amt für Bildung, Kultur und Sport

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