So wie viele Studenten mit dem Beginn der Semesterferien Greifswald den Rücken zukehren, verabschiedete auch ich mich letzten Sommer von der Stadt und ging für ein Praktikum nach Israel. Ich war dort (unklugerweise) von Juli bis September, während der heißen Phase des letzten Gaza-Konfliktes. Grenzerfahrungen waren also garantiert. Exemplarisch für diese Reise werde ich von meinen Erlebnissen an einem Tag in Bethlehem erzählen. Dies ist der letzte Teil der Reihe.

Hier geht es zum ersten, zweiten und dritten Teil – die man vorher unbedingt gelesen haben sollte.

“Was denkst du von der Hamas?”

Nach etwa zwei Stunden lichtet sich die Menge und nur noch die vermummten Steinewerfer und hauptsächlich Jugendliche halten die Demonstration aufrecht. Ich setze mich auf den Bordstein und schreibe meine letzten Eindrücke auf. Ein bärtiger Typ mit Sonnenbrille und westlichen Klamotten spricht mich an, fragt mich, ob ich Reporter sei und was ich von der Demo halte. Ich bin noch völlig erschlagen von den Erlebnissen und kann nur sagen, dass es verrückt sei, in meiner Heimat würde man nie so eine Demo sehen, schon allein, weil man die Leute nicht auf die Straße kriegen würde (Ich hatte dabei die Bildungsstreiks in Greifswald im Hinterkopf). Er stellt sich als Gabriel vor, ein Kameramann beim offiziellen Fernsehsender der Fatah, einer der regierenden Parteien im Westjordanland.

Der Wachturm vermittelt bereits den Eindruck, dass die Mauer nicht die Zustimmung der Bevölkerung hat

Der Wachturm vermittelt bereits den Eindruck, dass die Mauer nicht die Zustimmung der Bevölkerung hat.

Als ich noch sicher zu Hause saß, habe ich mir gewünscht mit Betroffenen zu sprechen, um ihre Sicht der Dinge zu hören, Gabriel stößt mich aber direkt in die Schlangengrube und fragt, was ich von der Hamas halte. So sitze ich also in einem fremden, dem Westen vermeintlich feindlich gesinnten Land bei einer Demo und werde von einem mir noch völlig Unbekannten gefragt, was ich von einer Terrororganisation halte, die er wahrscheinlich ganz dufte findet. Um es noch brisanter zu machen, stellen sich ein paar Jugendliche neugierig um uns herum und begaffen uns, ohne ein Wort zu verstehen. Die ganze Situation erscheint mir bedrohlich und ich wähle meine nächsten Worte sehr vorsichtig. „Wie könne man von der Hamas denn halten, wenn sie Raketen auf Unschuldige abfeuert?“ Wer hat aber angefangen, fragt er. Ich entgegne, ob er denn den gegenwärtigen Konflikt meint. Begonnen hat es ja mit der Entführung und Ermordung von drei jüdischen Jugendlichen im Westjordanland, aber warum sollte man dort ansetzen, genauso gut könnte man 70 Jahre zurückgehen zum Holocaust und zur Staatsgründung Israels, oder 100 Jahre zur Balfour-Deklaration, dem Versprechen der Briten, dass sie den Juden in Palästina ein nationales Heim schaffen werden, oder 2000 Jahre zur Niederschlagung des großen Aufstandes und der Zerstörung des zweiten Tempels, oder zu einem der Dutzend bewaffneter Konflikte in der kurzen Geschichte des Staates Israel. Die Geschichte des Nahen Ostens ist eine blutige und schon gar nicht so einfach, dass man in Täter und Opfer unterteilen könnte.

 

Die Sicht der anderen Seite

Ich frage nun im Gegenzug, was er von der Hamas hält und er erklärt mir, dass die Leute der Hamas die einzigen seien, die sich für die Palästinenser einsetzten. Das fände er gut, wobei er aber ihren Extremismus alle zu Muslimen zu machen und Ungläubige zu töten nicht gut fände (dies ist die wörtliche Übersetzung von Gabriels Rede und nicht die Auffassung des Autors, die Aussage hat keinen Anspruch auf Richtigkeit). Im Gegensatz dazu wäre die Fatah korrupt und hätte seit zwanzig Jahren keine Veränderung der Situation bewirkt. Deshalb hasse er seine Arbeit für die Fatah. Er hasse auch das Leben in Palästina, es sei voller Gewalt und er erzählt, dass er eine Emigration nach Kanada beantragt habe. Viele seiner Freunde hätten angegeben, dass sie homosexuell seien und deshalb in ihrer Heimat verfolgt würden, damit ihre Chance auf ein Visum steige. Scheinbar ist dies ein beliebter Kniff, da es natürlich auch schwer zu überprüfen ist. Kanada scheint ein begehrtes Ziel zu sein: Ein israelischer Arbeitskollege an meinem Praktikumsplatz hat mir erzählt, dass auch er nach Kanada emigrieren wolle, weil das Land von niemandem gehasst werde und mit niemandem in einen Konflikt verwickelt sei.