Kolonialzeit dringend aufzuarbeiten – ein Kommentar

Kolonialzeit dringend aufzuarbeiten – ein Kommentar

Im Juni 2023 wurde bereits ein Artikel beim webmoritz publiziert, der über den Stand der Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit informiert. Der bisherige Stand ist offensichtlich unzureichend.

In den wenigen Jahrzehnten, in denen das Deutsche Kaiserreich eigene Kolonien besaß, beging es bereits schwere Menschheitsverbrechen an der indigenen Bevölkerung. Der deutsche Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, war einer der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts. In Deutsch-Südwestafrika wurden zudem Strafarbeiterlager betrieben, die wie später im Nationalsozialismus Konzentrationslager hießen, und den Nazis als Vorbild für ihre noch brutaleren Konzentrationslager dienten. Schädelvermessungen und andere rassistisch-biologische Untersuchungen wurden auch bereits in dieser Epoche begonnen. Bis heute fehlt dazu eine offizielle Entschuldigung der Bundesregierung.

Kolonialzeit als Schwachstelle einer eigentlich sehr guten Aufarbeitung eigener Geschichte

Dabei ist die kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte eigentlich eine Stärke Deutschlands. Wohl kaum ein Land befasst sich mit einer unmoralischen Epoche seiner eigenen Geschichte so intensiv wie Deutschland mit dem Nationalsozialismus. Das ist auch völlig richtig und muss unbedingt so bleiben. Dennoch muss es zusätzlich auch möglich sein, sich mit vorherigen Verbrechen der eigenen Geschichte ebenfalls kritisch zu befassen. Hier steht Deutschland erst ganz am Anfang. Erst in den 2010er Jahren begann das Auswärtige Amt anzuerkennen, dass die brutale Niederschlagung der Herero- und Nama-Aufstände und deren Vertreibung in eine Wüste, um sie verdursten zu lassen, ein Völkermord waren. Die Verhandlungen über eine Entschädigung liefen stockend, auch weil die Bundesregierung immer wieder versucht hat, die deutschen Verbrechen zu marginalisieren.

Änderungen in der Aufarbeitungspolitik notwendig

Lange überfällig wäre eine aufrichtig wirkende Entschuldigung, die nicht direkt wieder eine Einschränkung enthält. Zudem müssten die Gespräche nicht nur mit der namibischen Regierung, sondern auch mit Vertreter*innen der Herero und Nama geführt werden, um wirklich mit den Opfern in Kontakt zu kommen. Stattdessen wurde lange versucht, eine Anerkennung als Völkermord zu verhindern, weil die UN-Definition dazu erst 1955, also später, entstand. Eine juristische Aufarbeitung wurde entschieden abgelehnt, weil die Verbrechen längst verjährt seien.

Hinzu kommt, dass die Verbrechen der deutschen Kolonialzeit in der deutschen Bevölkerung nahezu überhaupt nicht präsent sind. Natürlich kann man eine solche öffentliche Erinnerung nicht wirksam direkt per Gesetz beschließen, aber es wäre möglich und dringend notwendig, die notwendigen Voraussetzungen dazu in der politischen Bildung zu schaffen. Im Geschichtsunterricht ist das Thema bislang nahezu überhaupt nicht präsent. Eine Schwerpunktsetzung auf dieses Thema in den Lehrplänen würde eine deutlich intensivere Erinnerung und Diskussion mit dieser verbrecherischen Epoche der deutschen Geschichte ermöglichen. Auch gibt es bislang keinen zentralen Gedenkort für die Opfer des Genozids. Die Errichtung eines solchen Mahnmals und die Schaffung weiterer lokaler Gedenkorte könnte eine Erinnerung und Aufarbeitung ebenfalls erheblich verbessern. Es wäre auch möglich, Gedenkstätten für deutsche Kolonialismuskritiker*innen im Kaiserreich oder Widerstandskämpfer*innen in den Kolonien zu errichten. Diese Maßnahmen würden langfristig für eine deutlich effektivere Aufarbeitung sorgen.

Zudem müsste Deutschland in den Verhandlungen mit Namibia erheblich mehr Entgegenkommen zeigen. Das würde diese erheblich beschleunigen und vereinfachen und wäre ein wichtiges Signal der Einsicht an die Nachfahren der Betroffenen. Ein Abkommen über Entschädigungszahlungen mit einer offiziellen Entschuldigung könnte auch eine weitere Aufarbeitung und gesellschaftliche Diskussionen in Deutschland und Namibia ermöglichen.

Gegenargumente nicht plausibel

Es wird immer wieder eingeworfen, dass andere europäische Staaten eine viel intensivere und längere Kolonialzeit mit deutlich mehr Verbrechen als Deutschland hätten und dort solche Diskussionen trotzdem nicht geführt werden würden. Diese Punkte sind zwar richtig, aber kein sinniges Argument. Schließlich beschäftigt sich Deutschland bereits jetzt sehr viel intensiver mit den Verbrechen seiner Vergangenheit als sehr viele andere Staaten, indem es die Verbrechen von Nationalsozialismus und Holocaust immer wieder in der Öffentlichkeit wachruft und diskutiert. Dieses Stellen der eigenen Vergangenheit ist eine Stärke Deutschlands, auf die wir Deutschen stolz sein können, und keine Schwäche. Deshalb ist es aber zwingend notwendig, dass wir dazu bereit sind, uns auch den Fehlern unserer Vergangenheit vor dem Ersten Weltkrieg zu stellen, also der Kolonialzeit. Wenn wir dann die einzige Nation sind, die sie aufarbeiten, sind wir die einzigen, die bereit sind, richtig zu handeln und sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Das ist positiv, nicht negativ.

In diesem Sinne würde eine intensive Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit die Erinnerung an den Nationalsozialismus keinesfalls gefährden. Sie wäre im Gegenteil die Ergänzung, die notwendig ist, um wirklich ehrlich sagen zu können, dass wir uns den Verbrechen unserer Vergangenheit stellen und sie als Mahnung für die Zukunft verstehen. Diese Aussage ist nur dann wirklich glaubhaft, wenn sie alle begangenen Verbrechen miteinbezieht.

Fazit

Folglich gäbe es etliche Möglichkeiten, die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus erheblich zu beschleunigen und zu verbessern. Das könnte auch der Beginn einer neuen Epoche in den diplomatischen Beziehungen zu den Staaten, die einst deutsche Kolonien waren, werden. In einem Zeitalter, in dem die Rolle Europas in der Weltpolitik zunehmend geringer wird, erscheint das nicht nur moralisch, sondern auch geopolitisch-rational ratsam.

Beitragsbild: Kevin Olson auf Unsplash

Kolonialzeit dringend aufzuarbeiten – ein Kommentar

Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit

Die deutsche Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg ist in der Öffentlichkeit vergleichsweise stark präsent. Die deutsche Kolonialzeit dagegen steht kaum im Diskurs, obwohl sie eigentlich nicht weniger bedeutsam und problematisch war.

Spät entstandenes und sehr kleines Kolonialreich

Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Staaten begann Deutschland seine Kolonialpolitik sehr spät. Erst in den 1880er Jahren wurden einige Kolonien erworben. Hintergrund war die äußerst späte Entstehung eines deutschen Nationalstaats im Vergleich zu vielen anderen Staaten Europas, die 1871 mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs erfolgte. Daher wollte vor allem Reichskanzler Otto von Bismarck die etablierten Staaten nicht durch ein Kolonialreich weiter verunsichern. Durch das Drängen der Koloniallobby und vor allem des dritten deutschen Kaisers, Kaiser Friedrich Wilhelm II., König von Preußen, war er jedoch gezwungen, diese Haltung zu ändern und deutsche Kolonien zuzulassen. So erhielt das Deutsche Kaiserreich Kolonien in Afrika, Ostasien, dem südlichen Pazifik und der Karibik. Dennoch war das deutsche Kolonialreich sehr viel kleiner als die meisten anderen. Die vorhandenen Kolonien waren dem Deutschen Kaiserreich daher besonders wichtig, auch wenn sie wie bei allen Kolonialmächten zwar Prestige brachten, aber wirtschaftlich ein Verlust waren.

Verbrecherische Kolonialherrschaft

Die Kolonialisierung vor Ort verlief bei den Deutschen wie bei den anderen europäischen Kolonialmächten äußerst brutal. Die Kolonisator*innen betrogen oder erpressten die indigene Bevölkerung und konnten so Grundbesitz in den Kolonien erlangen. Die Europäer*innen sahen sich selbst als “Herrenmenschen”, die der “Rasse” der Afrikaner*innen überlegen seien und die Ureinwohner*innen zu einem zivilisierten Leben erziehen müssten. So wurden die koloniale Herrschaft und das gewaltsame Niederschlagen von Protesten der Afrikaner*innnen moralisch legitimiert. Die deutschen beuteten die Ureinwohner*innen aus und zerstörten ihre Kultur. Ein versuchter Aufstand der Herero und Nama, zwei indigener Volksgruppen in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, endete mit einem Genozid der Deutschen an den beiden Stämmen. Die deutschen trieben die aufständischen Volksstämme in eine Wüste, vergifteten deren Brunnen und erschossen diejenigen, die zu fliehen versuchten. Kaum jemand überlebte. Dieser Massenmord war einer der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts. Die Deutschen errichteten in Deutschsüdwestafrika zudem Konzentrationslager, in denen die einheimische Bevölkerung zu Zwangsarbeit gezwungen wurde. Sie dienten als Vorbild für die Konzentrationslager des Nationalsozialismus.

Erste Aufarbeitungsversuche

Heute ist das Thema Kolonialismus in Deutschland, ebenso wie in den übrigen ehemaligen Kolonialmächten, kaum präsent. In den letzten Jahren sind jedoch erstmals Forderungen nach Aufklärung und nationaler Erinnerung in größerem Maße aufgekommen und publik geworden. Unter der letzten Bundesregierung wurde 2017 eine Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit erstmals in einem Koaltionsvertrag festgehalten.

Verhandlungen mit Namibia

Ein Jahr später waren die Verhandlungen der Bundesregierung mit Namibia über eine Entschädigung für den Genozid an den Herero und Nama die einzigen derartigen Verhandlungen zwischen ehemaligen europäischen Kolonialmächten und ehemaligen Kolonien überhaupt. Mittlerweile liegt hierzu ein Vertragsentwurf vor, der jedoch äußerst strittig ist. Er sieht eine offizielle Entschuldigung Deutschlands und 1,1 Millionen Euro Entwicklungshilfe als Entschädigung vor. Die namibische Regierung verlangt jedoch deutlich höhere Zahlungen, während die Bundesregierung nicht bereit ist, den Vertragsentwurf neu zu verhandeln. Lediglich eine Überarbeitung ist für sie diskutabel. Zudem klagen der namibische Oppositionspolitiker Bernadus Swartbooi und Vertretendenverbände der Herero und Nama in Namibia gegen den Vertragsentwurf, der dem namibischen Parlament nicht zur Abstimmung gegeben wurde. Im Entwurf ist nämlich außerdem verzeichnet, dass zusätzlich zu den 1,1 Millionen Euro Entwicklungshilfe keine weiteren Entschädigungen gefordert werden dürfen, sodass die Herero und Nama keine Zahlungen erhalten würden. Der Anwalt der Klagenden argumentiert, dass diese Entscheidung aufgrund ihrer weitreichenden Konsequenzen nicht ohne Zustimmung des Parlaments hätte getroffen werden dürfen.

Geraubte Kultur

Ein weiteres Diskussionsthema ist die Rückgabe in der Kolonialzeit geraubter afrikanischer Kulturgüter, die bis heute in deutschen Museen ausgestellt werden. Nach mehrjährigen Verhandlungen wurden 2022 20 Benin-Bronzen an Nigeria zurückgegeben, die von britischen Kolonisator*innen aus dem Königreich Benin im heutigen Nigeria geraubt und von Deutschen gekauft und bis vor kurzem in deutschen Museen ausgestellt worden waren. Forderungen nach Rückgabe solcher Gegenstände existieren in etlichen weiteren Fällen. Deutsche Museen stehen dem oft kritisch gegenüber und argumentieren, sie würden die Objekte seit Jahrzehnten sicher verwahren und hätten so dafür gesorgt, dass sie noch existieren würden. Der deutsche Historiker Jürgen Zimmerer entgegnet dem, dass ethnologische Museen von Anfang an politisch gewesen seien und ihre Entstehung mit dem Kolonialismus eng in Verbindung stünde. Der Kameruner Historiker und Philosoph Achille Mbembe kritisiert zudem im Hinblick auf die europäische Migrationspolitik, dass europäische Museen den Afrikaner*innen ihre Kulturgüter vorenthalten würden, wenn sie diese, wie momentan, in ihren Museen für die meisten Afrikaner*innen unerreichbar verwahren würden. Er erklärt jedoch auch, dass keine Rückgabe sämtlicher Raubgüter gefordert werde. Stattdessen plädiert er für eine Präsentation der Gegenstände an verschiedenen Orten in Europa und Afrika. Gerade für junge Afrikaner*innen sind ohnehin oft Zukunftsfragen wichtiger als die Rückgabe von Gegenständen aus der Vergangenheit. Auch virtuelle Rückgabe in Form von Digitalisierungen können sich viele vorstellen. Allerdings ist vielen auch wichtig, dass Deutschland und Europa anfangen, sich mit afrikanischen Kulturen zu beschäftigen und nicht nur mit der Rückgabe von Gegenständen. Hierbei sehen Expert*innen große Rückschritte seitens Europa.

Mangelnde Präsenz in Deutschland

In Deutschland ist das Thema Kolonialismus heute dennoch in vielerlei Hinsicht nur von marginaler Bedeutung. Es gibt keinen zentralen Gedenkort für die Opfer und Straßennamen und Gedenkstätten ehren weit häufiger die Täter*innen als sie. Auch in der schulischen Bildung wird das Thema nur kurz angerissen, während die Verbrechen des Nationalsozialismus und der SED-Diktatur deutlich intensiver behandelt werden. So ist das Thema auch in der Gesellschaft kaum relevanter Diskussionsgegenstand.

Fazit

In den letzten Jahren ist das Thema Kolonialismus und koloniale Aufarbeitung in Deutschland etwas präsenter geworden und es gibt erste Bemühungen für Wiedergutmachungen. Dennoch sehen Expert*innen und Opfer weiterhin großen Handlungsbedarf und Entschädigungen werden in Deutschland auch kritisch betrachtet.

Beitragsbild: Kevin Olson auf Unsplash

Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar

Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar

Der 27. Januar gilt seit 1996 als bundesweit gesetzlich verankerter Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus. Seine Anfänge hat dieser geschichtlich wichtige Tag im Jahr 1945, als die Rote Armee das deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Ausschwitz befreite. Mehr als eine Millionen Menschen waren dort auf grausamste Art und Weise gefoltert, gequält und getötet worden. Opfer waren diejenigen, die nicht der auf Rassenwahn basierenden Ideologie des Nationalsozialismus entsprochen oder sich dem damaligen Regime widersetzten. Der 27. Januar ist dafür da, um genau diesen Opfern zu gedenken. Auch die Universitäts- und Hansestadt Greifswald trägt ihren Teil zum Gedenken bei, indem sie eine Vielzahl an Veranstaltungen anbietet. Seit 2009 wird dabei immer wieder eine andere Opfergruppe in den Fokus gerückt.

Auch dieses Jahr sind wieder mehrere Veranstaltungen geplant:

  • Am Freitag, den 27. Januar, werden Dr. Philipp Neumann-Thein und Dr. Cornelius Lehmann zwei individuelle Vorträge halten, die sich mit dem diesjährigen Thema, der Opfergruppe der Kommunist*innen, beschäftigen. Dr. Philipp Neumann-Thein wird sich mit der Verfolgung kommunistischer Gruppen durch die nationalsozialistische Herrschaft und der sich daraus entwickelnden Erinnerungspolitik beschäftigen. Im Anschluss wird Dr. Cornelius Lehmann das individuelle Schicksal des niederländischen Kommunisten Johannes ter Morsche, der in Zinnowitz lebte, genauer thematisieren. Die Vorträge starten um 19:00 Uhr im Bürgerschaftssaal des Rathauses.

  • Am Montag, den 30. Januar, wird es eine Filmvorführung für den Film „YOU LOOK SO GERMAN!“ im Kultur- und Initiativenhaus STRAZE geben. In dem Film trifft eine israelische Reiseführerin in Berlin eine entfernte Verwandte und macht dabei eine Erkenntnis, die sie auf eine Reise in ihre eigene Familiengeschichte schickt. Die Vorführung beginnt um 20 Uhr.

  • Am Mittwoch, den 01. Februar, gibt es eine Lesung mit Andrea von Treuenfeld aus „Leben mit Auschwitz“. Thematisch setzt sich das Buch mit den Überlebenden des zweiten Weltkrieges und deren Nachkommen, speziell den Enkeln und Enkelinnen, auseinander. Die Frage dabei ist, was der Name Auschwitz für eben diese dritte Generation bedeutet. Stattfinden wird die Lesung im Koeppenhaus um 19:30 Uhr.

Es wird an diesem Freitag auch wieder ganztägig Spaziergänge zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz geben.

Beitragsbild: Ranurte auf Unsplash

Ein Stein, um zu erinnern

Ein Stein, um zu erinnern

Jürgen Wenke trägt eine Regenbogenmütze und hat einen Regenbogenfächer dabei, extra für die Fotos. Es ist ja auch ein schönes Bild, dieser Regenbogen. Die Schnittstelle zwischen Regen und Sonne, der Übergang von etwas Trübem und Tristem zu etwas Hellem, Hoffnungsvollem. Für manche ist der Regenbogen auch ein Zeichen der Standhaftigkeit, des Kampfes für Sichtbarkeit und Akzeptanz. Eine Erinnerung an all jene, die diesen Weg schon vor uns gegangen sind.

Es regnet ein wenig an diesem Morgen, aber das Wasser hilft auch beim Putzen des Stolpersteins. Ein einfacher Küchenspülschwamm, etwas Scheuermilch, klares Leitungswasser aus der Trinkflasche zum Abspülen. Das ist die mechanische Weise, erklärt mir Jürgen, während er die Oberfläche des Steins wieder zum Glänzen schrubbt. Es gibt auch noch eine chemische Methode, bei der man eine Lösung aus Salz und Essig einwirken lässt, doch das greift auch das Messing an, sodass es sich rötlich verfärbt. Jürgen hat Erfahrung im Umgang mit den Stolpersteinen. Etwa 60 davon hat er bereits in Auftrag gegeben, und stolz berichtet er mir auch schon von denen, die für das nächste Jahr geplant sind. Für die Anfertigung und in der Regel auch für die Verlegung ist der Künstler Gunter Demnig zuständig, während Jürgens Aufgabe vor allem in der Recherche zu den jeweiligen Opfern liegt. Von anonymen Listen mit hunderten von Namen, über Geburts- und Sterbeurkunden und Verfolgungsakten bis hin zur Kontaktaufnahme mit noch lebenden Angehörigen, bis ein mehr oder weniger detailliertes Bild der Betroffenen entsteht, eine Lebens- und Leidensgeschichte, die Jürgen auch auf seiner Homepage teilt. “Das geht einem schon sehr nahe”, sagt er, nickt dabei und das sonst so präsente Lächeln auf seinem Gesicht verschwindet für einen Moment.

17 Jahre ist es nun her, dass Jürgen seine Recherchen aufgenommen hat. Damals, auf einem Weg durch die Straßen seiner Heimatstadt Bochums, wurde ihm bewusst, dass sich unter all den verlegten Steinen kein einziger für diejenigen finden lässt, die unter dem Paragraphen 175 verurteilt wurden: Homosexuelle. Also begann er, nachzuforschen, und stieß schließlich auf die Arbeit eines Historikers zu einem Doppelstigmatisierten, Wilhelm Hünnebeck, in den Worten der Nazis “Halbjude”, aber verfolgt nach §175. Jürgen war unzufrieden mit der unzulänglichen Recherche, die vor ihm betrieben wurde, und machte sich selbst an die Arbeit. Wilhelm Hünnebeck war sein erster Stolperstein, während Hünnebeck selbst bereits 10 Jahre zuvor ein Stein gewidmet wurde. Allerdings ohne den tatsächlichen Grund für die Verfolgung, seine Homosexualität.

Über die Zeit häuften sich die Namen und Lebensläufe an. Über seine begonnene Recherche gelangte Jürgen an die Listen der KZs Auschwitz und Buchenwald, jeweils mit 136 und 550 Namen der bekannten Opfer, die den rosa Winkel tragen mussten. “Dann fand ich die Liste aus Dachau, dann die aus Sachsenhausen. Und es geht so weiter. Wenn ich jetzt forsche, stellt sich nicht mehr die Frage Wie mache ich weiter?, sondern nur Wie beschränke ich mich?” Um nur zehn Prozent der Namen abzuarbeiten, müsste er wohl 200 Jahre alt werden, scherzt er. Aber man müsse irgendwann realisieren, dass es nicht darum gehen kann, die Geschichten aller Opfer aufzuarbeiten, sondern Stellvertreter*innen zu finden. Stellvertreter*innen für die Verfolgung, für die Leidensgeschichte. Auch Jürgens eigenes Archiv Zuhause wächst immer weiter. “Ich könnte dir da wahrscheinlich zweieinhalbtausend Namen nennen, von Leuten, die in diesen Lagern waren.” Dieses Archiv ist auch ein guter Startpunkt, wenn jemand direkt auf ihn zukommt, um einen Stolperstein zu verlegen, um zum Beispiel dem Wunsch nachzukommen, sich für einen Stein in der eigenen Heimat einzusetzen.

Wir stellen uns an den Säulen des Theatereingangs unter, während der Regen die letzten Schaumblasen von Kurt Brüssows Namen und seiner Verfolgungsgeschichte fortwäscht. “Mehr ginge nicht drauf an Schrift”, sagt Jürgen. Bei den meisten Steinen ist noch die Anmerkung “Hier wohnte” über dem Namen eingraviert, doch in Brüssows Fall wurde der Stein nicht an seinem letzten freiwillig gewählten Wohnort verlegt, sondern an seinem Schaffensort, dem Greifswalder Theater. Auf den Schauspieler, der 1940 inhaftiert und 1943 zwangskastriert wurde, ist Jürgen über eine Anfrage gestoßen. Der Mann, der ihn anfragte, stammte zwar von Rügen, doch dort für die vielen kleinen Dörfer jemanden zu finden, ist schwierig. Also weitete Jürgen die Suche aus, auf Stralsund, Wismar und Greifswald, und stieß schließlich auf Kurt Brüssow. Ein “Volltreffer”, nennt er den Fund, denn von Brüssow ist eine vollständige Akte von 30 bis 40 Seiten erhalten. Außerdem stößt er nach einer aufwendigen Reise durch verschiedene Einwohnermeldeämter schließlich sogar auf eine noch lebende Stiefenkeltochter, die fassungslos ist, als sie die Geschichte ihres Großvaters liest. Es folgen mehrere persönliche Treffen, lange Gespräche, der Austausch von Fotos und Erzählungen. “So kam eins zum anderen.” Jürgen berichtet so lebendig von seinen Nachforschungen und den Treffen, als hätten sie erst gestern stattgefunden. “Zum Schluss war das eben eine Geschichte, die den ganzen Teil des Lebens umfasst, soweit man das sagen kann. Den Mann selbst kann ich natürlich leider nicht mehr interviewen, dafür kam ich dann sozusagen zu spät.” Trotzdem, als er ein Bild Kurt Brüssows aus seiner Tasche holt, um es für ein Foto neben den Stein zu legen, sieht er es an, als hätte er den Schauspieler selbst gekannt.

Der nächste Stolperstein wird morgen in Wismar verlegt. Fritz Stein war Kulturbautechniker, als er nach einer Haftstrafe in das KZ Auschwitz verlegt wurde. Anders als Kurt Brüssow überlebte er die Gefangenschaft nicht, sondern starb bereits mit 38 Jahren an den erlittenen Torturen. Auf Fritz Stein stieß Jürgen durch das Buch “Erinnern in Auschwitz. Auch an sexuelle Minderheiten“. Dem “kleinen Mann mit der Brille”, wie Jürgen ihn nennt, waren nur vier Zeilen und ein Foto gewidmet, aber es war sein Geburtsort, der für Jürgen aus der Masse herausstach. Ein kleines Dorf, in dem er vor einiger Zeit bereits einen Stolperstein verlegte, und in dem aufgrund seiner geschlossenen, dörflichen Struktur noch immer Angehörige und sogar die Kinder der damaligen Denunziant*innen leben. Fritz Stein wählte jedoch Wismar zuletzt als Wohnort aus, also geht die Reise dorthin. Jürgen freut sich auf die Verlegung, denn er wird dabei auch den Neffen und die Großnichte Fritz Steins kennenlernen, mit denen er zuvor nur übers Telefon Kontakt hatte. Wie bei den meisten Opfern, zu denen er recherchiert hat, wussten die Angehörigen nichts vom wahren Grund der Verurteilung Fritz Steins. In der Familie wurde stattdessen behauptet, dass Stein ein Verhältnis mit einer Jüdin gehabt hätte. “Das war leichter offensichtlich als zu sagen ‘Er war schwul'”, erklärt Jürgen mit einem Schulterzucken. “Damit war er immerhin ein Straftäter.” Bei der Verlegung möchte auch Steins Großnichte einige Worte an die Anwesenden richten, worauf sich Jürgen besonders freut. Obwohl er bereits einige Angehörige hat kennenlernen dürfen, ist das das erste Mal, erzählt er, dass jemand selbst etwas sagen möchte. Die meisten sind dafür viel zu überwältigt.

Wir stehen noch immer an den Säulen des Theatereingangs, schauen immer wieder zu dem Plakat der Burschenschaft auf der anderen Seite hinüber, scherzen über deren konservatives Weltbild, über Fußball und die katholische Kirche. Das Lachen ist befreiend, auch wenn es mit einem Wermutstropfen einhergeht, denn die Wahrheit tut weh. All das Verstecken, die Ausgrenzung und Verfolgung queerer Menschen, mit denen sich Jürgen in seiner Arbeit beschäftigt hat, sind eben nicht nur Relikte der Vergangenheit. Und gerade deshalb ist das Erinnern daran und an die Menschen, die auf diesem Leidensweg gegangen sind, auch heute noch so wichtig.

Als wir uns schließlich verabschieden, hat der Regen aufgehört, und zwischen einer dichten Wolkendecke lugt sogar die Sonne hervor. Einen Regenbogen gibt es nicht. Zumindest nicht am Himmel.

Das Wichtigste auf einen Blick:
Was? Verlegung eines Stolpersteins zur Würdigung von Fritz Stein
Wann? Mittwoch, dem 09.11.2022, um 11 Uhr
Wo? Wismar, Spiegelberg 54, vor dem dortigen Wohnhaus

Beitragsbilder: Julian Schlichtkrull

27.01.: Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

27.01.: Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Auch der diesjährige NS-Gedenktag wird in Greifswald wieder von einer Veranstaltung begleitet. Heute Abend, am 27. Januar um 19 Uhr wird in der Aula der Universität (Domstraße 11) im Besonderen an die katholischen Priester gedacht, welche trotz angeblicher Souveränität der katholischen Kirche unter Beobachtung und Verfolgung litten. Trotz aller Diskussion um das Ausmaß des Widerstands der katholischen Kirche sollte nicht vergessen werden, dass es beispielsweise auch im Dachauer Konzentrationslager einen eigenen Block für Priester gab. Nach einem gesamthistorischen Einblick wird das Schicksal eines hingerichteten Greifswalder Pfarrers vorgestellt. Musikalische Begleitung erhält der Gedenktag von der hiesigen Musikschule.

Beitragsbild: Myriam Zilles auf Pixabay