Ein Fundstück – Ozeano Nox

Eine Rezension von Stephanie Napp

Wie eine Erinnerung, die man vergessen hat und langsam wiederfindet – so muten die alten Filmaufnahmen aus dem Jahre 1912 an, die der Filmemacher Georg Wasner ausgehend von einem sechsminütigen Zeitdokument in ein mondänes Stück Kunst verwandelt hat, das den Namen „Oceano Nox“ trägt. Die Bilder, die uns zerkratzt und staubig entgegen flackern, wurden kurz nach der schicksalshaften Fahrt der Titanic aufgenommen. Lediglich die erste Aufnahme springt vor das Ereignis. Wir sehen Kapitän Edward John Smith, einer der 1500 Menschen, die den Untergang nicht überlebten.

In den folgenden Bildern ist die Katastrophe schon vergangen. Überlebende Mitglieder der Crew stehen in Position für die Kamera und starren in das Objektiv, ganz fasziniert von diesem neuen, unbekannten Medium. Einer setzt ein Lächeln auf, ein anderer stiert – wie in Trance – mit offenem Mund. Man sieht ihnen nicht an, dass sie erst vor Kurzem den eisigen Wellen entkommen sind. Unser Blick wandelt über die einzelnen Gesichter der Besatzungsmitglieder. Dabei hat der Regisseur die alten Bilder jedoch nicht einfach aneinander geschnitten, sondern künstlerisch instrumentalisiert.

Stasis des Augenblicks

Beobachter im Hintergrund – ein Spiegelbild des Zuschauers?

Die ursprüngliche Länge des Filmmaterials dehnt der gebürtige Wiener auf 15 Minuten. Dabei wiederholt Wasner einzelne Momentaufnahmen in Zeitlupe: Eine reiche Dame mit Federhut holt aus ihrem Wagen Kleidung für die überlebenden Passagiere. Große Säcke, aus denen etwas Stroh herausragt. Vielleicht gefüllt mit warmem Schuhwerk. Normale Koffer folgen, auch hier lässt sich der Inhalt nur erahnen. Aber: wir haben Zeit, darüber nachzudenken. Die Aufnahme ist um ein Vielfaches verlangsamt. Schwarzbild.

Dann läuft die gleiche Sequenz in normaler Geschwindigkeit ab. Wieder Schwarzbild.

Es folgt dieselbe Aufnahme in Zeitlupe, aber dieses Mal mit einem anderen, vergrößerten Bildausschnitt. Zwei Männer, ein langer und ein kurzer, stehen hinter dem Vehikel. Sie beachten die Dame nicht, sondern blicken ungläubig und gespannt in die Kamera. Die Beiden scheinen mehr Interesse an diesem neuen Instrument, als an dem Geschehen zu haben, das sich vor ihnen abspielt.

Nach diesem Muster verfährt der Filmemacher mit allen Momentaufnahmen. Als würde man immer wieder versuchen, die Zeit anzuhalten, um der Wahrnehmung des Bildes genug Raum zu lassen. Zweifelsohne aber eine gelenkte Wahrnehmung, denn der Betrachter bekommt nur die Details zu sehen, die der Regisseur ihn sehen lassen will. Dabei gelingt es Wasner, dem Zuschauer einen Spiegel vor die Augen zu halten. Während wir einen Einblick in den Nachklang der Katastrophe erhalten, nehmen wir als Zuschauer eine ähnliche Position wie die Personen hinter der reichen Dame ein – Beobachter, Gaffer, Voyeure. Die Spiegelfläche zwischen ihnen und uns bildet das Zelluloid.

Die Momentaufnahmen sind stetig durchsetzt mit Schwarzbildern, die uns die Möglichkeit geben, das gerade Gesehene wieder zu erinnern. Wie bei eine Schallplatte mit Sprung, werden wir stets von Neuem an dasselbe Bild herangeführt. Um zu starren.

Die stummen Filmaufnahmen sind mit einfachen Klavierklängen unterlegt, die die Nostalgie des Visuellen auch auf die auditive Ebene hinübertragen. Die nachdenklichen Töne machen grundlegend die Stimmung von „Oceano Nox“ aus; sie bilden den melancholischen Nachklang, der uns neben den Gaffern stets an die nicht sichtbaren Verunglückten erinnert.

Schwarzbild. „Oceano Nox! O Wellen! von welch traurigen Ereignissen könnt ihr erzählen“ heißt es im Zwischentitel. Der Ausruf stammt aus Victor Hugos gleichnamigem Gedicht. „O flots! Que vous savez de lugubres histoires!“ Nachdem der Romantiker im Jahre 1836 einen gewaltigen Sturm an der nordfranzösischen Küste beobachtet hatte, schrieb er das kurze Versepos über diese düsteren Nächte auf dem Ozean. Das Gedicht erzählt von den unzähligen Seefahrern, deren Körper im Meer und deren Namen in der Zeit versunken sind. Dieses Bild macht sich Wasners Titel zunutze und lässt es wie einen dunklen Schatten über den Aufnahmen schweben.

Alte Filmstreifen üben immer eine gewisse Faszination aus. Ein vergangener Moment wird aus der Rumpelkammer gekramt und uns – staubig wie er ist – präsentiert. Aber der Moment ist mehr als nur ein voyeuristischer Blick in die Vergangenheit. Er ist eine zu Kunst gemachte Geschichtsaufnahme. Ein Fundstück aus dem Filmarchiv, das uns in knappster Form an das Schicksal derer heranführt, die gerade nicht auf dem zerkratzten Zelluloidstreifen zu sehen sind.

Am Ende bleibt das weite, endlose Meer. Wir blicken auf den Atlantik und eine hinter den Wolken durchschimmernde Sonne aus dem Jahre 1912. „Oceano Nox“ schließt wie das Gedicht von Victor Hugo. Die Seelen ruhen auf dem Meer, ihre Namen geraten der Vergessenheit an. Doch mit diesem Film hat Georg Wasner den Schiffbrüchigen eine Erinnerung geschaffen, die über ein bloßes Zeitdokument hinausgeht. Er macht sich die Faszination der Nostalgie und den voyeuristischen Charakter der Menschen zunutze, um ein Stück Filmpoesie zu schaffen. Wir blicken auf die Menschen, dessen Leben sich mit dem der Verunglückten kreuzt und wissen nicht recht, ob wir weiter hinschauen sollen oder nicht.

Regie: Georg Wasner, Österreich, 2011

Anmerkung: Am 9. Dezember wurde diese Rezension von der Autorin überarbeitet.

 

Wie eine Erinnerung, die man vergessen hat und langsam wiederfindet – so muten die alten Filmaufnahmen aus dem Jahre 1912 an, die der Filmemacher Georg Wasner ausgehend von einem sechsminütigen Zeitdokument in ein mondänes Stück Kunst verwandelt hat, das den Namen „Oceano Nox“ trägt. Die Bilder, die uns zerkratzt und staubig entgegen flackern, wurden kurz nach der schicksalshaften Fahrt der Titanic aufgenommen. Lediglich die erste Aufnahme springt vor das Ereignis. Wir sehen Kapitän Edward John Smith, einer der 1500 Menschen, die den Untergang nicht überlebten.

In den folgenden Bildern ist die Katastrophe schon vergangen. Überlebende Mitglieder der Crew stehen in Position für die Kamera und starren in das Objektiv, ganz fasziniert von diesem neuen, unbekannten Medium. Einer setzt ein Lächeln auf, ein anderer stiert – wie in Trance – mit offenem Mund. Man sieht ihnen nicht an, dass sie erst vor Kurzem den eisigen Wellen entkommen sind. Unser Blick wandelt über die einzelnen Gesichter der Besatzungsmitglieder. Dabei hat der Regisseur die alten Bilder jedoch nicht einfach aneinander geschnitten, sondern künstlerisch instrumentalisiert.

Die ursprüngliche Länge des Filmmaterials dehnt der gebürtige Wiener auf 15 Minuten. Dabei wiederholt Wasner einzelne Momentaufnahmen in Zeitlupe: Eine reiche Dame mit Federhut holt aus ihrem Wagen Kleidung für die überlebenden Passagiere. Große Säcke, aus denen etwas Stroh herausragt. Vielleicht gefüllt mit warmem Schuhwerk. Normale Koffer folgen, auch hier lässt sich der Inhalt nur erahnen. Aber: wir haben Zeit, darüber nachzudenken. Die Aufnahme ist um ein Vielfaches verlangsamt. Schwarzbild.

Dann läuft die gleiche Sequenz in normaler Geschwindigkeit ab. Wieder Schwarzbild.

Es folgt dieselbe Aufnahme in Zeitlupe, aber dieses Mal mit einem anderen, vergrößerten Bildausschnitt. Zwei Männer, ein langer und ein kurzer, stehen hinter dem Vehikel. Sie beachten die Dame nicht, sondern blicken ungläubig und gespannt in die Kamera. Die Beiden scheinen mehr Interesse an diesem neuen Instrument, als an dem Geschehen zu haben, das sich vor ihnen abspielt.

Nach diesem Muster verfährt der Filmemacher mit allen Momentaufnahmen. Als würde man immer wieder versuchen, die Zeit anzuhalten, um der Wahrnehmung des Bildes genug Raum zu lassen. Zweifelsohne aber eine gelenkte Wahrnehmung, denn der Betrachter bekommt nur die Details zu sehen, die der Regisseur ihn sehen lassen will. Dabei gelingt es Wasner, dem Zuschauer einen Spiegel vor die Augen zu halten. Während wir einen Einblick in den Nachklang der Katastrophe erhalten, nehmen wir als Zuschauer eine ähnliche Position wie die Personen hinter der reichen Dame ein – Beobachter, Gaffer, Voyeure. Die Spiegelfläche zwischen ihnen und uns bildet das Zelluloid.

Die Momentaufnahmen sind stetig durchsetzt mit Schwarzbildern, die uns die Möglichkeit geben, das gerade Gesehene wieder zu erinnern. Wie bei eine Schallplatte mit Sprung, werden wir stets von Neuem an dasselbe Bild herangeführt. Um zu starren.

Die stummen Filmaufnahmen sind mit einfachen Klavierklängen unterlegt, die die Nostalgie des Visuellen auch auf die auditive Ebene hinübertragen. Die nachdenklichen Töne machen grundlegend die Stimmung von „Oceano Nox“ aus; sie bilden den melancholischen Nachklang, der uns neben den Gaffern stets an die nicht sichtbaren Verunglückten erinnert.

Schwarzbild. „Oceano Nox! O Wellen! von welch traurigen Ereignissen könnt ihr erzählen“ heißt es im Zwischentitel. Der Ausruf stammt aus Victor Hugos gleichnamigem Gedicht. „O flots! Que vous savez de lugubres histoires!“ Nachdem der Romantiker im Jahre 1836 einen gewaltigen Sturm an der nordfranzösischen Küste beobachtet hatte, schrieb er das kurze Versepos über diese düsteren Nächte auf dem Ozean. Das Gedicht erzählt von den unzähligen Seefahrern, deren Körper im Meer und deren Namen in der Zeit versunken sind. Dieses Bild macht sich Wasners Titel zunutze und lässt es wie einen dunklen Schatten über den Aufnahmen schweben.

Alte Filmstreifen üben immer eine gewisse Faszination aus. Ein vergangener Moment wird aus der Rumpelkammer gekramt und uns – staubig wie er ist – präsentiert. Aber der Moment ist mehr als nur ein voyeuristischer Blick in die Vergangenheit. Er ist eine zu Kunst gemachte Geschichtsaufnahme. Ein Fundstück aus dem Filmarchiv, das uns in knappster Form an das Schicksal derer heranführt, die gerade nicht auf dem zerkratzten Zelluloidstreifen zu sehen sind.

Am Ende bleibt das weite, endlose Meer. Wir blicken auf den Atlantik und eine hinter den Wolken durchschimmernde Sonne aus dem Jahre 1912. „Oceano Nox“ schließt wie das Gedicht von Victor Hugo. Die Seelen ruhen auf dem Meer, ihre Namen geraten der Vergessenheit an. Doch mit diesem Film hat Georg Wasner den Schiffbrüchigen eine Erinnerung geschaffen, die über ein bloßes Zeitdokument hinausgeht. Er macht sich die Faszination der Nostalgie und den voyeuristischen Charakter der Menschen zunutze, um ein Stück Filmpoesie zu schaffen. Wir blicken auf die Menschen, dessen Leben sich mit dem der Verunglückten kreuzt und wissen nicht recht, ob wir weiter hinschauen sollen oder nicht.

 

 

 

Wer ist Emanuel? – Imagining Emanuel

Jedes Jahr versuchen tausende von Afrikanern ihre Heimatländer zu verlassen und in Europa einen Neuanfang zu starten. Bürgerkriege, Armut und Krankheiten sind nur einige Gründe. Auch nach Norwegen fliehen sie und hoffen auf Asyl. Emanuel kommt ursprünglich aus Liberia, ist von dort mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg nach Ghana geflohen und nach dem Tod seiner Mutter alleine weiter nach Norwegen. Versteckt in einem Hohlraum über einer Schiffsschraube ohne Essen und ohne Trinken. Nach fünf Tagen kommt er nass, durchfroren und entkräftet an.

Emanuel auf der Suche nach etwas zu Essen in den Straßen Oslos

„Imagining Emanuel“ von dem Norweger Thomas A. Østbye erzählt Emanuels Geschichte in Bildern aus seinem Leben. Außerdem durch Gespräche mit Behörden, einen neu gewonnenen Freund und vor allem ihn selbst. Akribisch versucht der Regisseur jedes kleine Detail über das Leben von Emanuel zu erkunden. Dabei konzentriert er sich natürlich auf das Leben in Norwegen. Alleine läuft er durch die Hauptstadt Oslo mit der Hoffnung etwas Geld für Essen zu bekommen. Er will in dem Land bleiben, trotz der Erfahrungen, die er mit den Behörden und deren Umgang mit ihm gemacht hat.

Abschiebe- und Isolationshaft für den Wunsch zu leben

Während der Ermittlungen zu seiner Person ist Emanuel eingesperrt in der Abschiebehaft in Trandum. Dort gibt es laut Aussagen der Beamten eine solch hohe Suizidgefahr bei den Häftlingen, dass sie alle halbe Stunde geweckt werden. Ein ausführliches Protokoll wird über jeden angefertigt. Der 31-jährige Filmregisseur zeigt die Zellen, in denen Emanuel inhaftiert war. Ein langsamer Schwenk durch diese und die Beklemmung wird einem deutlich. Teilweise geschieht es so langsam, dass man selbst kaum noch hinsehen kann. In der ersten waren noch vier Betten und ein Fenster, später saß er in Einzelhaft ohne natürliches Licht in einem sterilen Raum. Dort verbrachte er nach eigenen Angaben vermutlich zwei Wochen alleine. Mit dem Bild der Zelle im Hintergrund ist ein Ausschnitt des Protokolls zu lesen.

Die Behörden drängen auf Emanuels Abschiebung

Beeindruckend intensiv zeigt Østbye die Gesichter der beteiligten. Langes Warten bevor das eigentliche Interview beginnt. Es ist förmlich zu sehen, wie die drei Herren im Dienste des Staates überlegen, was sie denn zu der Geschichte erzählen sollen. Oder überlegen sie sogar, was sie erzählen dürfen? Dies erzeugt bei weitem kein Verständnis für das Handeln. Der Unterstützer und Freund von Emanuel gibt klare Antworten und schiebt den Behörden die Schuld zu.

Nach Einordnung der Behörden, kann die Geschichte von Emanuel nicht stimmen und sie identifizieren ihn als ghanaischen Staatsbürger. Dies geschieht nach mehreren Befragungen und einem Sprachtest. Als er abgeschoben werden soll, wird die Aufnahme in Ghana abgelehnt, weil Emanuel der örtlichen Polizei auch sagt, dass er aus Liberia komme. So gelangt er vorerst wieder zurück nach Oslo. Dort lebt er ohne Bildung, ohne Arbeit, ohne Perspektive, aber vor allem ohne eine Identität. Wer ist Emanuel und was ist seine Geschichte? Der Film versucht Antworten zu geben, so gut er kann. Doch einige Fragen bleiben offen.

Regie: Thomas A. Østbye, Norwegen, 2011, 52 Minuten

Romantisches Schweigen – A Piece of Summer

Romantisches Schweigen – A Piece of Summer

Eine Rezension von Katrin Haubold

Bisons verfolgen, mit den Händen Fische fangen, Schlangennester ausheben – was nach Abenteuer klingt, erlebt der polnische Junge Patryk, als er seine Sommerferien bei seinem Opa in der Wildnis des Bieszczady-Gebirges verbringt. Umgeben von Wäldern und Wiesen wird in Piece of Summer von Marta Minorowicz das Verhältnis zwischen den beiden Darstellern betrachtet: Ein pubertierender Junge zu Besuch bei einem alten Mann – das birgt Konfliktpotenzial. Von dem ist anfangs allerdings nicht viel zu spüren. Im Gegenteil: Die Sonne scheint golden durch die Baumwipfel, die Landschaftsaufnahmen mit Feldern, die von Nebel durchzogen sind, werfen auf die Zurückgezogenheit einen verträumten Blick; der alte Mann allein vor seinem roten Wohnbus unterstützt das romantische Bild ebenso wie das Vogelgezwitscher und der rauschende Bach.

Großvater und Enkel beim einträchtigen Angeln

Die Regisseurin Marta Minorowicz arbeitete fünf Jahre beim polnischen Fernsehen und führte Regie bei mehreren Sozialreportagen. Sie machte 2010 an der Andrzej Wajda Master School of Film Directing in Warschau ihren Abschluss. Im selben Jahr brachte sie ihren Dokumentarfilm Piece of Summer (orig. Kawałek lata) heraus. Der Film konnte einige Preise einheimsen, gerade weil er Naturaufnahmen mit der Beobachtung der beiden Darsteller verknüpft. Es scheint, als wären sowohl Patryk als auch der Großvater nicht begeistert davon, die Sommerferien miteinander verbringen zu müssen. Anfänglich noch schweigsam, tauen sie aber nach und nach auf und lassen mit ihren Gesprächen die vorherrschenden Vögel und den Bach zu Hintergrundgeräuschen verkommen. Das beklommene Verhältnis entspannt sich, Großvater und Enkel unternehmen immer mehr miteinander. In 23 Minuten zeigt die Regisseurin die wachsende Bindung zwischen den beiden, lässt dabei trotzdem Konfliktsituationen nicht aus. Die Szenen scheinen willkürlich zusammengestellt, eine zeitliche Abfolge lässt sich schwer erkennen: Ist der Junge eine Woche oder gar einen Monat bei seinem Großvater? Es ist jedenfalls lange genug, dass der Junge dem einsamen, alten Mann ans Herz wächst.

Der Film ist nicht synchronisiert, nur englische Untertitel geben wieder, worüber sich Großvater und Enkel unterhalten. Oft jedoch kommt der Film ohne Worte und nur mit den Hintergrundgeräuschen und Handlungen aus. Irgendwann sind aber auch Patryks Sommerferien vorbei. Er ist fort, zurück bleibt der Großvater: Allein sitzt er vor seinem roten Wohnbus, umgeben vom Wald, Vogelgezwitscher, dem Geplätscher des Bachs – der romantischen, einsamen Idylle.

Regie: Marta Minorowicz, Polen, 2010, 24 Minuten

Eiszeit – Eggs for Later

Eiszeit – Eggs for Later

Eine Rezension von Luna Kovac

Karriere, Familie oder doch ein Leben voller verschiedener Liebschaften? Frauen stellen sich solche Fragen – Fragen, die Auswirkungen auf das restliche Leben haben und dementsprechend schwierig zu beantworten sind.

Marieke Schellart, 35, Filmemacherin aus den Niederlanden und Regisseurin des Dokumentarfilms Eggs for Later, konfrontiert sich als Protagonistin des Films mit ihrer Antwort auf die Frage „Karriere oder Familie?“.

Verzweifelt hört Marieke ihre biologische Uhr ticken

Sechs gescheiterte Beziehungen hat Marieke Schellart hinter sich, anschließend fünf beziehungslose Jahre. Jetzt muss sie dem Realitätslöwen in die Augen sehen. Dieser brüllt und lässt sie wissen und fühlen, dass die Uhr tickt und kein Mann zum Kinderkriegen vom Himmel fällt.

Von Freunden mit Kindern aus ihrem Freiheitstraum geweckt, gelangt sie zu der Erkenntnis, dass sich die Vorstellung von einem erfüllten Leben über die Jahre hinweg ändert. Zunächst freiheitssuchend, ist sie nun überzeugt von der Idee, sich fortpflanzen zu müssen. Dabei erweckt sie zu Beginn des Films des Zuschauers Mitgefühl, welches später vielmehr in Unverständnis übergeht. Denn der Ausweg für sie ist das Einfrieren ihrer Eier.

Eizellen im Gefrierbeutel

Durch schockierende Bilder informiert sie sich über die Prozedur. Diese wird beim Zuschauer schnell mit Abscheu und Abartigkeit assoziiert. Ein Gefühl von eisiger Kälte und Übelkeit, was nur schwer zu unterdrücken gelingt, bleibt.

So führt sie ihr Publikum durch ein sehr persönliches und emotionales Tief in ihrem Leben, lässt es teilhaben an ihren Diskussionen mit Familie und Freunden, ob diese Möglichkeit eine Lösung für sie darstellt, oder ob ihre Krisen ganz andere Wurzeln haben.

Mit gemischten Gefühlen geht Marieke ihren Entschluss an

Marieke Schellart jedoch ist fest entschlossen diesen Ausweg wahrzunehmen. Sie beharrt auf ihre romantische Ader Kinder nur auf natürliche Art mit dem Richtigen an ihrer Seite bekommen zu wollen.

Dies im Alter von 35 Jahren festzustellen ist reichlich spät, dennoch hält sie fest an ihrem Gedanken. Immer wieder bestätigt sie, wie wichtig ihr die Natürlichkeit des Kinderkriegens ist. Doch was ist an dem Eingreifen in den menschlichen Körper natürlich? Was haben Eier in Gefrierbeuteln zu suchen?

Unverständnis für die Protagonistin macht sich breit

Ebenso wenig versteht der Zuschauer die Wahl ihrer Partner. Wer den Wunsch hat eine Familie zu gründen und Kinder zu haben beschließt das nicht von einem Tag auf den anderen. Solch ein Lebensweg geht mit einem passenden Partner einher. Ein Drogenabhängiger, der sich in die Liste ihrer vergangenen Liebschaften einreiht, ist dann nicht zwingend die richtige Wahl. Zumindest sollte er eine Frau wie Marieke nicht davon abhalten, den Mann kennen zu lernen, der sie weiterbringt im Leben.

Im Ganzen macht sie einen sehr emanzipierten Eindruck, dennoch lässt den Zuschauer der Gedanke nicht los, dass sie sich sehr stark von dem „idealen“ Familienbild, welches ihr von ihren Freunden vorgespielt wird, beeinflussen lässt. So bleibt der Eindruck von der Angst vor dem Singledasein in der Gesellschaft mit Kind, Angst vor dem Alleinsein.

Dabei scheinen diese Ängste ihr, wie eine rosa-rote Brille, die Sicht auf die Realität zu verschleiern. Und obwohl sie sich selbst als sehr emanzipierte Frau ansieht, pflegt sie doch eine kindliche Naivität, die den Zuschauer mit ratlosem Kopfschütteln zurücklässt. In diesem Licht betrachtet erscheinen ihre Argumente für ein Kind im erhöhten Alter wie Ausreden. Diese bringen sie allerdings nirgendwo hin – weder zum Partner, noch zum Kind.

Somit beweist Schellart ein besonderes Talent dafür, ihre Position als Frau in der Gesellschaft zu portraitieren. Dabei lässt sie dem Zuschauer keine Wahl in einer Grauzone zu verweilen. Schwarz oder weiß, mehr Möglichkeiten gibt es nicht.

Regie: Marieke Schellart, Niederlande, 2010, 50 Minuten

Von der Zeit, die uns nicht einholen soll – Die Frau des Fotografen

Von der Zeit, die uns nicht einholen soll – Die Frau des Fotografen

Eine Rezension von Sandrina Kreutschmann

Wenn ein Fotograf seine Negative ins Entwicklerbad legt, hofft er. „Wenn alles so bleiben könnte. Wie schnell gehen diese Tage zu Ende.“ Wenn er das vollendete Bild in den Händen wendet, fragt er. „Wie viel mal schon gehen wir fort, um immer wieder heimzukommen?“

Eugen war Fotograf und Ehemann. Vom Tag der Hochzeit über die Geburt der Kinder und seinen ersten Herzinfarkt bis zu seinem Tod fotografiert er seine Frau Gerti. Posierend im roten Kleid vor blauem Meer, im Urlaub halbnackt im Schnee und am Strand, und Zuhause, nackt auf dem Fußboden. In mehr als vierzig gemeinsamen Jahren hat Eugen Gebert so 1241 Farb- und Schwarzweißfilme belichtet.

Die Fotos hat er sorgfältig in einem mehr als 200 Seiten umfassenden Journal verzeichnet. Aufzeichnungen der gemeinsamen Reisen. Wichtige Ereignisse. Inklusive Anhang. Mit Inventurliste. Vordergründig erzählt der Dokumentarfilm von Philip Widmann und Karsten Krause anhand dieser Aufzeichnungen vom Leben und Lieben des Ehepaares Gebert. Die Jahre und Bilder werden dem Zuschauer hintereinander präsentiert, dabei aus dem Off kommentiert. Zwischen den Objekten, die Vergangenes zeigen, spricht jemand subjektiv aus gegenwärtiger Sicht. Die Witwe Gerti sortiert die Fotos und reflektiert über sich, ihr Leben, die Bilder und ihren Mann.

Vergänglichkeit, der Körper und die Liebe

Die beiden Regisseure haben mit ihrem Werk die großen Themen der Menschheit buchstäblich im Blick: Das Leben, das Sterben, dazwischen das Altern und die Vergänglichkeit; der menschliche Körper und die menschliche Liebe.

Gerti ist Model und Kunstwerk in einem

Die Frage nach der Zeit, wie sie uns folgt und einholt, immer wieder, wie wir sie halten, bannen, unschädlich machen können, wie wir ihr darum zuweilen gewalttätig, zuweilen listig begegnen, gilt als der Kernpunkt jeglicher Fotografie, der alltäglich in unser aller Familienalben beginnt und in mühsam verfolgten Dokumentar- und Kunstbildern nach dem Höchsten strebt. Dieses Motiv durchzieht auch den Film und das Schaffen Eugen Geberts in sehr expliziter Weise. An mancher Stelle wäre ein bisschen weniger Deutlichkeit Explikation dessen, was kaum zu explizieren ist, wünschenswert gewesen (Kommentare wie: „Alles bleibt, wie es war.“), eine Wiederholung der zu diesem Motiv seit jeher gehörenden Plattitüden (Fotografie als „die Möglichkeit, der Vergänglichkeit meiner Zeit in den Arm zu fallen“) erscheint womöglich überflüssig.

Einerseits ist dies eine berechtigte Kritik, andererseits lebt der Film genau von dieser umfassenden Authentizität, die in Eugens eigener Sicht auf die Bilder liegt, die kommentarlos rein dokumentarisch wiedergegeben ist – und vor allem: der Film will nichts verbergen. Er hält dieses Versprechen. Das macht er bereits in der ersten Szene deutlich, als eine Frau – Gerti – im roten Regenmantel, die mit einem Schirm im beregneten Wald steht, zunächst aus großer Unschärfe, schließlich in allen Details angezoomt wird, um schließlich schnell auf Aktfotografien dieser zu wechseln. Alles, was der Deutung verlangende, der vielleicht fragende, vielleicht voyeuristische Blick von diesen Bildern erhofft – wird ihm direkt und umstandslos gewährt, siehe auch Inventarliste 2B.

Die Bilder sind unglaublich präsent: Nicht nur die Materialität eines entwickelten Fotos, auch die Schwere des menschlichen Körpers, die subtilen Flecken und Falten des Alters, die Desillusionierung in der Entblößung, die Preisgabe einer Hoffnung auf Perfektion, das Nacktsein. Im Grunde ist nichts authentisch an den Fotos und an diesem Film, denn alles beruht auf Zurschaustellung und Selektion, Pose und Professionalität, die sich selbst zu verbergen versucht. Ob Leiblichkeit genug ist, ein Leben zu tragen, wenn Menschen einander lieben zumal: Gerti stellt diese Frage nicht und sieht in den Spiegel und erwägt eine Schönheitsoperation.

Das Objekt trägt das (Kunst)Werk

Der Film mit all seinen bewegten wie unbewegten Bildern wird überhaupt getragen von der Figur Gerti, nicht nur so, wie Eugen sie auf Zelluloid gebannt hat, sondern mehr noch, wie sie in der Jetztzeit mit den papiernen Abbildern ihrer Vergangenheit lebt. Hinter der belichteten Oberfläche offenbaren sich vielfältige Zusammenhänge und charakterliche Tiefen, die den Film sehenswert machen, einmal und noch einmal.

Dokumentation im Urlaub - Liebe und Leiblichkeit

Gerti zerreißt mit sicherem Griff die Bilder, die sie nicht gelungen findet. Man sieht dabei unter ihrer pergamentartig wirkenden Haut die Bewegung jedes Muskels. Gerti ist immer wieder im roten, eng geschnittenen, tief dekolletierten Kleid zu sehen, mit einer Miene aus Scheu und Professionalität frisiert sie sich sorgfältig, blickt in den Spiegel und reflektiert: Sie habe ein gutes Leben gehabt. Ein glückliches sogar. Im Gegensatz zu anderen Frauen. „Die waren halt nicht so fotogen, um es nicht anders auszudrücken.“

Was ist Liebe? Sie sagt, wiederholt, sie habe genau das Leben gelebt, das sie auch gewollt habe. Er sagt, dass er keinen Tag bereue, dass er alles wieder so machen würde. Sie sagt, von nun an könne es für sie nur noch bergab gehen. Sie sagt, sie habe sich als Frau hübsch und begehrenswert gefühlt. Eugen hinter der Kamera sagt: „Für mich bist und warst du stets die Erfüllung meines Lebens.“ Gerti vor ihren Bildern sagt: „Ich denke manchmal, ich habe meinem Mann viel zu wenig gesagt, dass ich ihn auch liebe.“

“Du musst eben so fotografien, dass wir zusammen bleiben können!”

Über vierzig Jahre hat Eugen seine Gerti seit ihrer Hochzeit fotografiert, über vierzig Jahre waren die beiden verheiratet, bis dass der Tod sie schied. Eine Ehe, ohnehin das institutionalisierte Moment menschlicher Zuwendung, verstanden als eine Gussform für Liebe, die als Form, wenn sie nur klar und stark genug ist, über Jahrzehnte zu tragen vermag: Eugen und Gerti haben in diesem – gemeinsamen – Verständnis um ihre Beziehung und umeinander gerungen, klar einander in den Blick genommen, auf starkes Papier gebannt, siehe auch Anhang 7B (Langliste). Die Anstrengung in dieser Bewegung bekommt der Betrachter nicht zu spüren. Die Kamera, die Fotos bilden nicht nur die allzu materiale Brücke zwischen beiden. Unmöglich, Leben ohne Liebe und den Fotografen ohne die Fotografierte zu denken. Sie sind die Form, und jenseits dieser liegt die Angst. An dieser emotionalen Grenze droht die Fotografie von Anfang an grundsätzlich zu scheitern, und nach jedem Bild ist es fraglich, ob es nach ihm ein neues gäbe, das den Moment überbrücke, vor dem sie beide, jeder auf seiner Seite des Fotoapparates, nach jedem Bild sich fürchten. Diese Ränder sind das Trennende, das Unmögliche, ein großer Vorwurf: „Du musst eben so fotografieren, dass wir zusammen bleiben können!“

Und so muss man sich mehr noch auf die Bilder verlassen, die allezeit Schein sind und als Schein auch nur gelten. Der Dokumentarfilm funktioniert, weil er das weiß und um Wahrheiten nicht weiß, sie weder sucht, noch findet.

Der Film schließt mit dem Ende des Sommers und der Saison, die endgültig vorbei ist. Es ist dem Herbst wesentlich, dass er uns in Bildern überkommt. Irgendwann sind die Blätter fast Papier, die dem Baum wie nebenbei entgleiten, und schließlich ist da der Wind. Mit der Böe fallen so viele, dass sie nicht mehr zu zählen sind.

Regie: Philip Widmann, Karsten Krause | Deutschland | 2011 | 29 Minuten