Kann man heutzutage überhaupt noch ohne den wöchentlichen Rausch leben? Der tägliche „Push“ durch Kaffee, Alkohol oder Zigaretten lauert überall. Im Folgenden zeigen sich Perspektiven einer drogenfreien Kultur: dem Straight Edge.

Das schwarze „X“ auf dem Handrücken ist das Symbol der Straight-Edge-Bewegung

Wir sind jung und wir sind frei. Doch viele von uns können mit dieser Freiheit nicht sehr vorbildlich umgehen. Abends mal ein Glas Wein, vielleicht noch ein Bier und genüsslich eine schmöken – das kann der Anfang allen Übels sein, wenn man die Zügel nicht mehr in der Hand hält. Kaum ist der Anfang in die verlockende Welt der Rauschmittel geebnet, klettern wir munter die Leiter hinauf. Immer ein bisschen mehr, ein bisschen doller, ein bisschen härter.

Schnell hat man auf der Party bei Freunden oder im Club den kleinen grünen Freund, den Joint, in der Hand. Nach dem ersten Zug folgt der zweite und schon hat man die nächste Stufe der Drogenhierarchie erklommen. Besonders verbreitet sind diese sogenannten Einstiegsdrogen unter Studenten und Studentinnen, sie sind gewissermaßen die Zielgruppe, denn sie sind neugierig, feierwütig und gehen gerne mal über Grenzen.
Delikte im Zusammenhang mit dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) treten auch in Greifswald in den letzten Jahren immer häufiger auf, so beträgt die Anzahl erfasster Fälle in Verbindung zu Rauschgiftdelikten seit 2008 insgesamt 587.

Weiterhin berichtet die Polizeidirektion Anklam, dass es in den letzten drei Jahren unter den 18 – 21 Jährigen der Hansestadt 158 allgemeine Verstöße gegen § 29 des BtMG und bei den über 21 Jährigen sogar 310 dieser Verstöße gebe. Die Vorfälle häufen sich in den letzten Jahren stetig, somit ist ein klarer Anstieg, besonders in der Altersgruppe der Studierenden, zu verzeichnen.

Doch Ausnahmen bestätigen die Regel: Arne Pritzner studiert an der hiesigen Universität im dritten Semester Politikwissenschaft und Kommunikationswissenschaft, und Arne ist seit über vier Jahren Straight Edger. Ganz oben auf seiner „Not-To-Do-Liste“ stehen Alkohol, Tabak und sonstige Drogen. Für den Studenten war das zunächst keine bewusste Entscheidung, er trank hin und wieder ein Bier, wie es unter Jugendlichen so üblich ist. Aber besonders geschmeckt hat es ihm eigentlich nie, er trank nur um betrunken zu sein.

Das kann wahrscheinlich jeder nachvollziehen, der sich an seinen ersten Zug von der Zigarette erinnert. Dabei versuchte man die Zigarette möglichst cool zu halten, nahm einen hastigen Sog und hustete das dann alles mit Karacho wieder aus. Geschmeckt hat das sicher nicht und genossen hat man das schon gar nicht. Die meisten versuchen es solange weiter bis es plötzlich irgendwie schmeckt, Arne schlug jedoch einen anderen Weg ein. „Ich hatte einfach keine Lust mehr auf diesen Zustand des Besoffenseins und das anschließende Durchhängen. Ich bekomme einfach gerne bewusst mit, was ich mache.“

Das Besondere an Arne‘s Situation ist sein Umfeld, er ist Mitglied einer Hardcore-Punkband und auch ein Großteil seiner Freunde besteht aus Punks. Bekanntlich ist es unter Punks Usus in Exzessen zu leben, worunter starker Konsum von vielerlei Drogen zu verstehen ist. Da gilt man dann schnell mal als Spaßbremse unter den Normalos, „es denken leider viele, dass man mit mir deshalb keinen Spaß haben kann. Aber, wenn sie mich dann kennenlernen merken sie auch, dass ich mit ihnen auch ohne Alkohol gut mithalten kann.“ Die anderen Mitglieder seiner Punkband hatten teilweise auch Probleme mit der Lebenseinstellung des Studenten, denn „ich habe ganz klar gesagt, dass ich als Sänger definitiv keine Sauflieder spielen bzw. singen möchte, weil ich mich damit nicht identifizieren kann und möchte.“

Aber als Anhänger der Straight Edge – Bewegung ist es nach gewisser Zeit auch nur noch reine Routine den Menschen um sich herum die eigenen Beweggründe zu erläutern. „Vor ein paar Jahren war der Begriff ja noch nicht so geläufig und da war das durchaus schon immer nicht ganz so einfach zu erklären. Mittlerweile wissen die Leute aber etwas damit anzufangen und akzeptieren es einfach“, so der Student.

In der Tat hat sich in den letzten Jahrzehnten so einiges getan im Zusammenhang mit dem Begriff „Straight Edge“. Nach der Entstehung der minoritären Kultur aus dem Hardcore Punk während der 1980er Jahre in den USA, breitete sich die Anhängerschaft immer mehr aus. Das Erkennungszeichen, das schwarze „X“, entwickelte sich durch den Gebrauch des schwarzen Kreuzes von Türstehern. Diese malten Minderjährigen das Zeichen auf die Handrücken, damit sie während Konzerten von den Barkeepern keinen Alkohol ausgeschenkt bekamen. Schnell schallten die „Anti Anti – Rufe“ über den großen Teich.

Die zentralen Gedanken der Urbewegung beschränkten sich auf die allgemein bekannten Drogen, ein weiterer wichtiger Aspekt war der Verzicht auf häufig wechselnde Geschlechtspartner, was nicht gleichbedeutend ist mit dem generellen Verzicht auf Sex. Über die Jahre hinweg entstanden weitere Untergruppierungen, manche verzichteten zusätzlich auf Koffein, Fleisch oder lebten gänzlich vegan. Doch da trifft jeder seine eigenen Entscheidungen und setzt sich eigene Grenzen, „ich habe mitbekommen, dass viele Straight Edger vegan leben und hab es selbst versucht. Aber das ist etwas ganz anderes für mich, denn ich muss mich dabei zwingen zu verzichten. Bei Alkohol hat sich das einfach automatisiert in der Zwischenzeit“, so Arne.

Dieser Lebensstil wirkt sich jedoch auch auf die Wahrnehmung der Anderen aus, denn Straight Edger verkriechen sich aufgrund ihres Verzichts nicht in der eigenen Wohnung und trinken Tee. Arne ist viel unterwegs, feiert viel und macht die Nächte durch. So ein Abend kann „manchmal schon relativ anstrengend für mich sein“, resümiert er. „Alle um mich herum werden immer betrunkener und hemmungsloser, je länger der Abend dauert. Da bin ich oft der Einzige, der noch einen klaren Kopf hat.“

Schlimmer ist es für den 22-Jährigen jedoch seinen Freunden beim Abstürzen förmlich zuzusehen. Er kann in Greifswald ebenfalls einen deutlichen Trend in Richtung Drogen wahrnehmen, „ hier geht es ziemlich rund, vielen fällt es einfacher Party zu machen, wenn sie Drogen genommen haben. Der Drogenkonsum wird zum Ende der Woche immer steiler, am Wochenende ist das natürlich ganz extrem. Ich hätte eigentlich gedacht, dass die Studenten da vernünftiger sind, aber dem ist nicht so.“ Dabei besticht vor allem das Gefühl, dass sich die goldene Mitte stetig verliert.

Die momentane Generation spaltet sich in zwei Lager, zum einen gibt es die „Druffis“, die alles konsumieren, was sie kriegen können. Da sind in letzter Zeit auch immer mehr chemische Drogen wie Speed, MDMA oder Kokain im Spiel, und zum anderen gibt es die „Antis“, die sich bewusst davon distanzieren und kaum noch Rauschmittel zu sich nehmen. Das Dazwischen verschwindet. Arne stellt fest, dass „es derzeit viele Leute gibt, die sich den Drogen, besonders dem Alkohol, für einige Zeit verwehren, weil sie einfach keine Lust mehr darauf haben. Das Phänomen kommt dann häufig auf, wenn die Leute eine ganze Zeit lang übertrieben haben.“

Vielleicht sollte man sich da einfach mal an die eigene Nase fassen und kurz überblicken, ob man eigentlich noch alles im Griff hat oder nicht. Falls nicht, wäre es an der Zeit, mal einen Gang runter zu schalten. Ein Schritt in die Gegenrichtung ist nicht unbedingt ein Schritt zurück, das Ziel ist nur ein anderes als das was die Generation Süchtig momentan favorisiert – Spaß mit Verantwortungsbewusstsein.

Ein Bericht von Sophie Lagies mit einer Illustration von Daniel Focke