Die Bewohner des Asylbewerberheimes in Jürgenstorf wandten sich im September mit einem Brief an die Öffentlichkeit. Darin kritisieren sie die Isolation und den Heimzustand und fordern die Schließung. moritz war vor Ort.

Du bist Asylbewerber und dies ist kein Hotel“, soll Rainer Plötz, Amtsleiter des Ordnungsamtes Demmin, während einer Kundgebung im Oktober vor dem Asylbewerberheim in Jürgenstorf gesagt haben. Wie ein Hotel sieht der stereotype DDR-Plattenbau wirklich nicht aus. Die triste, graue und mit Satellitenschüsseln gesprenkelte Fassade wird durch graue Nebelschleier verdunkelt, die sich an diesem Tag durch den Ort in Vorpommern ziehen. Ausgerechnet an der „Straße der Initiative“ gelegen, spiegelt der marode Zustand des Gebäudes eine Ironie wider, die von den ratlosen, müden Blicken der rund 200 Bewohner unterstützt wird. Die aus dem Hintergrund schallenden Klänge der Ostseewelle, der locker-fröhliche pommersche Akzent werkelnder Handwerker am Nachbarhaus und der Blick auf die Platte ergeben ein abstruses Bild.

In diesem Heim lebt Katayoun Housseini seit 16 Monaten. Die gebürtige Iranerin umgibt auf den ersten Blick, trotz ihrer 1,60 Meter Körpergröße, eine Aura der Entschlossenheit. Ihr gezwungenes Lächeln verrät jedoch etwas anderes und ihre Fassade bröckelt allmählich. In schwarzen Jeans, Lederstiefeln und königsblauer Fleecejacke gekleidet, hält sie sich nervös an ihrer silbrig schimmernden Blumenkette fest, während sie mit leiser und zittriger Stimme im gemischten Deutsch-Englisch ihre Geschichte erzählt. Katayoun hat sich in ihrer Heimat für Frauen stark gemacht, Frauenhilfsprojekte ins Leben gerufen und betreut. Politisch verfolgt, verließ sie mit ihrer achtjährigen Tochter den Iran im Glauben an eine bessere Zukunft in Deutschland. Doch nun hinterfragt sie die Situation Deutschlands als asylgewährender Staat, in dem sie zwar sicher, jedoch nicht frei sei. „Wir sind hier sehr isoliert und haben keinen Kontakt zu anderen Menschen außer den Heimleitern“, erzählt sie.

In dem aus vier Etagen und einem Keller bestehende Gebäude leben unter anderem Flüchtlinge aus Ghana , Indien, dem Iran, Serbien oder Russland, wobei 90 Prozent aus Afghanistan stammen. Jede Etage des seit knapp einem Jahrzehnt bestehenden Heims ist in zwei Korridore aufgeteilt, auf denen mehrere Bewohner wohnen. Pro Korridor gibt es eine Küche sowie ein Gemeinschaftsbad mit vier Waschbecken. In der Küche sind lange Wartezeiten vorprogrammiert. In Katayouns Küche gibt es nur zwei funktionierende Herdplatten, was eine zusätzliche Verlängerung mit sich bringt.

Auf beengte Wohnzustände folgen schlechte infrastrukturelle Gegebenheiten, denn Jürgenstorf ist eine kleine, 1 100 Einwohner fassende Gemeinde im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte. Anscheinend gibt es kein Vertrauen zwischen Asylbewerbern und Anwohnern. Eine ältere Frau aus dem Heim erzählt, dass bei ihrem letzten Einkauf ihre Tasche vom Kassierer untersucht worden sei. Die Lage des Heimes erschwert den Alltag der Bewohner und fördert deren Vereinsamung. „Wir haben keine Sportmöglichkeiten und auch keinen richtigen Deutschkurs. Wenn wir ein Problem haben, können wir nicht ausdrücken, was uns fehlt. Viele hier schlafen den ganzen Tag, um ihre Probleme zu vergessen“, so Katayoun.

Obwohl nur fünf Kilometer zum nächstgrößeren Ort Stavenhagen entfernt, liegen Welten dazwischen. Busse fahren nur wenige Male am Tag, lange Wartezeiten und das wenige Geld erschweren die Situation. Ein erwachsener Asylbewerber bekommt etwa 200 Euro Sozialhilfe, für Kinder sind 160 Euro vorgesehen. Davon muss alles finanziert werden, von Busfahrten über Lebensmittel bis hin zu den Schulmaterialien der Kinder.

Katayoun Housseini lebt seit 16 Monaten in Jürgenstorf

Eine weitere Belastung stellt die Bearbeitungsdauer der Asylanträge dar, weil die bürokratischen Maßstäbe der Zuwanderungsländer, unter anderem in der Personenregistrierung, den deutschen nicht entsprechen. Daher leben sie teilweise seit Jahren in Asylbewerberheimen. Britta Heinrich, stellvertretende Geschäftsführerin des Kreisdiakonischen Werks in Greifswald, findet, dass man die Politik detaillierter hinterfragen solle, welches Ziel mit den Asylverfahren verfolgt werde. Es sei teilweise nicht gewollt, dass sich zu viele zur Einwanderung nach Deutschland entschließen: „Der Zulauf soll meiner Meinung nach dadurch eingeschränkt werden, dass Flüchtlinge sagen: Uns geht es hier nicht gut, das, was wir uns vorgestellt haben, existiert nicht.“ Deutschland solle seine Flüchtlingspolitik überdenken und Mecklenburg-Vorpommern über einen anderen Standort für das Heim nachdenken. Die Unterbringung in der Gemeinschaftsunterkunft in Jürgenstorf sei demnach nicht förderlich für die Bewohner. Denn durch bloße Sanierung wäre das Problem der Isolation und fehlenden Integration nicht gelöst.

Das Aufeinandertreffen verschiedenster Nationalitäten und Mentalitäten belastet die Bewohner. Daher findet Heinrich, dass im Falle von Jürgenstorf eine dezentrale Unterbringung, das heißt in eigenen Wohnungen, gut wäre. Dies könnte in Stavenhagen geschehen, da dadurch der Schulbesuch der Kinder nicht unterbrochen werden müsste. Jedoch betont sie, dass die Asylbewerber nicht gleich zu Anfang in kleine und abgeschlossene Wohnungen untergebracht werden sollten. Daher ist die Erstaufnahmeeinrichtung in Horst, in der sich die nach Mecklenburg-Vorpommern eingeteilten Flüchtlinge die ersten drei Monate aufhalten, nach Heinrich „im Sinne der Flüchtlinge – aber nicht für Jahre.“ Diese Einrichtung stellt einen Übergang dar bis sie auf Gemeinschaftsunterkünfte nach bestimmten Prozentzahlen verteilt werden.

Auch der Abgeordnete der Linksfraktion in Mecklenburg-Vorpommern Dr. Hikmat Al-Sabty kritisiert die Gemeinschaftsunterkünfte. Er sprach sich in einer Rede im November dafür aus, dass Asylbewerber nach höchstens zwölf Monaten dezentral untergebracht werden sollten. Er führte unter anderem die bessere Integration und die sinkenden Kosten, die sich dadurch ergeben würden, an. Auch würde der Verwaltungsaufwand zurückgehen. Er erwähnt des Weiteren, dass in Mecklenburg-Vorpommern schon die Möglichkeit der dezentralen Unterbringung bestünde, was aber einen kleineren Anteil verglichen zur Gemeinschaftsunterbringung darstelle. Dabei entscheiden die Landkreise und kreisfreien Städte im Einzelfall, ob eine dezentrale Unterbringung erfolgt. Er kritisiert daran, dass „nur in Ausnahmefällen ein Ausweg aus einer solchen, zugespitzt auch „Lagerhaltung“ genannten Unterbringung möglich ist“.

Die Beengtheit, Taten- und Perspektivlosigkeit führen auch zu psychischen Beschwerden unter den Bewohnern. Das hellhörige Haus lässt keine Privatsphäre zu. Das stelle einen großen Stressfaktor dar, so die Antirassistische Initiative Greifswald (Antira). Die Antira trifft sich seit der Wiedereröffnung des Greifswalder Asylbewerberheimes vor einem Jahr und setzt sich seitdem für die Belange der Flüchtlinge in Greifswald und Jürgenstorf ein. Im Zusammenspiel mit der isolierten Platzierung im Jürgenstorfer Heim birgt die Ungewissheit, ob ihnen Asyl gewährt wird, weitere Belastungen: „Die Bewohner leiden an Depressionen und psychosomatischen Störungen. Natürlich ist ein Schmerz viel präsenter, wenn man sonst nichts hat“, so ein Mitglied der Antira, welches anonym bleiben will.

Ein trauriges Beispiel solcher Störungen findet sich im obersten Korridor des Gebäudes in Jürgenstorf. Seit sieben Jahren lebt der aus Ghana stammende Alfred bereits dort. Aus seinem verdunkelten, mit unzähligen Plastikflaschen gefüllten Zimmer kommt der Ghanaer nicht, sondern bleibt im blau-grauen Trainingsanzug an der Tür stehen. Einzig seine Zahnlücke in einer Reihe strahlend weißer Zähne kommt durch seinen Mund zum Vorschein. Doch heraus kommt nur unverständliches Gemurmel. Obwohl anfangs gut integriert, „resignierte er im Laufe der Zeit, er hat keinen Aufenthaltsstatus und lebt in einem schwebenden Raum“, erzählt Britta Heinrich. Bei ihm zeigen sich die Folgen der Isolation und dass es im Heim keinen gibt, der seine Sprache spricht. Doch nicht nur er, sondern auch andere Bewohner benötigen Hilfe.

Die Familien leben auf engstem Raum zusammen, jedoch haben sich auch unter ihnen Freundschaften gebildet

Das Psychosoziale Zentrum für Migranten e.V. (PSZ) in Greifswald ist die erste Anlaufstelle für Migranten in Jürgenstorf, Greifswald, Anklam und Stralsund. Sie betreuen auch dezentral Untergebrachte in Demmin und Malchin. Dieses ist neben dem Flüchtlingsrat in Schwerin und der Caritas, einer der gemeinnützigen Vereine, die sich um die Belange der Asylbewerber in Mecklenburg-Vorpommern kümmern. Doch das PSZ verfügt über geringe Kapazitäten. Lediglich drei Mitarbeiter müssen die Flut hilfsbedürftiger Asylbewerber bewältigen. Nur einmal wöchentlich findet in Jürgenstorf eine Betreuung statt. So kann nicht auf alle Bedürfnisse der Bewohner eingegangen werden.

Auch Kinder flüchtender Familien sind betroffen. Je später der deutsche Zweitsprachenerwerb anfängt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit mit sprachlichen Rückständen den Mitschülern zu unterliegen. Noch toben sie unbeschwert durch die als Spielplätze fungierenden Flure des Heims. Doch auch sie leiden: „Die Kinder besitzen zwar oft mehr Ressourcen zur Stressbewältigung, da sie durch den Schulbesuch mehr soziale Unterstützung erhalten, aber keinem Kind fällt es leicht, die Eltern so hilflos und krank zu erleben. Viele Kinder sind gezwungen, die Erwachsenenrolle zu übernehmen, da die Eltern krankheitsbedingt nicht in der Lage sind der elterlichen Fürsorge nachzukommen“, meint Heinrich.

Dagegen betont Katayoun, dass es ihr „jeden Tag schwer fällt aufzustehen, da sie keine Planungen für den Tag hat.“ Ihr typischer Tagesablauf besteht nur aus Einkaufen und Kochen, obwohl sie in ihrer Heimat Übersetzerin und Lehrerin war. Sie würde gerne Kinderliteratur übersetzen. „Ich mache mir Sorgen um meine Zukunft und um die meiner Tochter“, fasst sie zusammen. Außerhalb dieses Beratungsangebotes stoßen die Heimbewohner schnell an ihre Grenzen. Sie haben kein Anrecht auf Deutschkurse. Erst wenn sie einen Aufenthaltsstatus bekommen, steht ihnen Unterricht zu. Das ist ein entscheidender Faktor, der in Jürgenstorf zu kurz kommt. „Sprache ist der Schlüssel zur Integration“, so die beiden Deutsch-als-Fremdsprache-Studierenden Stefanie und Christine, die ehrenamtlich im Greifswalder Asylbewerberheim Unterricht geben.

Auch der Greifswalder Arbeitskreis Kritischer Juristen (AKJ) setzt sich für die Bewohner des Asylheimes in Greifswald ein und bietet Hilfe bei Verständnisproblemen im juristischen Bereich an. Obwohl die Kundgebung vor dem Jürgenstorfer Heim bereits erste Früchte bezüglich freiwilliger Helfer getragen hat, verhindert die Abgeschiedenheit des Ortes weitere Initiativen. In Jürgenstorf gibt es keine Antira-Gruppe, keine ehrenamtlich arbeitenden Studenten und keinen AKJ.

Die Auswirkungen dieser Defizite zeichnen die Gesichter der Bewohner. Ob ein Asylbewerberheim einem Hotel gleichen sollte, darüber lässt sich streiten. Deutschland hat sich als Vertragsstaat internationaler Menschenrechtsabkommen der Achtung und Förderung von Menschenrechten verpflichtet. Doch scheint diese Verpflichtung realpolitischen Begebenheiten zu weichen. Die Veröffentlichung des offenen Briefes hat anscheinend einen kleinen Stein ins Rollen gebracht. Laut Manfred Peters, Leiter des Regionalstandortes Demmin, wird das Heim einer Prüfung unterzogen. „Eine Entscheidung solle noch dieses Jahr getroffen werden.“ Entweder wird das Heim saniert oder es wird nach geeigneteren Standorten gesucht. Katayoun hofft auf bessere Chancen und auf eine Zukunft in Deutschland, denn „We all are humans, we all deserve respect.“

Eine Reportage von Irene Dimitropoulos, Katharina Elsner & Marlina Schell mit Fotos von Irene Dimitropoulos