Ortstermin Schönwalde. Der Literatursalon Greifswald hatte am 24. Januar 2008 zu einer ganz besonderen Lesung geladen. Egon Krenz, 1989 für kurze Zeit Staatsratsvorsitzender der DDR und Generalsekretär des Zentralkomitees der SED, wollte aus seinem Buch „Widerworte“ und „Herbst 89“ lesen und die Zuhörer kamen zahlreich. Im kleinen Literatursalon im Greifswalder Stadtteil Schönwalde drängten sich weit über 100 Besucher, um der Lesung mit anschließender Diskussion zu lauschen. 8 Euro war ihnen die Geschichtsstunde wert. Die Mehrzahl der Besucher kannte die DDR noch aus eigener Erfahrung. Nur wenige Studenten haben an dem regnerischen Abend in den Literatursalon gefunden.

Unter Freunden
Das Ambiente passt zum Rahmen der Vorlesung. Die Einrichtung wurde zum größten Teil noch zu DDR Zeiten angeschafft. Die Wände sind mit Ölbildern und Aquarellen bedeckt. 15 Minuten vor Programmbeginn trifft schließlich die ehemalige SED-Größe ein. Blumen werden überreicht. Die Chance mit „Genosse Egon“ zu reden, nutzen einige noch vor der Lesung. Photos werden gemacht. Die Stimmung ist locker und gelassen. Bier und Rotwein werden am Eingang verkauft und selbstverständlich mit in die Veranstaltung genommen. Alles wirkt wie ein Treffen unter Freunden und Nachbarn. Und das ist es auch. Seine Grundschullehrerin befindet sich genauso, wie ein ehemaliger Nachbar aus Kolberg, heute Kołobrzeg, unter den Gästen. Vereinzelt kann man DDR-Anstecker unter ihnen entdecken.

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Liebe Freunde und Genossen, liebe Anwesende
19.05 Uhr. Die Moderatorin übergibt das Wort an Egon Krenz. Drei Vorbemerkungen hat er zu machen. Erstens: Es werde keine Lesung geben. Jeder wird selber lesen können und, dass er lesen könne, wird auch keiner anzweifeln. Das Publikum lacht. Stattdessen will er die Wendeerlebnisse darstellen. Aus seiner Sicht. Zweitens: Er erhebt keinen Anspruch auf eine allumfassende Antwort. Er will die Geschichte von seinem persönlichen Standpunkt aus Revue passieren lassen. Und drittens: Wie die Veranstalter bereits auf ihrer Homepage ankündigten, ist er „zu all seinen Themen bereit zu sprechen und wünscht sich eine intensive und wissende Gesprächsrunde“. Und so ist es letztendlich auch gekommen.

Das Publikum lauscht gespannt seinen Worten. Er redet die Zuhörer gern mit „Liebe Freunde und Genossen, liebe Anwesende“ an. Viele seiner Aussagen hat er in seinem größtenteils in Haft geschriebenen Buch „Widerworte“ verarbeitet. Auf dem Sofa, das für ihn gedacht ist, nimmt er kaum Platz. Auch das Mikrophon braucht er nicht. Mit fester Stimme geleitet er den Zuhörer noch einmal durch die Wendezeit. Man kann durchaus sagen, dass Genosse Krenz eloquent ist, sehr sogar. Man hört ihm gerne zu. Die Antworten, die er gibt, sind wunderbar logisch und konsequent. Sie geben einem Halt und zeigen, dass nicht alles in der DDR vergebens war. Aus dem Publikum kann man anfangs noch vereinzelt, dann schon umfassender, Zustimmung ausmachen. „Jawohl“ ist immer wieder zu hören. Kopfnicken. Er fühlt sich verstanden. Und die Hörer fühlen sich auch verstanden.

Mehr als nur Spreewaldgurken und Rotkäppchen

Nach 20 Minuten kann er zum ersten Mal richtig Luft holen. Das Klingeln seines Handys lässt ihn eine ungeplante Pause einlegen. Er ist sichtlich überrascht. Der Saal lacht. Die Zäsur nutzt er. Er kommt auf die heutige Zeit zu sprechen. Er mag es nicht wenn die DDR „auf Rotkäppchen Sekt, Spreewaldgurken und den Grünen Pfeil“ reduziert wird. Im gleichen Atemzug hebt er die Errungenschaften der DDR hervor. Die Gleichberechtigung der Frau, die (kostenlose) Bildung, die Kinderbetreuung und die fehlende Arbeitslosigkeit. Dass er dabei Fakten auslässt, scheint er gar nicht zu bemerken. Er betont: „Jeder hat sein DDR-Bild“, und spricht damit eine Binsenweisheit aus. Von den „gehässigen Begriffen“ Nostalgie und Ostalgie hält er nicht viel. Sie verkennen die DDR. Nach 35 Minuten bedankt er sich beim Publikum und beginnt gleichzeitig damit die Diskussionsrunde. Die Zuhörer klatschen artig und sind gespannt auf die Fragen. Sein Handy klingelt abermals.

Gemeinsamkeiten mit Frau Merkel

Die Fragen sind anfangs noch eher allgemeinerer Natur. Unverfängliche Fragen, vielleicht um das Eis zu brechen. Ein Zuhörer fragt ihn, ob er Oskar Lafontaine oder Angela Merkel schon einmal getroffen hat. Die Antwort zum Parteichef der Linken Lafontaine überrascht keinen im Raum. „Ich habe ihn schon vor der Wende getroffen.“, sagt Egon. Als er anfängt über Frau Merkel zu reden wird seine Stimme, die den Abend über sehr laut und direkt ist, etwas leiser. „Frau Merkel habe ich noch nicht getroffen, aber wir haben sehr viele Gemeinsamkeiten.“ Das Publikum ist erstaunt. „Wir hatten beide einen DDR-Pass, wir waren beide in der FDJ und sind sogar im gleichen Wahlkreis angetreten.“ Das Publikum lacht erneut. Die ganze Zeit scheint es, als habe er den Großteil des Publikums auf seiner Seite. Clara Zetkin zitiert er: „Kommunist ist man, mit oder ohne Parteibuch, aus Disziplin.“ Applaus im Publikum.

Partei für die kleinen Leute
Wenn Egon Krenz über Oskar Lafontaine und die Linkspartei redet, lobt er stets den heutigen Kurs. Den Kurs für die „kleinen Leute“. Oft sagt er, dass sie die beste Partei für die heutigen Verhältnisse sei. Wahlempfehlung inklusive. Damit trifft er wieder den Nerv der Zuschauer. Viele nicken.
Als sein Handy zum dritten Mal klingelt, lachen nicht mehr so viele.

Direktere Fragen kommen auf. Vorsichtig wird Kritik geübt. „Die DDR werde verharmlost“, lautet die Aussage eines Zuhörers. „Was sagen sie zu Folterungen in Hohenschönhausen und anderen MfS-Einrichtungen?“ Die Antworten relativieren stets das Geschehene. An prekären Themen wird nun nichts ausgelassen. Mauerbau, Schießbefehl, Stasi-Folter, Wahlfälschung. Ein Mitglied der Greifswalder Bürgerschaft (Die Linke.PDS) erweist sich zwischenzeitig als großer Kritiker von Genosse Egon. „Man soll doch die Fehler beim Namen nennen“, sagt der Greifswalder Abgeordnete. „Alles andere schadet unserer heutigen Politik.“ Stets hebt er aber gleichzeitig die Errungenschaften des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden hervor. Auch er war früher SED-Abgeordneter.

„Ich habe kein Problem mit dem Begriff Diktatur.“
Egon Krenz verstrickt sich das ein und andere mal in Widersprüche. Er spricht sich ganz klar gegen seinen Richter aus, der ihn 1997 wegen Totschlags in vier Fällen zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilte. Nein, er wettert fast gegen ihn. Er meint, dass das Bundesrecht nicht auf DDR-Bürger Anwendung finden kann. Ein Zuhörer fragt ihn ganz direkt: „Welche Strafe hätten sie als gerecht empfunden?“ Egons Antwort ist eindeutig. „Keine. Ich habe gegen kein DDR-Gesetz verstoßen.“ Von Wahlfälschung will er nichts gewusst haben. Auch andere Themen lassen einen beinahe entnervt aufhorchen. „Ich habe kein Problem mit dem Begriff Diktatur.“, sagt Egon und spielt damit auf die Diktatur des Proletariats an. Gleichzeitig verwahrt er sich gegen Vergleiche mit den Faschisten unter Hitler. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Mittlerweile ist die Atmosphäre aufgeheizt. Nicht nur inhaltlich, sondern auch im wahrsten Sinne des Wortes. Die Raumtemperatur hat ein unerträgliches Maß angenommen. Viele wollen noch ihre Fragen stellen. Ein Gast fängt seinen Beitrag folgendermaßen an: „Herr Genosse Krenz, ich finde es gut, dass du heute zu uns gekommen bist, um mit uns zu reden.“ Das ist beinah symptomatisch. Egon Krenz redet fast ununterbrochen. Das Wasserglas, das für ihn auf dem Tisch vor ihm steht, rührt er dennoch nicht einmal an.

Am Ende bedankt sich Egon Krenz bei all seinen Zuhörern, nicht ohne noch einmal auf seine Bücher zu verweisen, die im Eingangsbereich verkauft werden. Ganz marktwirtschaftlich. Knapp 15 € kostet ein Buch. Heute heißt das unverbindliche Preisempfehlung, früher Einzelhandelsverkaufspreis. „Jeder kann sich sein Buch auch signieren lassen“, fügt die Moderatorin hinzu. Letztendlich drängt sich beinahe zwangsläufig wieder ein alter Spruch auf. Für die einen ist es Ironie, andere bekennen sich wahrhaftig dazu – „Wir sind Fans von Egon Krenz“.

von Enrico Howe